www. St Josef.at
Die katholische Informationsseite der Gemeinschaft v. hl. Josef
Navigation

Die Familie in der Naturrechtstheorie Johannes Messners
Vortrag beim Johannes-Messner-Symposion („Naturrecht und Neuevangelisierung“) am 27./28. September 2013 im Schottenstift in Wien

Josef Spindelböck

Hinweis/Quelle: Herbert Pribyl / Christian Machek (Hg.), Das Naturrecht. Quellen und Bedeutung für die Gegenwart, Heiligenkreuz 2015, 87–100

Wer ist der Mensch?

Bereits die großen Denker der Antike – insbesondere die griechischen Philosophen Sokrates, Plato und Aristoteles – wurden von der Frage umgetrieben: „Wer ist der Mensch?“[1]

Bis heute gehört es zu den unüberbietbaren Pionierleistungen des philosophischen Forschens und Entdeckens (das als Dialog von Frage und Antwort aus dem Staunen geboren wird), den Menschen als ein zugleich vernünftiges (oder besser: vernunftbegabtes) und gesellschaftlich orientiertes Lebewesen „definiert“ zu haben.[2] Diese Ortsbestimmung des Menschen weist ihm seinen Platz innerhalb der sinnenhaften Lebewesen zu, denen er im Hinblick auf seine leibliche Verfasstheit angehört, die er aber zugleich kraft seiner geistigen Fähigkeiten nicht nur graduell, sondern wesenhaft überragt.

Wenn wir von der Wesensbestimmung des Menschen ausgehen, dann liegt gerade darin jenes Gemeinsame und Verbindende, das Personen unterschiedlicher Fähigkeiten und Charakteristika im gleichen Menschsein vereint. Die „natura humana“ als das Wesen des Menschen ist gleichsam jene Konstante, die uns alle zu einer einzigen Menschheitsfamilie gehören lässt und welche die einzelnen Menschen in der Gleichheit ihrer Würde verbindet. Diese Würde kommt jedem Menschen kraft seines Menschseins zu und besteht unabhängig davon, ob der konkrete Mensch bestimmte Fähigkeiten aktualisieren kann oder ob er daran durch Krankheit und Behinderung vorübergehend oder auf Dauer gehindert ist.[3]

Der Naturrechtslehrer Johannes Messner (1891–1984) hat sich auf erfahrungsgemäßer Grundlage mit all diesen Fragen in der lebendigen Weiterführung einer „philosophia perennis“ beschäftigt.[4] Er hat insbesondere in der Formulierung und Beschreibung der existentiellen Zwecke des Menschen all das bekräftigt und entfaltet, was die großen Philosophen in Hinblick auf die Rationalität und Sozialität des Menschen als dessen Wesensbestimmung herausgestellt hatten.

Messner benennt die Grundrichtungen oder Grundstrebungen des Menschseins und zeigt damit eine Ordnung des menschlichen Strebens nach Zielen auf, die dem Menschsein gleichsam eingeschrieben sind. Diese Ordnung erlaubt in ihrer konkreten Verwirklichung zugleich eine bemerkenswerte Offenheit und Fülle existenzieller Festlegungen.[5] Johannes Messner beschreibt in Weiterführung der Lehre des hl. Thomas von Aquin von den „inclinationes naturales“[6] in den existenziellen Zwecken die Erfahrungsgrundlage für das theoretische und angewandte Naturrecht. Diesen Zwecken entsprechen gewisse Triebneigungen im Menschen, die sowohl sinnlicher als auch geistiger Natur sein können.

