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Diözesanbischof Dr. Kurt Krenn von St. Pölten

 

Die Auferstehung der Kirche in Osteuropa
und ihre Kenosis
Vortrag in Santiago de Compostela am 15. Mai 1991

1. Die "Kenosis" der Kirche: Eine theologische Lektion

Das Übermaß der Freuden- und Freiheitsgefühle hat in Europa wieder das Maß einer etwas skeptischen Normalität. Vieles hat sich in jüngster Zeit ereignet und verändert, was zum Träumen vom ewigen Frieden, von menschenwürdiger Freiheit, von größerer Gerechtigkeit und von einer neuen Weltordnung einlud. Manches Erträumte zeigt nun seine Mühen und Schwierigkeiten, manches erwies sich als Täuschung, manches ist in frühere Zustände zurückgefallen; manches aber ist geblieben und beginnt Hoffnung zu geben. Wenn auch große Veränderungen geschehen sind, stehen für Ost- und Westeuropa die großen Entscheidungen noch aus. Zunächst wollte es so scheinen, als wäre der Marxismus-Leninismus damit überwunden und abgeschlossen, daß freie Marktwirtschaft, Mehrparteiendemokratie, Menschen- und Bürgerrechte u.a. eingeführt werden. Die ersten Überlegungen nach den großen politischen Veränderungen in Osteuropa schienen im wesentlichen nichts anderes anzustreben, als die politischen und wirtschaftlichen Ordnungen Westeuropas einfach auch auf Osteuropa auszudehnen. Gewiß war man sich vieler Übergangsschwierigkeiten bewußt, dennoch sah die Zukunft nur wie eine Vergößerung der westeuropäischen Ordnung durch Hinzufügung Osteuropas aus. Über den Erfolg solcher Raumvergrößerungen brauchen wir auf politischer und ökonomischer Ebene nicht zu urteilen; es hat jedoch den Anschein, als wäre ein solches Konzept zu einfach, um erfolgreich zu sein.

Auch die Kirche in Ost-und Westeuropa scheint vor ähnlichen Entscheidungen zu stehen. Auch für die Kirche in Osteuropa scheint die Freiheit bzw. die größere Freiheit zur Entscheidung zu drängen, ob nun nicht jene Strukturen übernommen werden sollen, die in Westeuropa in den Jahren der Freiheit und des materiellen Wohlstandes schon ausgebildet wurden. Schon machen sich westeuropäische Berater und osteuropäische Lernwillige auf den Weg, um der Kirche ein westeuropäisch geprägtes Bild in ganz Europa zu geben. Man rät der Kirche in Osteuropa, doch einfach zu übernehmen, was im Westen erdacht und erprobt wurde; ein mühsamer und langwieriger Entwicklungsprozeß bliebe erspart, wenn man einfach in das Vorhandene eintrete.

Solche Gedankengänge sehen einfach und verlockend aus. Aber was war die Kirche, als keine Freiheit zu erhoffen war, als die Hirten fehlten, behindert oder im Gefängnis waren, als die Getreuen zerstreut waren, als es weder Information noch Kommunikation miteinander gab, als die Armut zur totalen Hilflosigkeit wurde, als nur mehr das Letzte und vielleicht Wesentlichste von der Kirche übrig geblieben war? Gewiß ist es die Allmacht und Güte Gottes, die die Kirche in solchen Zeiten an solchen Orten vor dem Untergang bewahrt hat; nach dem Schematismus des menschlichen "Ursachendenkens" kann das Überleben der Kirche kaum erklärt werden. Denn es war eine "Kenosis" der Kirche, die in den Jahrzehnten der Verfolgung der Kirche vieles wegnahm, was wir für wichtig halten.

Das Nachdenken über die verfolgte und leidende Kirche wird heute umso besser gelingen, je besser wir die Kirche in jenem Geheimnis begreifen, daß sie das Volk Gottes, die Gründung Christi und der Geheimnisvolle Leib desselben Christus ist. Wer die Kirche nur mehr als die Summe der Teilkirchen oder verschiedener, soziologisch verfaßter Gemeinschaften sieht, wird die verfolgte Kirche eher als einen Problemfall bezüglich verweigerter Menschen- und Bürgerrechte sehen.

Ja, man wird in nicht wenigen Fällen die verfolgte Kirche als den allgemeinen und erfolgreichsten Motor für die Menschen- und Bürgerrechte in Osteuropa anerkennen dürfen. War daher der von der verfolgten Kirche an der Würde und den Rechten der Menschen geleistete Dienst der alles erklärende Sinn von erlittenen Verfolgungen und ertragenen Leiden? Hat die verfolgte Kirche überlebt, weil sie eine besondere Art von "Menschenrechtsbewegung" war?

Vieles wird heute in dieser Perspektive gesehen; so werden die Treue der Menschen zur Kirche und ihr religiöser Eifer damit erklärt, daß die Kirche eine Art Freiheitsraum war, in der Protest, Kritik und Opposition gegenüber Unterdrückung und Gewaltherrschaft wenigstens noch zum Ausdruck gebracht werden konnten. Wenn es heute neue Räume für Freiheit und Recht in den Staaten des Ostens gibt, schließt man auch schon darauf, daß die Kirche viel von ihrer einstigen Attraktivität und Anhängerschaft verlieren wird.

