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Die libidobezogene Interpretation des sexuellen Triebes
Eine Kritik an Sigmund Freud (2007)

Karol Wojtyła

Hinweis/Quelle: Aus Anlass des 150. Geburtstags von Sigmund Freud (* 6. Mai 1856, † 23. September 1939) dokumentiert stjosef.at die Kritik von Karol Wojtyła (Johannes Paul II.) an der so genannten libidobezogenen Interpretation des Geschlechtstriebs, wie sie Freud und seine Schüler vorgenommen haben. Diese Interpretation hat sich aufgrund des einseitigen und falschen Menschenbildes, in dem Gott nicht mehr vorkommen darf und der Mensch in seiner sittlichen Verantwortung nicht mehr ernst genommen wird, in vielfacher Weise negativ ausgewirkt. – Der folgende Abschnitt ist ein Ausschnitt aus der deutschen Neuausgabe von „Liebe und Verantwortung“, die 2007 im Verlag St. Josef in Kleinhain bei St. Pölten erschienen ist: Karol Wojtyła (Johannes Paul II.), Liebe und Verantwortung. Eine ethische Studie, gebunden, 420 Seiten, 21 × 14 cm, Verlag St. Josef, Kleinhain 2007, ISBN: 978–3-901853–14–2. Bestellung: http://verlag.stjosef.at oder verlag@stjosef.at. Das polnische Originalpolnische Original trägt den Titel: Karol Wojtyła, Miłość i odpowiedzialność. Studium etyczne (Towarzystwo Naukowe Katolickiego Uniwersytetu Lubelskiego), Lublin 1960, 1979, 2001.

Die Abweichung in der Richtung des übertriebenen Rigorismus – in der wir im Übrigen eine besondere Erscheinungsweise des utilitaristischen Denkens ausgemacht haben (extrema se tangunt! – Extreme berühren sich) – kommt jedoch nicht so häufig vor wie ihre Antithese, welche wir hier die „libidobezogene“ Entstellung nennen werden. Der Name leitet sich vom lateinischen Wort libido ab (gemeint ist damit der aus dem Gebrauch resultierende sexuelle Genuss), welches S. Freud bei seiner Interpretation des sexuellen Triebes verwendete. Wir wollen uns hier einer umfassenderen Diskussion der Freud’schen Psychoanalyse und seiner Theorie des Unbewussten enthalten. Freud wird als Vertreter des Pansexualismus angesehen, da er dazu neigt, alle Phänomene des menschlichen Lebens von der frühesten Kindheit an als Erscheinungsformen des sexuellen Triebes zu interpretieren. Zwar wiesen nur einige dieser Phänomene einen direkten und ausdrücklichen Bezug zu sexuellen Objekten und Werten auf, aber all diese hätten – wenn auch nur indirekt und vage – den Genuss, die Libido, zu ihrem Ziel, und dieser Genuss habe immer eine sexuelle Bedeutung. Daher spricht Freud vor allem vom Trieb des Genusses (dem Libido-Trieb) und nicht vom sexuellen Trieb. Hier spielt es eine Rolle, dass der sexuelle Trieb, wie er ihn konzipiert, grundlegend ein Trieb des Genusses ist.