Johannes Messner fasst die existenziellen Zwecke des Menschseins, welche sowohl Rechte als auch Pflichten begründen, folgendermaßen zusammen und benennt

  • „die Selbsterhaltung einschließlich der körperlichen Unversehrtheit und der gesellschaftlichen Achtung (persönliche Ehre);
  • die Selbstvervollkommnung des Menschen in physischer und geistiger Hinsicht (Persönlichkeitsentfaltung) einschließlich der Ausbildung seiner Fähigkeiten zur Verbesserung seiner Lebensbedingungen sowie der Vorsorge für seine wirtschaftliche Wohlfahrt durch Sicherung des notwendigen Eigentums oder Einkommens;
  • die Ausweitung der Erfahrung, des Wissens und der Aufnahmefähigkeit für die Werte des Schönen;
  • die Fortpflanzung durch Paarung und die Erziehung der daraus entspringenden Kinder;
  • die wohlwollende Anteilnahme an der geistigen und materiellen Wohlfahrt der Mitmenschen als gleichwertiger menschlicher Wesen;
  • gesellschaftliche Verbindung zur Förderung des allgemeinen Nutzens, der in der Sicherung von Frieden und Ordnung sowie in der Ermöglichung des vollmenschlichen Seins für alle Glieder der Gesellschaft in verhältnismäßiger Anteilnahme an der ihr verfügbaren Güterfülle besteht;
  • die Kenntnis und Verehrung Gottes und die endgültige Erfüllung der Bestimmung des Menschen durch die Vereinigung mit ihm.“ [7]

 

Die Entfaltung des Menschseins in Ehe und Familie

Die hier referierten existenziellen Zwecke lassen die menschliche Person in ihrer Individual- und Sozialnatur als zugleich leibliches und geistiges Wesen erkennen. Einer dieser Zwecke hat direkt mit Ehe und Familie zu tun, wenn Johannes Messner „die Fortpflanzung durch Paarung und die Erziehung der daraus entspringenden Kinder“ benennt. Diese etwas biologistisch anmutende Sprachform könnte den Wesensunterschied des Menschen zum Tier gerade im Bereich von Sexualität und Fortpflanzung verdecken. Dass dies jedoch von Messner nicht intendiert ist, zeigen seine Ausführungen immer dort, wo die Wirklichkeit von Ehe und Familie in seinen Schriften zur Sprache kommt[8], und auch, wo er den Geschlechtstrieb als solchen in seiner machtvollen Dynamik beschreibt und analysiert.[9]

Außerdem ist es nötig, die Verwirklichung aller existenziellen Zwecke in einen Bezug zur Wirklichkeit von Ehe und Familie zu stellen. So erweist sich die menschliche Familie, welche auf die Ehe zwischen Mann und Frau gegründet ist, als ursprünglicher Lern- und Entfaltungsort des Menschen in seiner Personalisation und Sozialisation. Von Anfang an ist das Kind auf die liebende Annahme durch andere Menschen angewiesen (im Normal- und Idealfall eben zuerst durch die Eltern), um sich entfalten zu können. In der Familie erlernt das Kind die Einsicht in wesentliche sittliche Forderungen, und zwar als Weg zur Selbstverwirklichung; dies jedoch nicht auf egoistische Weise, sondern in der Form der Selbsthingabe aus Liebe, also gerade im Bezug zu anderen Menschen: sowohl innerhalb als auch außerhalb der eigenen Familie.[10] So wird das Gewissen gebildet, und der junge und später erwachsene Mensch erwirbt die Fähigkeit, sich in immer größerer Selbständigkeit auf das sittlich Gute hin zu orientieren. Johannes Messner sieht die in der Familie zu verwirklichende Bildung des Wertsinnes und des Wertgewissens als entscheidend an, damit Kinder und heranwachsende junge Menschen den Verlockungen einer auf Genuss und Egoismus ausgerichteten Welt widerstehen können.[11] In der Erfahrung der Liebe innerhalb der Familie gewinnt das Kind Einsicht in die elementaren sittlichen Prinzipien wie die „Goldene Regel“ und das Gebot der Nächstenliebe.[12] Die humanen Werte „der gegenseitigen Achtung und Liebe, der Ehrlichkeit und Gerechtigkeit, der Wahrhaftigkeit und Treue gegeneinander, der Sorge und der Opferbereitschaft füreinander, des Einstehens und Arbeitens aller für das gemeinsame Beste“[13] stehen im Familienkreis in unbedingter Geltung und bilden den Grundbestand der Gemeinwohlwerte. Auch der bewusste Vollzug des Gottesbezugs des Menschen wird durch die Vermittlung der elterlichen Liebe und Autorität in wesentlicher Weise grundgelegt.

