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Übernatürlichkeit

Karl Hörmann: LChM 1969, Sp. 1241-1249

1. Gott schuldet dem Menschen die Berufung zu dieser Gottesgemeinschaft nicht, er schenkt sie aus Gnade. Schon das AT zeigt, daß Gott sich aus reiner Güte dem Menschen, auch dem schuldig gewordenen, und im besonderen dem auserwählten Volk zuwendet und zu seinem Heil wirkt. „Jahwe, Jahwe, ein gnädiger und barmherziger Gott, langmütig und reich an Gnade und Treue“ (Ex 34,6; vgl. Jes 54,7 f; Hos 2,21 f). „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt; desh. habe ich dir meine Huld bewahrt“ (Jer 31,3). Im NT lehrt Paulus, der ohne jegl. eigenes Verdienst die Berufung zum Christsein und zum Apostelamt empfangen hat („Bin ich doch der geringste unter den Aposteln, der ich unfähig bin, Apostel zu heißen, weil ich die Kirche Gottes verfolgte. Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin“, 1 Kor 15,9 f; vgl. Gal 1,13–16; Röm 1,5), daß der Mensch zu Christus und zum Heil durch ihn durch freie Gnadenwahl Gottes kommt (Röm 5,2.5.15.17.20 f; 8,29; 11,6; vgl. Mt 20,1–16; 22,1–10; Lk 15,4–32). Unter den Vätern vertritt bes. Augustinus die Ungeschuldetheit der christl. Heilsgaben (In Ps 18 en. 2; De pecc. orig. 24.38; Contra duas ep. Pelag. II 2,3; De dono persevon 8,19; PL 36,158; 44,399.573; 45,1003); er unterscheidet zwischen der Gotteskindschaft und dem, was der Mensch vor ihr ist (Ep. 140,4/10; De consensu evon II 4,11; De civon D. XII 9,2; De corrept. et gratia 11, 29.32; PL 33,541; 34,1076; 41,357; 44,933.936). Ebenso stellen andere Väter die Adoptivkinder den Knechten Gottes gegenüber (Athanasius, Or. 2 contra Arian.; Cyrill von Alex., In Jo evon I ad 1,12; Gregor von Nyssa, De beatitud. or. 7; PG 26,273; 73,153; 44,1280; Petrus Chrysol., Serm. 70, PL 52,398 f).

Die Ungeschuldetheit und Gnadenhaftigkeit der christl. Berufung wird bes. im schuldig gewordenen Menschen deutlich. „Gott aber beweist seine Liebe zu uns dadurch, daß Christus für uns starb, als wir noch Sünder waren“ (Röm 5,8). „Wo aber die Sünde sich gehäuft hatte, ist die Gnade noch überschwenglicher geworden“ (Röm 5,20). Wenn der Mensch aber nichts mit Sünde zu tun hätte, müßte Gott ihn dann all dem zuführen, was das NT als gottgewollte Bestimmung des Menschen aufzeigt, oder könnte Gott ihn einem Menschsein überlassen, dem, obwohl es nicht von der Sünde gezeichnet wäre, die christl. Berufung nicht zuteil würde? Für ein solches Menschsein, das man gedankl. durch Heraushebung dessen zu erarbeiten sucht (es handelt sich um eine Hilfskonstruktion), was übrig bleibt, wenn man von der Sündhaftigkeit des Sünders und von der christl. Berufung des Christen absieht, ist der Name „reine (bloße) Natur“ (natura pura) gebräuchl. Wenn Gott den Menschen einem solchen Sein überließe, könnte man nicht sagen, daß es sich nicht um einen echten Menschen handelte; nicht einmal in dem der Sünde verfallenen Menschen ist ja die Gottebenbildlichkeit, die den Menschen als solchen kennzeichnet, ganz verlorengegangen (vgl. Gen 9,6). Daraus ergibt sich, daß Gott nicht nur den Sünder zum Heil in Christus aus Gnade beruft, sondern diese Berufung auch dem von der Sünde freigebliebenen Menschen nicht schuldig wäre. Sie ist Gnade nicht nur für den Sünder, sondern für den Menschen schlechthin; Gott hätte die Möglichkeit, den Menschen auf jenes Menschsein zu beschränken, das N.pura genannt wird. Die christl. Berufung geht über das Wesen der N. pura hinaus, ist im Hinblick auf sie übernatürl.