Diese Art der Zuordnung ist die Konsequenz einer partikularistischen und subjektivistischen Sichtweise des Menschen. Gemäß dieser Konzeption entscheidet der ausgeprägteste und am stärksten wahrgenommene Inhalt der menschlichen Sexualerfahrung über das Wesen des sexuellen Triebes. Dieser Inhalt ist nach Meinung Freuds eben der Genuss oder die Libido. Der Mensch versenke sich in sie, wenn sie auftrete, und er strebe nach ihr, wenn er sie nicht erfahre. Er sei also innerlich fest dazu entschlossen, sie zu suchen. Er suche sie fortwährend und in gewissermaßen allem, was er tue. Sie ist, so scheint es, das Hauptziel des sexuellen Triebes, und zwar des ganzen triebhaften Lebens des Menschen, also ein Zweck per se (d. h. an sich). Die Weitergabe des Lebens, die Prokreation, ist in dieser Konzeption nur ein Nebenziel, ein Zweck per accidens (d. h. zufällig, nebenbei). So ist das objektive Ziel des sexuellen Triebes in dieser Sichtweise weit entfernt und gleichsam unwirklich. Der Mensch in seinen allgemeinen Umrissen wird von der Psychoanalyse nur als Subjekt dargestellt, nicht als Objekt – nicht als eines der Objekte der objektiven Welt. Dieses Objekt ist zugleich ein Subjekt, wie wir am Beginn dieses Kapitels festgestellt haben, und dieses Subjekt besitzt ein ihm eigentümliches Inneres und ein inneres Leben. Ein Wesenszug dieses Inneren ist die Fähigkeit, die Wahrheit objektiv und in ihrer Ganzheit zu erkennen und zu erfassen. Dank dessen ist sich der Mensch als Person auch des objektiven Ziels des sexuellen Triebes bewusst, denn er erkennt seinen Platz in der Ordnung der Existenz, und zur selben Zeit entdeckt er auch die Rolle, die der sexuelle Trieb in dieser Ordnung spielt. Er ist auch in der Lage, diese Rolle in der Beziehung zum Schöpfer als Partizipation am Werk der Schöpfung zu verstehen.

Aber wenn stattdessen der sexuelle Trieb grundlegend als Trieb nach Genuss verstanden wird, dann wird dadurch dieses ganze Innere der Person fast völlig geleugnet. In dieser Konzeption wird die Person auf ein Subjekt reduziert, das „von außen her“ für genussvermittelnde sinnlich-geschlechtliche Reize sensibilisiert wird. Dieses Konzept stellt den Zustand der menschlichen Psyche – vielleicht unbewusst – auf eine Ebene mit dem psychischen Zustand von Tieren. Ein Tier kann konditioniert sein, sinnlich-vitale Lust zu suchen und unlustvolle Erfahrungen derselben Art zu vermeiden, da es sich für gewöhnlich in instinktiver Weise verhält, um die objektiven Ziele seiner Existenz zu erreichen. Beim Menschen ist es jedoch nicht so: Die richtige Weise, die objektiven Ziele seiner Existenz zu erreichen, liegt innerhalb der Macht seiner Vernunft, welche seinen Willen leitet, sodass die Lösung einen sittlichen Wert annimmt und sittlich gut oder schlecht ist. Der Mensch, der sich den sexuellen Trieb auf die eine oder andere Weise zunutze macht, löst dabei – auf richtige oder falsche Weise – das Problem, wie jene objektiven Ziele seiner Existenz zu erreichen sind, welche mit dem sexuellen Trieb verbunden sind. Der sexuelle Trieb ist daher in seinem Charakter nicht rein ­„libidobezogen“, sondern existenziell. Der Mensch kann in ihm nicht allein die Libido suchen, denn das ist im Gegensatz zu seiner Natur und steht einfach in Widerspruch zu dem, was der Mensch ist. Ein Subjekt, das mit einem derartigen ­„Inneren“ ausgestattet ist wie der Mensch, ein Subjekt, das eine Person ist, kann die ganze Verantwortung für den Gebrauch des Triebes nicht an den Instinkt abgeben und dabei den Genuss zu seinem einzigen Ziel machen, sondern muss die volle Verantwortung für die Art und Weise, in der er sich des sexuellen Triebes bedient, übernehmen. Diese Verantwortung stellt die grundlegende, vitale Komponente in der Sexualmoral des Menschen dar.

Man muss zugeben, dass diese „libidobezogene“ Interpretation des sexuellen Triebes eng mit der utilitaristischen Einstellung in der Ethik verbunden ist. Hier haben wir es mit der zweiten Bedeutung des Wortes „gebrauchen“ zu tun, welche – wie wir zuvor bemerkt haben – eine ausgeprägt subjektivistische Färbung besitzt. Eben darum ist sie unentrinnbar verbunden mit der Behandlung von Personen ausschließlich als Mittel zu einem Ziel, als Objekte des Gebrauchs. Die „libidobezogene“ Verzerrung ist eine offene Form des Utilitarismus, während der übertriebene Rigorismus in sich nur gewisse Symptome des utilitaristischen Denkens enthält. Der Rigorismus zeigt diese Symptome sozusagen nur indirekt, während die Libido-Theorie diese offen und direkt zum Ausdruck bringt.