Ausführlich analysiert Johannes Messner die Dynamik des menschlichen Geschlechtstriebs.[14] Dabei geht es um die sexuelle Anziehungskraft zwischen Mann und Frau und die sittlich verantwortliche Formung der geschlechtlichen Dynamik durch die personale Liebe. Der aufbauende Sinn des Geschlechtstriebs lässt sich zuerst in seiner gewaltigen erzieherischen Kraft für junge Menschen als Antrieb zur Charakterbildung auf das Edelste und Höchste hin beschreiben[15], dann in seiner natürlichen Hinordnung auf das Ehe- und Familienleben, in welchem alle menschliche Kultur und auch die Religion wurzeln[16], schließlich in der Umleitung seiner Dynamik zur Verwirklichung geistiger Werte, was Sigmund Freud als „Sublimierung“ bezeichnet hat.[17]

Destruktiv wirken die „Verdrängung“, aber auch die Verabsolutierung der Sexualität sowie ihre fehlgeleitete Verwirklichung (z.B. in ehelicher Untreue), vor allem aber der Pansexualismus, welcher die Wertewelt und Lebensanschauung vieler Menschen primär von der sexuellen Sphäre her definiert.[18] Manche meinen, die sexuelle Triebspannung müsse ihre Energie wie durch ein Ventil entladen können. Dies sei jedoch der falsche Weg, da auf diese Weise die Sexualität von der Persönlichkeit isoliert werde.[19] Auch wenn dies im Einvernehmen mit dem andersgeschlechtlichen Partner geschehe, liege darin eine gegenseitige Instrumentalisierung der Personen; der andere Mensch wird zu einer „vertretbaren Sache“.[20] Eine wirkliche „Ausbalancierung“ sei nur möglich, wenn die „Gesamtdynamik der die menschliche Existenz konstituierenden Triebe“[21] gestärkt wird, sodass „sie der des Geschlechtstriebes die Waage zu halten vermag.“[22]

Ausdrücklich wendet sich Johannes Messner in diesem Zusammenhang gegen antiquierte, anthropologisch und ethisch verfehlte Theorien, welche dem jungen Mann vor der Ehe eine relativ große sexuelle Freizügigkeit zugestehen, diese Freiheit aber der noch nicht verheirateten jungen Frau verwehren. Erstens gilt für beide Geschlechter die gleiche Anforderung der Sittlichkeit, und zweitens führt eine solche Freizügigkeit keineswegs zu einer besseren Garantie für die eheliche Stabilität und Treue, wie sich auch empirisch nachweisen lässt.[23] Von einer geschlechtlichen „Liebe“ (die in Wirklichkeit nicht Liebe ist, sondern Egoismus) sei die geschlechtsgebundene Liebe zu unterscheiden, „die das eigene und das andere Selbst in ihrer ganzen Existenz mit dem Geschlechtlichen als einer der bewegenden und bindenden Kräfte einbezieht.“[24] In dieser Liebe zeige sich die schöpferische „Grundkraft der menschlichen Existenz“.[25] Das soziale Grundgesetz, das auch für den Bereich der geschlechtsgebundenen Liebe gilt, besteht nach Johannes Messner in der „Achtung des Mitmenschen nach dem Maß der eigenen Selbstachtung“.[26] Nur auf seiner Grundlage sei wahre Hingabe an die geliebte Person und wahre Vereinigung mit ihr möglich und könne eine einseitige oder gegenseitige Instrumentalisierung ausgeschlossen werden.[27]