Der Offenbarung selbst können wir Andeutungen darüber entnehmen, daß die christl. Berufung nicht schon zum Menschsein an sich gehört. Das Wort von der Teilnahme an der göttl. Natur (2 Petr 1,4) weist auf die „kostbaren und größten Verheißungen“ hin, die nicht selbstverständl. zum Menschsein gehören, sondern als besonderes Geschenk anzusehen sind. Die unmittelbare Gottschau überragt jene Erkenntnis Gottes, die für den Menschen als solchen typisch ist, näml. die mittelbare Erkenntnis, die von den sinnl. wahrnehmbaren Geschöpfen ausgeht (Weish 13,5; Röm 1,20; 1 Kor 13,12; 2 Kor 5,7). Das kirchl. Lehramt hat sich wiederholt gegen die Auffasssung gewandt, der Mensch sei zu dem in der Offenbarung gezeigten Ziel nicht aus reiner Gnade berufen, Gott schulde ihm vielmehr diese Berufung. Pius V. verurteilte den Satz von de Bay: „Die Erhöhung der menschl. Natur und ihre Erhebung zur Teilnahme an der göttl. Natur war der Unversehrtheit der Erstbeschaffenheit geschuldet und daher natürl. zu nennnen und nicht übernatürl.“ (D 1921 [1021]; vgl. 1901–1924 1926 1955 1979 2435 2616 3891 [1001–1024 1055 1079 1385 1516 2318]).

Mit dem Hinweis auf die Ungeschuldetheit der Gottesgemeinschaft, die von der Offenbarung als Bestimmung des Menschen aufgezeigt wird, an die Natura pura, in der Gott den Menschen hätte schaffen können, behauptet die kirchl. Lehre nicht, daß der Mensch jemals tatsächl. in der N. pura existiert hätte. Sie weiß vielmehr darum, daß Gott den Menschen von allem Anfang zu einem Endziel bestimmte, das über sein natürl. Verlangen und Vermögen wesentl. hinausging, und mit dem auf dieses Ziel hingeordneten Gnadenleben ausstattete. Dem Menschen war nicht der Stand der bloßen Natur (status naturae purae), sondern der Stand der erhobenen Natur (st. n. elevatae) zugedacht. Durch die Sünde geriet der Mensch in den Stand der gefallenen Natur (st. n. lapsae), der sich mit dem Stand der bloßen Natur im großen und ganzen deckt, jedoch mit dem bedeutsamen Unterschied, daß der Mensch nach Gottes Absicht nicht in diesem Stand sein soll, sondern auf ein übernatürl. Ziel hingeordnet bleibt, zu dessen Erreichung er in diesem Zustand freil. nicht fähig ist. Um die gefallene Natur dazu fähig zu machen, bedarf es der Erlösung durch Christus, durch die der Mensch in den Stand der im übernatürl. Leben wiederhergestellten Natur (st. n. reparatae) versetzt wird. Somit ist der Mensch immer von einem „übernatürl. Existential“ (K. Rahner) gezeichnet, d.h., er hat immer eine übernatürl. Bestimmung.