Mit dem Fortschritt in den Menschen- und Bürgerrechten und mit der Entwicklung der demokratischen Ordnung wird sich mancherorts vieles aus dem Raum der Kirche in die staatlichen und öffentlichen Lebensbereiche verlagern. Wir dürfen auch mit Genugtuung darauf hinweisen, daß die Kirche mancherorts in der Freiheitsgeschichte eines Volkes eine große und segensreiche Rolle gespielt hat. Aber gerade deswegen stellt sich heute die Frage, ob dieser "humane Dienst" die grundlegende Aufgabe der Kirche war oder ob dieser humane Dienst doch eine andere Grundlegung und einen anderen Ursprung als das bloße Ideal der Menschenrechte hatte.

2. Das trinitarische "Subjekt" der Kirche

Angesichts dieses Nachdenkens stellt sich die Frage: Hat die KIrche nur ein "humanes" Subjekt, das die Kirche als eine Menschenrechtsbewegung legitimiert, oder hat sie ein "göttliches" Subjekt, das ungleich mehr in der Kirche bewirkt und offenbart, als es die Zwecke der Gerechtigkeit, des Rechtes, der Freiheit und des Friedens von sich aus verlangen?

Die Dogmatische Konstitution über die Kirche des II. Vatikanischen Konzils spricht von der vielfältigen Wirklichkeit der Kirche als von einem von der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes her geeinten Volk (vgl. LG 4). Das Vorhandensein der einen Kirche hat also ein "trinitarisches Subjekt", in dessen Leben sie sich heilgeschichtlich entfaltet. Wenn wir daher von einem solchen theologischen Subjekt ausgehen, sind im Fall der verfolgten Kirche auch jene anderen Fragen zu beantworten, die sich im Paradigma von Werten und Rechten nicht erschöpfen.

3. Kirche: Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person

Es ist für die Kirche von ehrenvoller Bedeutung, wenn sie sich geschichtlich als "Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person" (vgl. Gaudium et Spes 76) bewährt hat.

Wie muß dies gesehen werden? Es ist der Gottessohn Jesus Christus selbst, der uns Menschen in allem gleich wurde, ausgenommen die Sünde. Als der Erlöser des Menschen hat Christus ein besonderes Bürgerrecht in der Familie der Menschen. Als das Haupt seines Geheimnisvollen Leibes, der Kirche, hat der wahre Gott und der wahre Mensch Jesus Christus inmitten einer gewalttätigen und unterdrückerischen Welt die Wahrheit von der Würde des Menschen als Glaubensgut der Kirche gewährleistet.

Solche Sätze aber sagen, daß die Kirche mehr und anders als eine "Menschenrechtsbewegung" ist. Die unglaublichen politischen Veränderungen Osteuropas in kürzester Zeit und der unerwartete Zuwachs an moralischer und sozialer Autorität für die bisher verfolgte Kirche könnten zur Konklusion verleiten, die Kirche sei vielleicht die erfolgreichste dieser Bewegungen gewesen; noch bedenklicher wäre allerdings die Konklusion, der Menschenrechtsgedanke hätte die Kirche in Zeiten der Verfolgung inspiriert und damit eigentlich in ihrer geistigen und geistlichen Existenz erhalten.

4. Der "humanisierte" Atheismus

Es war vor allem der Atheismus, wie er vom Marxismus-Leninismus propagiert wurde, der Unterdrückung und Verfolgung gegenüber der Kirche motivierte und zum politischen System machte. Aber sogar der Atheismus in Osteuropa hatte längst begriffen, daß er die Menschen- und Bürgerrechte wenigstens verbal für sich vereinnahmen müsse, um nach außen und auch im Inneren politisch erfolgreich zu sein. Der Atheismus des Ostens und des Westens wird auch in Zukunft sich als die Utopie der verwirklichten Menschen- und Bürgerrechte sowie der humanen Werte präsentieren. Damit hätte die Kirche ihre "Identitätsfrage" in Konkurrenz mit jenen zu stellen, die mit Blick auf den "Menschen" den politischen Erfolg suchen. Diesbezüglich kann man heute schon beobachten, daß die Kirche mit ihrer Botschaft nicht mehr in ihrer religiösen Dimension, sondern nur mehr in ihrer sozialen und politischen Relevanz wahrgenommen wird: Im Bewußsein der Öffentlichkeit ist nur mehr relevant, was die Kirche z.B. zum Frieden, zur Abrüstung, zur sozialen Gerechtigkeit, zur politischen Freiheit, zur internationalen Ordnung oder zum politischen Tagesgeschehen äußert. Daß es dafür in der Kirche einen notwendig religiös verlaufenden Begründungsvorgang gibt, interessiert nicht und wird nicht einmal vermutet.

Es wird für die Kirche zunehmend schwieriger, andere Gründe und Maßstäbe geltend zu machen als jene, die ein weltweiter politischer und kultureller Konsens als relevante Wirklichkeit vorschreibt. So ist das Wort "Gott" nicht einmal am Rande von Bedeutung und wird höchstens als eine private Besonderheit einiger religiös motivierter Menschen angesehen. Auch wenn der Atheismus als eine Ideologie des Kampfes und der Unterdrückung gegen den Glauben etwas zurückgetreten ist, besteht er heute als "kommunikativer Atheismus" auf der Ebene des Politischen, Sozialen, Kulturellen, Ökonomischen und Wissenschaftlichen: In diesen Bereichen wird so gesprochen, gedacht, argumentiert, begründet, dargestellt und entschieden, als gäbe es Gott nicht und als ob auch kein Anlaß bestünde, etwas aus Gott herzuleiten oder in Gott zu begründen. In solchen Bereichen des kommunikativen Atheismus ist auch die Kirche genötigt, ihre Botschaft in einer gewissen Entfremdung von ihrem Grund vorzutragen.