Das Schamgefühl, das sich beim heranwachsenden Menschen verstärkt in jener Zeit zeigt, in der er mit den geschlechtlichen Gegebenheiten konfrontiert wird, ist ein Kennzeichen des spezifisch Menschlichen gegenüber dem Tier und bedarf der Bildung und Kultivierung.[28] Die Scham sei generell ein „Gefühl der Erniedrigung des Menschen auf Grund des Bewusstseins einer seiner selbst unwürdigen Handlung oder Lage.“[29] Die geschlechtliche Scham sei ein Teil der Scham im Allgemeinen und bestehe in einem „Gefühl der Erniedrigung angesichts des Unvermögens in der Kontrolle äußerer geschlechtlicher Erregung“, da sich der „Mechanismus des Geschlechtstriebes … teilweise der bewussten und selbstbestimmenden Herrschaft des Menschen“ entziehe.[30] Vom natürlichen Schamgefühl, das noch keine sittliche Tugend, wohl aber bereits „der Ausdruck des menschlichen Bewusstseins von der Würde seiner Existenz“ ist, unterscheidet Johannes Messner die Schamhaftigkeit als Tugend, „nämlich die Achtsamkeit im eigenen Benehmen, um eine Erregung natürlichen Schamgefühls im eigenen Selbst oder im anderen zu vermeiden.“[31]

Johannes Messner definiert die Ehe als die „rechtmäßige, dauernde Lebens- und Geschlechtsgemeinschaft von Mann und Frau.“[32] Als treibende Kraft der Verbindung von Mann und Frau sieht er die geistige und körperliche Liebe an.[33] Sowohl ihr Individualzweck, nämlich die persönliche Vollendung der Liebenden, als auch ihr Sozialzweck, nämlich die „Aufzucht der Kinder“, sollen in der Ehe verwirklicht werden.[34] Eben deshalb gibt es den Ehevertrag betreffende Bedingungen, die bereits durch die Natur festgelegt und der Willkür der Ehepartner entzogen sind, nämlich die Einheit und Unauflöslichkeit der Ehe.[35]

In der Ehe soll sich die geschlechtsgebundene Liebe in drei Dimensionen der menschlichen Existenz schöpferisch erfüllen: Die Ehe ist zwar mehr als eine bloße Geschlechtsbeziehung; dennoch müsse erstens eine Harmonisierung des Geschlechtslebens der Ehepartner hergestellt werden, und zwar durch Kräfte der Liebe[36], die „letztlich aus der geistigen Substanz der Persönlichkeit genährt sein muss.“[37] Zweitens geht es in der Ehe um die Verwirklichung einer Liebe der Freundschaft, also um die wahre seelische Einheit der Gatten in guten Zeiten, aber auch in Schwierigkeiten. Spannungen sollen dabei im Kraftfeld der Liebe nicht einfach neutralisiert werden, sondern für das weitere Reifen der in Liebe verbundenen Persönlichkeiten ins Schöpferische gewendet werden.[38] Die dritte Dimension der Ehe ist die elterliche (Vater, Mutter, Kinder): Diese ist, wie Messner anmerkt, „von der menschlichen Natur in einer für den Menschen so unzweifelhaften Art als Zweck der geschlechtlichen Verbindung vorgezeichnet“.[39] Eine solche Aufgabe geht weit über das Biologische hinaus und zeigt erneut den Unterschied des Menschen gegenüber dem Tier.[40] Damit öffnet sich die Ehe zur Familie.

Die Familie ist nach Johannes Messner die „Gemeinschaft der Eltern mit ihren Kindern“ und damit das erste und wichtigste Gesellschaftsgebilde[41], welches in seinen natürlichen Rechten vom Staat anerkannt werden muss.[42] Der Zweck der Familie ist dreifach: die Versorgung ihrer Glieder durch Bereitstellung der nötigen Güter für Körper und Geist, die Erziehung der Kinder sowie die Zelle der Gesellschaft zu sein.[43] Somit ist die Familie Lebensgemeinschaft, Wirtschaftsgemeinschaft, Erziehungsgemeinschaft, Hausgemeinschaft und Zelle der Gesellschaft.