Das ganze Problem besitzt jedoch auch noch einen anderen, nämlich einen sozioökonomischen Hintergrund. Die Fortpflanzung ist eine Funktion des gemeinsamen Lebens der Menschheit, geht es doch um das Bestehen der Spezies Homo sapiens. Sie ist auch eine Funktion des sozialen Lebens in verschiedenen konkreten Gemeinschaften, sozialen Ordnungen, Staaten und Familien. Das sozioökonomische Problem der Fortpflanzung begegnet uns auf vielen Ebenen. Es ist ganz einfach nicht genug, bloß Kinder in die Welt zu setzen: Sie müssen später auch erhalten und erzogen werden. Die Menschheit unserer Zeit ist im Griff akuter Angst, dass sie nicht in der Lage sein wird, mit der natürlichen Zunahme der Bevölkerung ökonomisch Schritt zu halten. Der sexuelle Trieb scheint eine mächtigere Kraft zu sein als die menschliche Vorsorge auf ökonomischem Gebiet. Seit ungefähr zweihundert Jahren wird die Menschheit ­besonders in den zivilisierten Gesellschaften weißer Hautfarbe von der Notwendigkeit gequält, dem sexuellen Trieb und seiner möglichen Fruchtbarkeit Widerstand zu leisten. Dieses Bedürfnis fand Ausdruck in der Lehre von Th. Malthus und wird nach ihm Malthusianismus und in späteren Versionen Neo-Malthusianismus genannt. Wir werden auf die Frage des Neo-Malthusianismus in den Kapiteln III und IV zurückkommen. Der Malthusianismus selbst ist ein besonderes Problem, das wir in diesem Buch nicht im Detail diskutieren werden, da es zum Gebiet der Demografie gehört, welche sich mit dem Problem der tatsächlichen oder möglichen Anzahl von Menschen auf der Erde und in ihren einzelnen Gebieten befasst. Es soll jedoch darauf hingewiesen werden, dass sich der Malthusianismus mit der rein „libidobezogenen“ Interpretation des sexuellen Triebes verbunden hat. Denn wenn die Erde von der Überbevölkerung bedroht ist, wenn die Ökonomen über die „Überproduktion“ von Menschen klagen – bis zu dem Punkt, dass die Erzeugung der Mittel des Lebensunterhalts damit nicht Schritt halten kann, dann sollten wir danach streben, den Gebrauch des sexuellen Triebes zu begrenzen, wobei wir seine objektive Finalität zu beachten haben. Aber jene, die wie Freud bloß den subjektiven Zweck des Triebes wahrnehmen, welcher mit der Libido verknüpft ist und die Betonung darauf legen, werden auch logischerweise auf die volle Bewahrung jenes subjektiven Zwecks abzielen, welcher mit der Lust des Geschlechtsverkehrs verbunden ist, während sie zur selben Zeit den objektiven Zweck, der mit der Fortpflanzung zu tun hat, zu beschneiden oder sogar auszuschalten streben. Ein Problem taucht auf, das die Anhänger der utilitaristischen Denkweise am liebsten als eines von rein technischer Natur ansehen, das aber in der katholischen Morallehre ein durch und durch sittliches Problem darstellt. Das utilitaristische Denken bleibt hier seinen Prinzipien treu: Was von Belang ist, das ist die Maximierung der Lust, welche das Sexuelle in solch großem Maß in der Form der Libido gewährt. Dagegen erhebt die katholische Sexualethik im Namen ihrer eigenen, personalistischen Prämissen Einspruch: Niemand darf das „Kalkül der Lust“ als seinen einzigen Leitfaden heranziehen, wo es um die Beziehung zu einer Person geht: Die Person kann nie ein Objekt des Gebrauchs sein. Das ist der eigentliche Kern des Konfliktes.