5. Das mögliche Mißverständnis

Schon das Wirken und die Botschaft Jesu waren ständig von einem profanen Mißverständnis bedroht. Wie sehr wollten die Menschen Jesus schon zu ihrem politischen Führer und Messias machen; das Johannesevangelium berichtet: "Als die Leute das Zeichen sahen, das er getan hatte, sagten sie: Das ist wirklich der Prophet, der in die Welt kommen soll. Da erkannte Jesus, daß sie kommen wollten, um ihn mit Gewalt zum König zu machen; darum zog er sich wieder auf den Berg zurück, er allein" (Joh 6,14 f). Und der Menge, die ihn suchte, sagt Jesus: "Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von den Broten gegessen habt und satt geworden seid. Müht euch nicht um die Speise, die verdirbt, sondern um die Speise, die bleibt für das ewige Leben und die euch der Menschensohn geben wird" (Joh 6,26 f). Was die Menschen mit Jesus vorhatten, das bleibt auch die Versuchung zum Mißverständnis der Kirche und des Glaubens; es ist die Einebnung der Gottesbeziehung in den Schematismus menschlicher politischer Zwecke, die nicht selten angestrebt wird. Es gibt wohl eine Reihe von geschichtlichen Fakten, die als unrechtmäßige Einlassung der Kirche in das Gewaltenschema der Politik kritisiert werden, z.B. die Konstantinische Wende, das politische Weltbild Bonifaz VIII., die Existenz des Kirchenstaates, oder die politisierenden Prälaten in den Parteien des 20.Jahrhunderts. Wie gerecht oder ungerecht solche Kritik sein mag, ist hier nicht zu beantworten. Zu bedenken bleibt jedoch die Frage, wie weit durch den heutigen Einschluß der Kirche in die politischen Bewegungen für Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit die Kirche in ihrer Identität deformiert werden könnte.

6. Die Veränderungen in Osteuropa in Zusammenhang mit Papst Johannes Paul II.

Nicht selten sehen geschichtsbewußte Menschen den Anfang der großen Veränderungen in Osteuropa in der Wahl von Johannes Paul II. zum Papst. Eine gewisse Rolle könnte die Tatsache der polnischen Herkunft des Papstes spielen. Viel entscheidender dürfte jedoch sein, daß Johannes Paul II. die "Sache des Menschen" als sein Hauptanliegen aufgegriffen hat. Der Papst verkündete aber nicht den säkularisierten Humanismus, der den Menschen und seine Rechte einfach zur Hauptsache erklärt. Er zeigt vielmehr für den Menschen, für dessen Personsein, für dessen einzigartige Würde und für dessen Rechte einen göttlichen Grund auf, sodaß die Personwürde des Menschen nicht als das Ergebnis eines allgemeinen Konsenses unter den Menschen erscheint, sondern aus der Schöfungsordnung und Erlösungstat Gottes begründet wird.

Seit dem II. Vatikanischen Konzil ist die Sache des Menschen mehr noch in das Bewußsein der Kirche getreten. In vielem war es nicht neu, was das Konzil sodann in deutliche theologische Zusammenhänge gestellt hat. Die ständig weiterentfaltete Soziallehre der Kirche und die vielen Mahnungen der Päpste zu Frieden und gegen den mannigfaltigen Totalitarismus sind in unserem Jahrhundert ein stetes Zeugnis der Sorge der Kirche für den Menschen.

Vertieft hat das II. Vatikanische Konzil die Sicht von der zur Solidarität verpflichteten Menschheitsfamilie und von der weltweiten Interdependanz der menschlichen Systeme und Ordnungen sowie die Erhellung des Geheimnisses des Menschen durch die Menschwerdung Jesu Christi und seine Erlösung. So sagt Gaudium et Spes: "Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf. Denn Adam, der erste Mensch, war das Vorausbild des zukünftigen, nämlich Christi, des Herrn. Christus, der neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Geheimnisses des Vaters und seiner Liebe dem Menschen den Menschen selbst voll kund und erschließt ihm seine höchste Berufung" (GS 22).

Diese Aussage des Konzils ist der Leitgedanke der ersten Enzyklika, die Johannes Paul II. im Jahre 1979 unter dem Titel "Redemptor hominis" erließ. In der Einsicht, daß die Menschenrechte und die Würde der menschlichen Person in einer sehr kompliziert gewordenen Welt dennoch die beherrschende Frage sein werden, fragte Johannes Paul II. nach der Begründung dessen, was der Mensch ist und sein soll. So leitet er auch die Würde des Menschen aus der Schöpfertat Gottes her, die auf Erden den Menschen zur einzigen Kreatur gemacht hat, die Gott um ihrer selbst willen wollte (vgl. GS 24). Dem von Gott geschaffenen Menschen wohnen jene Wahrheit und Würde inne, daß er Gottes Bild und Gleichnis ist.