Die Familienautorität steht beiden Eltern gemeinsam zu und wird am besten einvernehmlich ausgeübt. Wo es keine Einigung der Gatten gibt, ruht die Autorität der Entscheidung nach Johannes Messner „in der Regel beim Vater“; dies sehe die Natur so vor.[44]

Eine Gefährdung der Familie durch Ideologien und ihre gesellschaftspolitischen Auswirkungen sieht Messner sowohl im Individualismus, in dessen Konzept einer schrankenlosen Freiheit des einzelnen die Familie als Größe eigenen Rechts im Prinzip nicht mehr vorkommt, als auch im Kollektivismus, der die Familie in ihrer Erscheinungsform und in ihrem Wirken gänzlich dem sozioökonomischen Prozess unterordnet und so ihr Eigenrecht zerstört.[45]

Als Lebensgemeinschaft[46] ist die Familie, wie Johannes Messner im Anschluss an Aristoteles definiert, eine „von der Natur eingerichtete Gemeinschaft zur Vorsorge für die Bedürfnisse des täglichen Lebens“[47]. Dazu zählt alles, was mit der Ermöglichung und Hebung einer echten Familienkultur verbunden ist, d.h. sowohl die Verwirklichung materieller als auch geistiger und religiöser Werte.[48]

Dies alles lässt die Familie auch als Wirtschaftsgemeinschaft[49] hervortreten, selbst wenn sich die ökonomischen Voraussetzungen und Strukturen des familiären Erwerbs von Eigentum und Einkommen sowie dessen Verwaltung im Lauf der Geschichte geändert haben. Messner erinnert an das naturrechtliche Prinzip, „dass der nichtbegüterte Mann, sobald er voll arbeitsfähig ist, zu einem Einkommen durch Beteiligung an der sozialwirtschaftlichen Kooperation berechtigt ist, mit dem er eine Familie gründen und erhalten kann.“[50] Eine entsprechende Familienpolitik vonseiten des Staates wird nicht nur den Forderungen der distributiven Gerechtigkeit nachkommen müssen, sondern entsprechend der Gemeinwohlnorm aktiv und gezielt die Familie als biologischen, moralischen und kulturellen Lebensgrund der Gesellschaft zu fördern haben.[51] Wesentlich dabei ist die subsidiär zu ermöglichende Sicherung des Familieneinkommens durch Steuerpolitik, staatliche Beihilfen und Ausgleichszahlungen sowie durch Hilfen nichtstaatlicher Organisationen im Rahmen der privaten Familienfürsorge.[52]

Die Familie ist nach Johannes Messner die ursprüngliche Erziehungsgemeinschaft[53], da in ihr erstens die Eltern durch das Familienleben, zweitens die Kinder durch die Eltern und drittens die Geschwister durch gegenseitigen Einfluss erzogen werden.[54] Das Erziehungsrecht der Eltern besteht von Natur aus und kann in gewissem Rahmen delegiert werden an mitwirkende Personen und Institutionen, doch ist dies immer nur entsprechend dem Gesetz der Subsidiarität zulässig.[55] Das Ziel der Erziehung ist es letztlich, die Kinder „zur Erfüllung ihrer wesentlichen Lebensaufgaben (existentiellen Zwecke), namentlich der religiösen und sittlichen, kraft eigener Verantwortung“ zu befähigen.[56]

Zur Wahrnehmung ihrer vielfältigen Aufgaben als Lebens-, Wirtschafts- und Erziehungsgemeinschaft muss die Familie auch Hausgemeinschaft[57] sein, und zwar in dem Sinne, dass ihr ein den Bedürfnissen entsprechendes Heim zur Verfügung steht. Von daher ergeben sich auf naturrechtlicher Grundlage, jedoch angepasst an die Umstände von Ort und Zeit, bestimmte Forderungen hinsichtlich einer adäquaten Familienwohnung und einer entsprechenden Wohnungspolitik. Auch hier gilt es die Eigenverantwortung der Familien zu stärken und das private Eigentum an Grund und Boden zu fördern.[58]