Die katholische Ethik ist weit davon entfernt, in einseitiger Weise die demografischen Probleme zu präjudizieren, welche vom Malthusianismus aufgeworfen wurden und deren Schwere von zeitgenössischen Ökonomen bestätigt wird. Die Frage der Geburtenzahl, die Frage nach der Anzahl der Menschen auf Erden oder in bestimmten Gebieten, ist eine von jenen, die der menschlichen Klugheit auf natürlichem Wege zur Beantwortung aufgegeben sind, also der gleichsam vorausblickenden Aufgabe, welche der Mensch als vernünftiges Wesen für sich selbst erfüllen muss, sowohl als einzelner wie auch in Gemeinschaft. Wie zutreffend oder auch nicht die demografischen Schwierigkeiten sein mögen, welche von den Ökonomen angeführt werden: Das ganze Problem des sexuellen Verkehrs zwischen der Frau und dem Mann kann nicht in einer Weise gelöst werden, die der personalistischen Norm widerspricht. Hier haben wir es mit dem Wert der Person zu tun, der für die ganze Menschheit das kostbarste aller Güter ist – unmittelbarer und größer als jedes ökonomische Gut. Es ist daher unmöglich, die Person als solche der Ökonomie unterzuordnen, da ihr eigentlicher Bereich jener der sittlichen Werte ist und diese zuinnerst verbunden mit der Liebe zur Person sind. Der Konflikt zwischen dem sexuellen Trieb und der Ökonomie muss notwendigerweise auch von diesem Blickwinkel aus betrachtet werden, und zwar vor allem aus diesem Blickwinkel.

Dieses Kapitel soll mit einer anderen Reflexion abgeschlossen werden, welche auf einer Ebene mit den Überlegungen zum Trieb liegt. In der elementaren Struktur der menschlichen ­Existenz – und dasselbe trifft auch in der tierischen Welt zu – nehmen wir zwei Grundtriebe wahr: den Selbsterhaltungstrieb und den Geschlechtstrieb. Der Selbsterhaltungstrieb hat, wie der Name anzeigt, seinen Zweck in der Bewahrung und Erhaltung der Existenz eines bestimmten Wesens, eines Menschen oder eines Tieres. Wir kennen viele Erscheinungsweisen dieses Triebes, die wir hier nicht im Detail erforschen müssen. Bei seiner Charakterisierung können wir sagen, dass er insofern egozentrisch ist, als er auf die Existenz des „Ichs“ als solchen zentriert ist (natürlich des menschlichen „Ichs“, da wir kaum vom „Ich“ eines Tieres sprechen können: das „Ich“ geht Hand in Hand mit dem Personsein). Das ist es, was den Trieb der Selbsterhaltung grundlegend vom sexuellen Trieb unterscheidet. Denn wenn er seinem natürlichen Lauf folgt, dann übersteigt der sexuelle Trieb stets die Grenzen des „Ichs“ und hat zu seinem unmittelbaren Objekt ein Wesen des anderen Geschlechts innerhalb derselben Spezies und als sein letztes Ziel die Existenz dieser Spezies. Der objektive Zweck des sexuellen Triebes ist von jener Art, dass in seiner Natur zum Unterschied vom Selbsterhaltungstrieb etwas ist, das man „Alterozentrismus“ nennen könnte. Eben dies schafft die Grundlage für die Liebe.

Nun aber führt die „libidobezogene“ Interpretation des sexuellen Triebes zu einer ganz grundlegenden Verwirrung der Begriffe. Sie stattet den sexuellen Trieb mit einer rein egozentrischen Bedeutung jener Art aus, wie sie natürlicherweise zum Trieb der Selbsterhaltung gehört. Aus demselben Grund setzt sich der Utilitarismus in der Sexualmoral, der mit dieser Interpretation einhergeht, einer möglicherweise größeren Gefahr aus, als man allgemein annimmt: der Gefahr, die grundlegenden und elementaren menschlichen Neigungen durcheinander zu bringen, die Wege der menschlichen Existenz. Eine derartige Verwirrung muss klarerweise die ganze geistige Stellung des Menschen in Mitleidenschaft ziehen. Schließlich bildet der menschliche Geist hier auf Erden eine substanzielle Einheit mit dem Leib, sodass sich das seelische Leben nicht richtig entwickeln kann, wenn die elementaren Linien der menschlichen Existenz in Zusammenhängen, wo der Leib unmittelbar einbezogen ist, hoffnungslos verwirrt sind. Diskussionen und Schlussfolgerungen auf dem Gebiet der Sexualethik müssen in die Tiefe gehen, besonders wenn sie das Gebot der Liebe zu ihrem fixen Orientierungspunkt nehmen.