Die Erlösung durch Christus sodann ist der Wiedergewinn dieser Wahrheit und Würde für den schuldig gewordenen Menschen in einer Offenkundigkeit, die nur der menschgewordene Sohn Gottes selbst verwirklichen konnte, um sich zutiefst mit jedem Menschen zu vereinen. So ist Christus nicht der gewöhnlichste Mensch, der uns in allem gleich geworden ist, sondern der wahre und vollkommenste Mensch, dem wir zu unserer Erlösung und zu unserem Heil gleichförmig zu werden haben. So ergibt sich die Einsicht: Alles, was des Menschen ist, hat seine Wahrheit und seine Begründung in Christus.

Wenngleich es auch das Werk des Geistes Gottes ist, daß sich alle Menschen über Würde und Rechte des Menschen verständigen, liegt einem solchen Konsens der Menschheit die Begründung des Menschen im Schöpfer und Erlöser voraus. Menschenrechte sind daher nicht das Resultat allgemeiner Verständigung, sondern das entdeckende Begreifen des Menschen im Lichte Christi. So kann die Erkenntnis und Ausrufung der Menschenrechte nur etwas sein, was zur offenbarenden Selbstmitteilung Gottes gehört.

7. Die gefährdete Identität der Kirche

Niemand wird heute in Abrede stellen, daß die Kirche im Staat, aber auch in der Völkergemeinschaft den Standpunkt Christi zur Würde des Menschen, zur sozialen Gerechtigkeit, zur politischen Ordnung, zum Frieden und zu vielen anderen nationalen und globalen Fragen öffentlich und kompetent geltend machen muß. Vieles von dem, was heute der Papst, die Bischöfe und die Gläubigen mit dem Anspruch auf Verwirklichung äußern, liegt in diesem Bereich der Welt des Menschen. Nicht selten beschreibt man dies als den weltweiten Dialog der Kirche mit den vielen anderen geistigen und moralischen Kräften, die sich ebenfalls zu Wort melden. Wollte die Kirche aber nur mehr auf dieser Ebene sprechen und handeln, würde sie ihrem Heilsauftrag untreu sein, der den Menschen mit Gott zu verbinden hat.

Es könnte jedoch auch einen anderen Identitätsverlust für die Existenz und für die Botschaft der Kirche geben, der zunächst weniger offenkundig erscheint, aber dennoch auch zerstörend wirkt. Worin liegt ein solcher eher unbemerkter Identitätsverlust der Kirche? Er liegt in jenen vielfältigen Aufgaben, die heute der Kirche von außen zugemutet werden, die jedoch oft eine Ausklammerung des Eigenwesens und der Identität der Kirche im Gefolge haben.

Nicht selten wird die Kirche von solchen Auftraggebern neu definiert, die z.B. die einstige Konstantinische Wende als folgenschwere Fehlentwicklung kritisieren. Wenn man der Kirche jedoch heute neue Aufgaben stellt, ist man der Meinung, diese Aufgaben seien dem Wesen der Kirche durchaus zumutbar und würden zur geschichtlich richtigen Entfaltung beitragen. So erinnert man die Kirche des Ostens daran, eine gesellschaftsgestaltende Kraft zu sein; man warnt die Kirche jedoch gleichzeitig, sich mit den Mächtigen zu verbünden und selbst politische Macht auszuüben; man warnt dann wiederum vor der Versuchung, sich ob einer falschen Verinnerlichung in ein untätiges Ghetto zurückzuziehen. Man muntert die Kirche auf, das gesellschaftliche Gewissen zu sein; gleichzeitig schließt man aus, daß die Kirche ihre Werte oder gar ihre Moralvorstellungen durch Gesetze des Staates einfordert. Ein andermal wird der Kirche von früheren parteipolitischen Wegen abgeraten, betont wird jedoch gleichzeitig, daß die Kirche die Verpflichtung zum gesellschaftspolitischen Engagement für die Welt, für die Menschen und für die ganze Schöpfung habe. Solche in sich widersprüchliche Ratschläge strömen heute aus dem Westen in die Kirche des Ostens. Was soll also die Kirche in Osteuropa wirklich tun in diesem Verwirrspiel von gegensätzlichen Ratschlägen? Würde man solche Ratschläge einem Staat oder einer politischen Bewegung geben, müßte man redlicherweise zugeben, daß dies zu deren Selbstaufgabe und Selbstzerstörung führt.

Kann man der Kirche solche widersprüchliche Aufträge zumuten? Wird die Kirche dabei in ihrem Wesen und in ihrer Identität überfordert? Man spricht vom Ideal einer freien pluralen Gesellschaft und nennt dabei auch manchmal den Preis, den die Kirche zugunsten ihres Auftrages zu bezahlen hat: Die Kirche solle die verschiedenen, legitim wirksamen Kräfte im Staat anerkennen und eben nur eine Kraft unter anderen sein. Die Kirche sollte also nur gleichrangig mit anderen Kräften der Gesellschaft sein.

8. Die Überforderung der Kirche

Für die Kirche gibt es in der Welt sehr verschiedene Situationen: Es gibt Staaten, in denen eine große Mehrheit der Bevölkerung zur Kirche gehört; anderswo wiederum ist die Kirche eine verschwindende Minderheit ohne jede politische Relevanz; es gibt noch immer die verfolgte und unterdrückte Kirche; es gibt laizistische Staaten, die eine selbst große Kirche in die Bedeutungslosigkeit zurückdrängen; es gibt Staaten mit einem geordneten und friedlichen Nebeneinander der großen Glaubensgemeinschaften; es gibt auch Staaten, in denen gerade durch eine wachsende Kirche ein Fortschritt zu Kultur und humaner Zivilisation stattfindet.