Die Familie ist die biologische, moralische und kulturelle Zelle der Gesellschaft.[59] Deshalb muss jede Sozialreform zuerst und hauptsächlich bei der Erneuerung der Familie ansetzen; der Verfall der Familien ist ein Zeichen des moralischen und kulturellen Niedergangs.[60] Eine Normalfamilie sollte nach Messner eine durchschnittliche Kinderzahl von drei bis vier aufweisen, damit die Regenerationsfähigkeit eines Volkes auf Dauer gegeben ist.[61] Ausdrücklich abgelehnt werden künstliche Mittel der Geburtenkontrolle wie die Sterilisierung als „die zwangsweise wie auch die freiwillige zeitweilige oder dauernde Unterbindung der Zeugungsfähigkeit als Mittel der Eugenik“[62], ebenso Abtreibung und Empfängnisverhütung.[63]

Auch der erweiterten Familie widmet Messner seine Aufmerksamkeit: in der traditionellen Sicht geht es beim Verhältnis der Familie zum „Hausgesinde“ nicht nur um ein Dienstverhältnis nach Art eines Arbeitsvertrags, sondern um ein Treueverhältnis.[64] Weil Eltern den starken Wunsch haben, auch über ihren Tod hinaus ihren Kindern eine Hilfe zu sein, steht ihnen das Recht der Verfügung über ihren Besitz in einer Weise zu, dass sie ihrer Verantwortung für das Wohl der Familienangehörigen entsprechen können (Familienerbfolge).[65]

Im Hinblick auf die Frauenfrage merkt Johannes Messner an: Die Frau hat als soziales Wesen besondere Aufgaben und daher auch besondere Rechte; daher ist eine absolute Gleichstellung von Mann und Frau, wie sie sowohl der Individualismus als auch der Kollektivismus in je unterschiedlicher Weise vertreten, naturrechtlich ausgeschlossen. Weder dürfe die Frau am Mann noch der Mann an der Frau gemessen werden, denn beide haben ihre je besonderen Anlagen und Aufgaben.[66] All das, was die Aufgabe der Frau als Familienmutter beeinträchtigt, ist gegen das Naturrecht. „Die Mutter gehört in die Familie.“ Dieses Prinzip ist jedoch nach Messner etwas anderes als die in seinen Augen veraltete Maxime: „Die Frau gehört ins Haus.“ Messner anerkennt Formen der außerhäuslichen Arbeit der Frau, die sich mit ihrem Dasein als Familienmutter in Einklang bringen lassen.[67] Gemäß dem Äquivalenzprinzip gebührt der Frau die gleiche Entlohnung, wo gleiche Leistungen vorliegen. Insofern die Frau am öffentlichen und politischen Leben teilnimmt, steht ihr sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht zu.[68]

Die Erziehung zur Familie umfasst nicht nur ihre ökonomische Förderung, sondern vor allem ihre sittlichen und kulturellen Aspekte. Dies sei in der modernen Pädagogik oft verloren gegangen, müsse jedoch neu entdeckt werden.[69] Weit über das hinausgehend, was man als „Aufklärung“ bezeichnet, schließt eine derartige Erziehung ein Bewusstmachen des jungen Menschen im Hinblick auf „die Wertwelt der Persönlichkeit und der Kultur in ihrer Beziehung zu seiner erregten Vitalität und zu der schöpferischen geschlechtsbedingten Liebe“ ein, die auch in der Lage ist, den positiven Sinn von Opfer und Verzicht darzulegen.[70] Nur so gelingt eine Ausbalancierung bzw. eine Sublimierung des Geschlechtstriebes.