2. Wenn das tatsächl. Ziel des Menschen übernatürl. ist, ergibt sich, daß es vom Menschen mit seinen natürl. (im Sinne der N.pura) Fähigkeiten nicht gefunden werden kann. Die natürl. Vernunft kann nur das erkennen, wofür sie in der Natur einen Ansatzpunkt hat; der fehlt aber beim übernatürl. Ziel. Zur Erkenntnis seines tatsächl. Zieles kann der Mensch nur durch die Offenbarung gelangen. Nach Thomas von A. ist die Offenbarung eben desh. notwendig, „weil Gott den Menschen für ein Ziel bestimmt hat, das die Fassungskraft der Vernunft übersteigt“ (S.Th. 1 q.1 a.1). Das 1. Vat. Konz. lehrt, daß manche relig. Wahrheit, die der Vernunft zugängl. ist, durch die Offenbarung dem Menschengeschlecht leichter, sicherer und irrtumsfreier dargeboten wird, und fährt fort: „Nicht aus diesem Grunde jedoch ist die Offenbarung absolut notwendig zu nennen, sondern weil Gott aus seiner unendl. Güte den Menschen auf ein übernatürl. Ziel hingeordnet hat, nämlich an seinen Gütern teilzunehmen, die das Verständnis des Menschengeistes vollkommen überschreiten“ (D 3005 [1786]; vgl. 2851 2854 [1669 1671]). Das Konz. kann sich dabei auf Paulus berufen: „(Wir verkünden) wie geschrieben steht: was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört und was in keines Menschen Herz gedrungen ist, alles, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben. Denn uns hat es Gott geoffenbart durch den Geist“ (1 Kor 2,9 f).

II. Wir müssen uns jedoch daran erinnern, daß der Mensch niemals in der Natura pura existiert, sondern immer unter dem „übernaürl. Existential“ und damit auch unter dem Einfluß der Gnade Gottes steht. Konkret läßt sich daher kaum scheiden, welche Erkenntnisse und Betätigungen des Menschen auf das Ziel hin der Natur und welche der Übernatur zuzuweisen sind. Man muß mit der verborgenen Wirksamkeit der Gnade im Leben eines anscheinend nur „natürlich“ denkenden und sich betätigenden Menschen rechnen. Sein Denken und Tun kann eine „übernatürliche“ Bedeutsamkeit haben, die nicht offen zutage tritt. Die Moraltheologie schätzt die Erkenntnisse nicht gering, die von der Moralphilosophie anscheinend mit nur natürl. Mitteln gewonnen werden, wenn sie auch ihre Bruchstückhaftigkeit nicht übersieht.

1. Die Philosophie kann z.B. mit Thomas von A. (S.Th. 1,2 q.1 aa.5.6) darauf verweisen, daß der Mensch in der Wahl seiner subjektiven Ziele frei ist, aber ein Ziel nur anstreben kann, wenn es ihm als etwas Gutes erscheint. Die materielle Seite des menschl. Begehrens (wo das Gute gesucht wird) ist frei, die formale Seite (daß es gesucht wird) gehört unentrinnbar zum Wesen des Menschen. „Niemand ist ohne Liebe – es fragt sich nur, was einer liebt“ (Augustinus, Sermo 34,1/2, PL 38,210). Die Tatsache nun, daß der Mensch verschiedene Gegenstände begehrt, zeigt, daß er in keinem das Gute in voll befriedigendem Maß findet. Die formale Seite des menschl. Begehrens weist über die vielen Einzelziele, die sich der Mensch setzen kann, hinaus nach dem vollkommen sättigenden Gut; dem Begehrenden muß dies freil. nicht zum Bewußtsein kommen. So gehört die Ausrichtung auf das vollkommene Gut zur Bestimmung des Menschen. Diese metaphysische Ausrichtung des menschl. Willens auf das vollkommene Gut hin macht sich psychisch in einer Unruhe des Menschen bemerkbar. Solange er das vollkommene Gut nicht hat, ist er unruhig; erst wenn er es erreicht hat, kann er im erreichten Gut genießend ruhen oder glückl. sein. So erscheint unter psychologischem Gesichtspunkt die Glückseligkeit als Endziel des Menschen, und die Geschichte der Philosophie zeigt, daß dieses Ziel zu allen Zeiten anerkannt und angestrebt, wenn auch inhaltl. verschieden gedeutet wurde. Nach Augustinus verfolgt der Mensch immer und in allem seine Seligkeit als letztes Ziel (De beata vita 2,10; De musica III 8,23; De mor. eccl. cath. I 3,4; Sermo 150,3/4; De Trin. XIII 3 f, 6 f; PL 32,964.1282.1312; 38,809; 42,1017.1019). Es gibt niemanden, der nicht glückl. werden will (Sermo 306,3, PL 38,1401). Der Kirchenvater ist überzeugt, daß dieses Verlangen nicht sinnlos ist (Contra Iul. Pel. IV 3,19, PL 44,747), daß es in Gott als dem höchsten Gut erfüllt wird (De civon D. X 2,3; PL 41,280). Auch Thomas von A. lehrt, daß das letzte Ziel, in dem der Mensch seine Vollendung und Seligkeit findet und über das hinaus er nichts mehr erstrebt, nicht im Reichtum zu finden sei, noch in Ehren, im guten Ruf, in der Macht, in irgendeinem körperl. Gut, in der Lust; diese Vervollkommnung liegt zwar in der Seele, wird aber durch ein Sein herbeigeführt, das außerhalb der Seele steht, nicht durch ein geschaffenes Gut, sondern durch das ungeschaffene Gut selbst (S.Th. 1,2 q.2 aa.1–8; q.3 a.1).