Überall aber ist es dieselbe eine Kirche mit demselben göttlichen Auftrag und mit derselben Lehre des Glaubens. Wie muß die Kirche in diesen verschiedenen Situationen sich legitimieren? Ist die wahre Kirche nur schließlich jene, die sich im Rahmen des Pluralismus gesellschaftlich für die Welt, für die Menschen und für die Schöpfung engagiert? Was war die Kirche an ihrem Anfang als jene kleine Herde, die nur vom Glauben an den auferstandenen Herrn und von der neuen Wahrheit über Gott und den Menschen beseelt und getragen war?

Die Gefahr der oberflächlichen Relationen zur Welt gibt es für die Kirche immer wieder. Der Aktivismus kann dazu verleiten, eine bloße Bildungsinstitution, ein zuverlässiger wirtschaftlicher Partner, eine soziale Einrichtung oder nur ein politischer Motor zu sein. Der Kirche werden dabei endlos viele Aktivitäten zugemutet, ohne daß bedacht wird, ob die Kirche für all das eine genügende institutionelle Identität und geistliche Legitimation besitzt. Besteht nicht die Gefahr, daß die Kirche sich maßlos überfordert, wenn sie in all dem aufgeht, was die Welt ihr aufbürdet? Kann man die Kirche ohne Rücksicht auf ihr Wesen in Friedens-, Gerechtigkeits-, oder Menschenrechtsbewegungen einreihen, obwohl die Kirche in Osteuropa noch in der Erinnerung der selbst erlittenen Unterdrückung und Freiheitsberaubung steht? Ist für die Kirche alles erledigt, wenn bessere Zustände im Osten eingetreten sind?

9. Das Geheimnis der eucharistischen Christus

Not und Leiden haben für die Kirche eine unverlierbare Wirklichkeit. Dies läßt sich sehr klar darin begreifen: In der Eucharistie feiert die Kirche nicht bloß die Auferstehung des Herrn in der Art, daß Leiden und Tod überwunden und vergangen sind. Das Geheimnis des Glaubens ist ein ganz anderes: "Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit!" Was der Gottessohn erlitten hat, das ist nicht einfach durch die Auferstehung verdrängt und null und nichtig. Es geschieht nicht das, was wir in der Welt erleben: Der Wohlstand z.B. verdrängt die Armut, und nichts mehr rechtfertigt die vergangene Armut; nichts mehr davon soll Geltung haben.

Nichts hingegen ist Vergangenheit, was sich als das Leben der Kirche ereignet. Die Vergangenheit ist Gegenwart, und die Gegenwart ist Zukunft. Wie im Glauben und in der Liturgie das von Christus ergangene Wort in uns Gegenwart sein muß und in der Eucharistie sein Leiden und Sterben immer noch Gegenwart bis zur Ankunft des Herrn ist, so ist auch die Kirche eine einzigartige Wirklichkeit von Gegenwart. Die "Welt" hingegen verläßt Vergangenes durch besseres Wissen von den Dingen, durch Fortschritt in den Fertigkeiten und Fähigkeiten des Menschen, durch neue Verteilung von Macht und Eigentum, in der Überwindung von Negativem und in der Hoffnung auf das Positive; ja, es gehört zum geschichtlichen Fortschritt der Welt, das Vergangene zugunsten des Gegenwärtigen und Zukünftigen zu falsifizieren. In der Kirche hingegen gibt es die fortbestehende "Hierarchie des Leidens"; die Kirche stellt die Märtyrer und Bekenner, die Verfolgten und Leidenden, die Armen und Kranken in die größte Nähe zu Gott, ob nun Zeiten von Frieden und Freiheit oder Zeiten von Unterdrückung und Todesgefahr herrschen. In der Gegenwart der Kirche bleiben Leiden und Sterben das, was der Apostel Paulus sagt: "Für den Leib Christi, die Kirche, erfülle ich in meinem irdischen Leben das Maß seiner Leiden" (Kol 1,24).

10. Die Gegenwart von Tod und Leiden in der Kirche Christi

Durch Christus bleibt die Kirche dem Leiden verpflichtet, auch wenn sie alles tun darf und soll, was das Leiden des Menschen in der Welt aufhebt. Wie erinnern uns an das Wort der Offenbarung des Johannes beim Öffnen des fünften Siegels durch das Lamm: Jene, die hingeschlachtet wurden, weil sie an dem Wort Gottes festhielten, rufen nach der Rache Gottes. Doch sie erhalten zur Antwort, sie sollten noch eine kurze Zeit warten, bis die volle Zahl erreicht ist durch den Tod ihrer Mitknechte und Brüder, die, wie sie, noch sterben müssen (vgl. Offb 6,9 ff). Es gibt in der Kirche etwas, was durch Leiden und Tod zu erfüllen ist und deshalb nicht aufhebbar ist, weil es geradezu identisch verwirklicht, was der menschgewordene Sohn Gottes als sein Leiden und seinen Tod auf sich nahm. Und selbst wenn man mit humaner Logik feststellt, daß das einzige Ziel des Menschen gegenüber Leiden und Tod das Überwinden und Verschwinden von Leiden und Tod sei, läßt sich genau dies seit der Menschwerdung des Erlösers nicht mehr aufrecht erhalten. Denn der wahre Gott und Mensch kann nicht etwas tun, was reine Negativität ist; denn wie sollte Erlösung sein, was als Leiden und Tod nur negativ ist? Was also der Erlöser durch sein Leiden und seinen Tod bewirkte, muß einen göttlichen Grund haben, der in der Auferstehung nicht aufgehoben, sondern erfüllt ist. Hierin liegt jedoch gerade der Unterschied zu jenem politischen Denken, das - zumindest der Absicht nach - linear fortschreitet und im Fortschritt die Überwindung des negativen Vergangenen sicherstellt.