 

Existenzerfüllung über die Ehe hinaus

Der individuelle Mensch ist in seiner tatsächlichen Wesenserfüllung nicht von der Befriedigung des Geschlechtstriebes abhängig: Aus verschiedenen Gründen bleibt manchen Menschen die Ehe versagt, und sie leben enthaltsam. Weder biologisch noch psychologisch ergeben sich zwangsläufig Schädigungen aus der gelebten sexuellen Enthaltsamkeit[71], sodass „im Durchschnitt die in geschlechtlicher Enthaltsamkeit Lebenden zu nicht geringerer Persönlichkeitsentfaltung zu gelangen vermögen als die Verheirateten.“[72] In der Sublimierung der Dynamik des Geschlechtstriebes gehe es nicht um dessen Ignorierung oder Unterdrückung, sondern um eine Umleitung seiner Kräfte und dessen Indienstnahme für eine Dynamik hin auf die „überdauernden Werte der menschlichen Person im einzelmenschlichen und im gesellschaftlichen Leben“[73]. Dies ist nach Messner nur möglich durch ein beachtliches Maß an Selbstdisziplin. Nicht nur „Abtötung“ sei erforderlich, sondern ein Ganzeinsatz der zur Verfügung stehenden geistigen Energien auf Ziele hin[74], die es dem Menschen „wert sind, dass er ihnen ein Vollmaß solcher Kräfte widmet.“[75] Dabei sind die religiösen Werte und Inhalte in besonderer Weise hervorzuheben.[76]

 

Abschließende Würdigung der Naturrechtslehre von Johannes Messner im Hinblick auf Ehe und Familie

Wie generell in seiner Naturrechtslehre bezieht sich Johannes Messner auch im Bereich von Ehe und Familie auf das, was gemäß der Erfahrung und Vernunfteinsicht des Menschen ideal und normativ eben zu diesem seinem Menschsein gehört, was also dessen Menschenwürde ausmacht. Zugleich ist seine Naturrechtslehre nicht auf ein abstraktes Menschsein festgelegt, sondern gerade in ihrer Universalität offen für die individuelle und konkrete Person.

Ehe und Familie sind die grundlegende Einheit (d.h. die „Zelle“) der Gesellschaft. In ihr werden die Sozialbeziehungen der menschlichen Person wertmäßig grundgelegt; von daher ausgehend können sie sich weiter entfalten. Ehe und Familie sind in ihrer spezifischen Leistung (also in ihrer „Funktion“) bezogen auf das Wohl der einzelnen und das der Familiengemeinschaft, ja der Gesellschaft insgesamt.

Wenn es gilt, bestimmte Wesenskonstanten der ehelichen und familiären Gemeinschaft zu betonen (wie das Mann- und Frau-Sein, die eheliche Treue, den unauflöslichen Bestand des Ehebandes und dessen bleibende Offenheit für Kinder), dann bedeutet dies nicht eine Einengung des Menschseins und ein Hindernis für dessen freie Entfaltung, sondern benennt die für die Entfaltung der Einzelpersönlichkeit, aber auch die für das Gedeihen des familiären und sozialen Lebens nötigen Entwicklungsbedingungen. Von daher darf mit Johannes Messner auch angesichts heutiger Herausforderungen festgehalten werden: In der Stärkung der Familien liegt die Zukunft der Gesellschaft; in ihr finden wir das größte Potential für Humanität und echten Fortschritt.

 

[1] Vgl. dazu umfassend: Emmerich Coreth, Was ist der Mensch? Grundzüge einer philosophischen Anthropologie, Innsbruck – Wien – München 1973.

[2] Wenn Aristoteles den Menschen als „zoon logikon“ (deutsch: ein vernünftiges Wesen, lat. „animal rationale“) und dann auch als ein „zoon politikon“, als ein „soziales (oder: politisches) Wesen“ (lateinisch: „ens sociale“) bezeichnet, dann fasst er in philosophischer Sprache eine Grundeinsicht des Menschseins zusammen, die einem jeden Menschen prinzipiell zugänglich ist, auch wenn sie gewiss nicht alle zum Thema einer ausdrücklichen wissenschaftlichen Reflexion machen können und müssen, um ihren Lebenswert zu begreifen. Vielmehr erschließt sich das Gemeinte unmittelbar im praktischen Vollzug des gelebten Menschseins. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik I 13; Politik, I 2 1252b; III 6 1278 b; Cicero, De re publica, I 25,39.