Wenn Augustinus und Thomas so das volkommene Gut, in dem allein der Mensch vollkommen selig werden kann, mit Gott gleichsetzen, in dessen unmittelbarer Schau das Glücksverlangen des Menschen erfüllt werde, kann man mit Recht fragen: Wissen sie das aus rein natürl. Erkenntnisquellen oder stehen sie dabei unter dem Einfluß der Offenbarung und der Gnade?

Im Gewissen werden dem Menschen sittl. Weisungen bewußt. Durch diese Erfahrung wird er zur Frage angeregt, warum und wozu er durch diese Weisungen gebunden ist. Durch sehr mühsame Analysen, die der Gefahr von Fehldeutungen in hohem Maß ausgesetzt sind, kann er sich an die Wahrheit herantasten.

Das ist eben das Bild des philos. Forschens nach dem Ziel des Menschen: neben vielen Fehlversuchen da und dort ein Herantasten an die Wahrheit. Selbst hinsichtl. der relig. Wahrheiten, die an sich der menschl. Natur zugängl. sind, hat die Offenbarung eine Aufgabe: ihre Erkenntnis zu erleichtern, zu festigen, gegen Irrtum zu schützen (D 3005 [1786]).

2. Auch die Wahrheit, daß der Mensch in sich selbst den Ansatz zu seinem wahren Sein findet, das er in beständigem Streben zu verwirklichen hat, ist der Philosophie nicht entgangen. Pindar konnte einst fordern: „Werde, der du bist!“ Heute verlangt das existentialistische Ethos, der Mensch solle sich in beständigem Werden erhalten, solle sich nirgends festsetzen, sondern immer in Bewegung bleiben und so die Möglichkeiten seines eigenen Seins verwirklichen. Freil. gibt man ihm vielfach für sein rastloses Wandern kein Ziel an (Nietzsche entwirft selbst das Bild des „Übermenschen“, auf das hin der Mensch unruhig sein soll). Wie sehr unterscheidet sich davon das Ethos eines hl. Augustinus, der dem Menschen das Wandern nicht erspart, aber ihn schließl. in Gott ans Ziel kommen läßt (christl. Existentialismus; Kierkegaard, G. Marcel). Aber auch hier muß man wieder fragen, ob Augustinus vom Enden des Wanderns in Gott als Philosoph (aus natürl. Erkenntnis) oder als Theologe (unter dem Einfluß der Offenbarung) spricht.


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