11. Die Kirche und der humane Fortschrittsgedanke

Damit zeigt sich, daß für die Kirche der humane Fortschritt und die Mitwirkung daran eine Identitätsfrage ist, die sich aus dem Glauben an Jesus Christus stellt. Auch in der Kirche sind das Leiden und der Tod Christi noch immer gegenwärtig - bis ans Ende der Zeiten. Kann sich also heute die Kirche vorbehaltlos in etwas einbeziehen lassen, was Leiden und Tod höchstens als didaktische Erinnerung an Vergangenes, aber nicht als Gegenwart gelten läßt? Kann die Gleichsetzung so einfach sein: Kirche = Menschenrechte, Kirche = Freiheit, Kirche = Fortschritt, Kirche = Friede, Kirche = soziale Gerechtigkeit, Kirche = Konfliktbewältigung, Kirche = Glück des Menschen? Auf solche suggestiven Gleichsetzungen ist eine gerechte Antwort gar nicht leicht zu geben; keine dieser aufgeführten Gleichsetzungen läßt in sich die Gegenwart von Leiden und Tod zu. Auch wenn es die Zeichen der Zeit zu gebieten scheinen, daß die Kirche sich in solche Gleichsetzungen einbringt und dadurch sich vor der Welt legitimiert, wären solche Gleichsetzungen ein Abrücken der Kirche von ihrer Identität; denn die Kirche kann nur in den Dimensionen Christi, in allen Dimensionen Christi, bestehen; andernfalls wäre die Kirche nicht mehr Kirche, nicht mehr der Geheimnisvolle Leib des leidenden, gekreuzigten und auferstandenen Herrn.

Nicht die Zeiten der Kenosis der Kirche, d.h. die Zeiten der Verfolgung, Unterdrückung und Unfreiheit, gefährden die Identität der Kirche; in Zeiten der Kenosis wird Christus in all seinen Dimensionen - auch in jenen des Leidens und Sterbens - geglaubt, begriffen, gelebt und gefeiert. Vielmehr in guten Zeiten des Friedens, der Freiheit, der Prosperität und des Zuwachses von Einfluß besteht die Versuchung, sich mit vielen anderen geistigen und politischen Strömungen auf einer Ebene einzulassen, wo das Kreuz nicht verstanden wird, wo das Leiden höchstens Erinnerung ist, wo die Sündigkeit des Menschen im Schwung des Fortschritts aufgehoben scheint, wo die persönliche Bekehrung des Menschen in die Dynamik einer allgemeinen Entwicklung kaum einzuordnen ist.

12. Der Weg der Kirche in einer freien Welt

Wieder einmal zeigt sich der Weg der Kirche durch die Heilsgeschichte; diesmal geschieht es im atheistisch, marxistisch-leninistisch beherrschten Osteuropa: Mit Freiheit und mit großer moralischer Autorität verläßt die Kirche nun ihre Gefängnisse und wird in vielen Ländern zum Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person. Für die Menschen geht die Kirche ihren Weg in der Welt, dennoch darf sie nicht von dieser Welt sein. Es ist ein Geheimnis, das der Kirche die Kraft zum "Vorbehalt" gegenüber der Welt und gegenüber den irdischen und rein humanen Zielen gibt. Es ist das Christusgeheimnis der Eucharistie, das Leiden und Tod besiegt, weil der Herr auferstanden ist, das aber auch Leiden und Tod bewahrt, damit die Auferstehung wirklich Auferstehung ist. Der auferstandene Herr läßt den zweifelnden Jünger seine Todeswunden berühren, damit er glaubt. Christus läßt nicht zu, daß die Weisheit der Welt das Kreuz verdrängt: Christus ist das göttliche Geheimnis; in ihm sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen (vgl. Kol 2,2 f); für die Berufenen ist der gekreuzigte Christus Gottes Kraft und Gottes Weisheit (vgl.1 Kor 1,24).

Die Zeiten der Kenosis der Kirche können nur im "Glauben" gelebt werden; denn Leiden und Sterben lassen keine Gleichsetzung mit allgemein menschlichen Zielen zu; denn nichts menschlich Anstrebbares kann Leiden und Tod legitimieren; daher verbleibt nur der Glaube, der für Leiden und Tod die Gottesbeziehung und damit eine wahre Wirklichkeit aufrecht erhält. In Zeiten der Freiheit und Wohlfahrt jedoch ist der Glaube versucht, sich mit allen möglichen humanen Gütern gleichzusetzen, woraus auch die Mißverständnisse um das Wesen und den Auftrag der Kirche entstehen können. Diese Gleichsetzungen sind Weisen einer "Gnosis", die den Glauben darin ausschöpft, daß ständig mehr Gleichsetzungen zwischen dem Übernatürlichen und Natürlichen, zwischen dem Transzendeten und Immanenten, zwischen dem Absoluten und Relativen, zwischen dem Göttlichen und Menschlichen und zwischen dem Geglaubten und dem Erkannten bewirkt werden. Diese Gnosis hebt das ursprüngliche Göttliche in Richtung des erfahrbaren Immanenten auf, so daß es am Ende überflüssig wird, das Göttliche zu beachten und anzuerkennen, weil man ja das Göttliche im Endlichen und Geschöpflichen wiederfinden und rekonstruieren zu können vermeint.

13. Die ständige "Gnosis" der Gleichsetzungen

Die den Glauben zerstörende Gnosis geht nicht nur ausschließlich in die Richtung zum Humanen und Immanenten, sondern sie ist auch einseitig, weil sie in ihren Gleichsetzungen den totalen Anspruch auf Wirklichkeit stellt und für das Übernatürliche, Göttliche, Offenbarende, für das Mysterium des Glaubens und für das ungeschuldete Gnadenhafte eine uneinholbare "Eigenständigkeit" nicht mehr anerkennt.

14. Der Athismus als Gnosis

Auch der Atheismus ist eine Weise der Gnosis; denn die Verneinung Gottes im Atheismus wird in jener Gleichsetzung versucht, daß alle religiöse Wirklichkeit letztlich doch nur ein Menschliches und ein in Entfremdung Verursachtes sei. Der radikale Atheismus verneint nicht einfach Gott, sondern nimmt überdies jedem religiösen Anspruch die Eigenständigkeit des Religiösen und führt ihn auf bloß Menschliches und Weltliches zurück. Diese Gnosis ist nicht nur Zerstörung des Religiösen, sondern auch Zerstörung des Metaphysischen, Ganzheitlichen und Transzendenten.

Die "Gnosis" mag einmal in der Geschichte der Kirche und der Theologie eine besondere Denkweise gewesen sein; die Gnosis ist heute jedoch mehr als ein historisches Ereignis; die Gnosis ist die Grundform der Versuchung für die Vernunft und Selbstgestaltung des Menschen gegenüber dem gnadenhaften Göttlichen und Geoffenbarten. So sehr die "Gleichsetzung" die Grundform des menschlichen Erkennens - z.B. "intelligens in actu est intellectum in actu" - und der Verfügung über die Dinge ist, so wenig kann die Gleichsetzung die Wirklichkeit des Göttlichen ausschöpfen oder den Glaubensgrund ersetzen.

15. Kenosis und Gnosis

In der Zeit der Kenosis hatte die Kirche in Osteuropa keinen Anlaß, den Glauben mit etwas Irdischem gleichzusetzen; die Kirche war wie ohne Hoffnung und ohne Zukunft, sie erkannte sich nur im leidenden und gekreuzigten Christus. In ihrer Kenosis suchte die Kirche auch in sich selbst nicht die Perspektiven des Fortschritts. Sie verharrte in der Treue und Gemeinschaft mit dem Papst, oft stumm und nur im Band des Glaubens. Sie verharrte in der Lehre des Glaubens, bis zum Buchstaben getreu und ohne Sehnsucht nach Legitimation durch Fortschritt oder Anpassung. Sie ertrug es, die kleine Herde der Getreuen zu sein, ohnmächtig, verachtet und gemieden von vielen. Die Gläubigen übten Gehorsam ohne Erwartung von Lohn; sie hielten Gemeinschaft mit den Verfolgten, ohne das Glück von Gemeinschaft genießen zu können. Sie beteten und konnten oft nur ersehnen, was ihren Brüdern und Schwestern anderswo in den Sakramenten in Fülle offenstand. In der Kenosis gab es nur die "Gegenwart", denn die Erinnerung an eine bessere Vergangenheit und die Hoffnung auf eine andere Zukunft waren ausgelöscht. In der größten Not erkannten die Christen die Stimme ihres Gewissens als die Stimme Gottes und der Kirche.

Wir, die wir die schweren Zeiten von Unfreiheit und Verfolgung nicht erfahren mußten, können sicher nicht ausreichend beschreiben, was unsere Glaubensbrüder "in Feuer und Wasser" durchwandern mußten. In ehrfürchtiger Bewunderung für ihre Treue und Leidensfähigkeit waren wir zugleich davon überrascht, wie gut die Kirche dort überlebte, wo wir sie für nicht mehr existent hielten.

16. Die Gnosis des Atheismus in Ost- und Westeuropa

Freilich sehen wir auch, daß der Atheismus sich nicht nur im freien Europa als Neuheidentum, sondern auch in Osteuropa ausgebreitet hat. Es gibt in Osteuropa viele Millionen Menschen, die in der Diktatur des Marxismus-Leninismus durch Jahrzehnte nichts von Gott gehört haben, nichts vom Glauben an Jesus Christus und nichts von seiner Kirche. In der Euphorie der ersten Monate der Freiheit meinten viele, die freie Marktwirtschaft, Menschen- und Bürgerechte und die Einführung demokratischer Ordnungen genügten für das Wohl der Menschen und für den Fortschritt. Auch bis heute haben viele noch nicht klar erkannt, daß die eigentliche Wurzel der Unterdrückung, der Menschenverachtung, der Mißwirtschaft und der Verwahrlosung der Atheismus ist. Die Wirtschaft und die demokratische Ordnung mögen sich entfalten, der Atheismus ist damit noch lange nicht überwunden.

Auch Westeuropa setzt auf Hilfen, die meist nur wirtschaftlicher Natur sind; gleichzeitig demonstriert Westeuropa mit seinem größeren Wohlstand auch seinen Atheismus, der vor allem im Agnostizismus und in der maßlosen Eigenmächtigkeit des Menschen sich äußert. Soll die Zukunft Europas künftig darin liegen, daß der Blinde einen Blinden führt, weil die Existenz Gottes und damit die wahre Würde des Menschen ignoriert wird?

Die Gottvergessenheit als die Wurzel allen Übels ist noch nicht durchschaut und noch nicht überwunden. Der Atheismus als die "Gnosis des Immanenten" gibt sich heute das Gesicht einer humanen Kultur und des praktikablen Glücks.

Doch die Grenzen des Immanenten sind nicht ins Endlose auszuweiten, das Immanente bleibt immer in sich widersprüchlich und konfliktträchtig, das Immanente kann das unter uns wirkende "mysterium iniquitatis" nicht aufheben. Im rein Immanenten kann der Friede nicht ewig, die Gerechtigkeit nicht absolut, das Glück nicht unbegrenzt und der Mensch nicht wahrhaft erlöst sein.

Zur Zeit ist die Kirche im Osten noch getragen vom Vertrauen des Volkes, das die Kirche durch Treue zu ihren Grundsätzen und durch den Widerstand gegen den Totalitarismus erworben hat. Auch im Osten wird man rasch vergessen, was der Kirche zu verdanken ist. Die Kirche hat nun in vielen Alltäglichkeiten Entscheidungen zu treffen und Maßnahmen zu setzen: Sie muß ihre materielle Basis sichern, muß Eigentum erwerben oder zurückerhalten, muß Kirchen und religiöse Gebäude restaurieren; die Möglichkeiten bezüglich des schulischen Religiosunterrichts sind zu regeln; Schulen, Priesterseminare und theologische Studien sind einzurichten; die kirchliche Presse muß aufgebaut werden; der Zugang zu den allgemeinen Massenmedien muß gesucht werden. Darüber hinaus müssen die kirchliche Verwaltung und die pastoralen und karitativen Strukturen entwickelt werden; das Laienapostolat und die Aufgaben der Laien müssen klar und vorausschauend bestimmt werden; die Katholische Soziallehre muß ihren Niederschlag im Verhältnis von Kirche und Staat und in einer von der Kirche zu lehrenden politischen Ethik finden. Mehr als je zuvor braucht die Kirche in Osteuropa die Gabe der Unterscheidung der Geister. Längst schon hat die modernistische Theologie Westeuropas begonnen, ihre Ideen, Programme und Hilfen anzubieten. Ohne Skrupel werden die Minderwertigkeitsgefühle der bisher unterdrückten Kirche ausgenützt, die Kenosis der Kirche um ihre eigentliche Bedeutung zu bingen. Es droht die Gefahr, daß der Kirche in Osteuropa nach der Verfolgung nun auch die Krise der Kirche Westeuropas nicht erspart bleibt.

17. Die Kenosis im Wesen der einen Kirche

Wie kann die Kirche in einer solchen Fülle von neuen Problemen, Chancen und Herausforderungen bestehen, ohne ihre gottgestiftete Identität in ihrer praktischen Neugestaltung oder in einer weltweiten Menschen- und Bürgerrechtsbewegung aufzugeben? Der erste Schritt zu einer Erneuerung der Kirche liegt in der Erkenntnis, daß das Eintauchen der Kirche in die Welt der Gleichsetzungen eine vielfache Gefahr zur "Gnosis" ist. Der Endpunkt der Gnosis ist immer das Ende des Glaubens. Die Kenosis der Kirche in Osteuropa in den letzten Jahrzehnten hat erwiesen, daß die Kirche ohne Gleichsetzungen, ohne Anpassung, ohne Strategie und ausgebautes Instrumentarium bestehen kann, wenn sie im Geheimnis Christi erfahren hat, daß Leiden, Sterben und Auferstehung eine einzige bleibende Gegenwart im Heilswirken Gottes sind. Der Glaube muß die Gegenwärtigkeit des Ganzen dessen sein, was Jesus Christus ist, lehrt und wirkt. Diese Kirche ist die eine Kirche Christi, die sich nicht nach Kulturen, Staaten und Orten aufspaltet. Die Kirche kann nie die bloße Summe der Teilkirchen sein, keine Teilkirche kann für sich beanspruchen, die Kirche zu sein. Das eucharistische Geheimnis Christi sichert das Wesen der Kirche, in dem die Teilkirchen nach dem Bild der Gesamtkirche gestaltet sind. In ihnen und aus ihnen besteht die eine und einzige katholische Kirche (vgl. Lumen gentium, Nr. 23).


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Texte von Bischof Krenn werden im Internet auf hippolytus.net mit freundlicher Erlaubnis von Dr. Kurt Krenn publiziert. Verantwortlich: DI Michael Dinhobl und Dr. Josef Spindelböck. Die HTML-Fassung dieses Dokuments wurde erstellt am 06.12.1997.

 

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