[3] Vgl. Eberhard Schockenhoff, Pro Speziesargument: Zum moralischen und ontologischen Status des Embryos, in: Gregor Damschen u.a. (Hg.), Der moralische Status menschlicher Embryonen. Pro und contra Spezies-, Kontinuums-, Identitäts- und Potentialitätsargument, Berlin 2003, 11–33.

[4] Zur grundlegenden Methode Johannes Messners vgl. Gerhard Höver, Erfahrung und Vernunft. Untersuchungen zum Problem sittlich relevanter Einsichten unter besonderer Berücksichtigung der Naturrechtsethik von Johannes Messner, Düsseldorf 1981.

[5] Vgl. Josef Spindelböck, Von den Zielen des Menschseins. Anregungen zu einer Kriteriologie des Sittlichen im Rahmen der Sozialethik, in: Theologisches 34 (2004) 395–404.

[6] Vgl. Thomas von Aquin, STh I-II q.94 a.2.

[7] Johannes Messner, Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, Berlin 19847, 42 (kursive Hervorhebungen nicht im Original). In kurzen Schlagworten können die existenziellen Zwecke bezeichnet werden als Selbsterhaltung, Selbstvervollkommnung, Kunstfähigkeit, Familiarität, Mitmenschlichkeit, Staatlichkeit und Religiosität: vgl. Lothar Roos, Entstehung und Entfaltung der modernen Katholischen Soziallehre, in: Anton Rauscher (Hg.), Handbuch der Katholischen Soziallehre, Berlin 2008, 103–124, hier 112 („Johannes Messner und das Naturrecht“).

[8] Im 1. Teil des 2. Buches seines Hauptwerkes „Das Naturrecht“ geht Johannes Messner in systematischer Weise auf „Die Familie“ ein (a.a.O., 529–589), ebenso im 5. Buch („Gesellschaftsethik“) des Werkes „Ethik. Kompendium der Gesamtethik“ (Innsbruck-Wien-München 1955, 299–321).

[9] Vgl. Johannes Messner, Widersprüche in der menschlichen Existenz. Tatsachen, Verhängnisse, Hoffnungen, Innsbruck-Wien-München 1952, Nachdruck (Ausgewählte Werke, Band 4) Wien-München 2002, 9–91. Dort hält er ausdrücklich fest: Beim Menschen ist „das Nur-Biologische … keineswegs das Natürliche“ (43). Die menschliche Existenz ist wertbestimmte Existenz im Hinblick auf die Dimensionen der Persönlichkeit, der Familie und des sozialen Lebens; und auf all dies ist auch der Geschlechtstrieb bezogen (vgl. ebd., 43f).

[10] Ausführlich geht Johannes Messner in seiner „Kulturethik mit Grundlegung durch Prinzipienethik und Persönlichkeitsethik“ (Nachdruck der Ausgabe von 1954, Wien-München 2001, 112–118) auf die „Liebeserfahrung“ als jedem Menschen mit Vernunftgebrauch prinzipiell einsichtige sittliche Tatsache ein: Die Liebe ist die Urerfahrung des Menschen; als sittliche Bewusstseinswirklichkeit wird diese Erfahrung wirksam mit dem Erwachen der Vernunft des Kindes (vgl. ebd., 113).

[11] Vgl. Messner, Naturrecht, 555.

[12] Vgl. Messner, Kulturethik, 114f.

[13] Johannes Messner, Das Gemeinwohl. Idee – Wirklichkeit – Aufgaben, Osnabrück 19682, 33; vgl. ebd., 50.93, Nachdruck in: Johannes Messner, Vom Sinn der menschlichen Gesellschaft. Zwei Spätwerke Messners (Ausgewählte Werke, Band 5), Wien-München 2003.

[14] Vgl. Messner, Widersprüche, 9–91.

[15] Vgl. Messner, Widersprüche, 19.

[16] Vgl. Messner, Widersprüche, 19.

[17] Vgl. Messner, Widersprüche, 20. Gemäß der Theorie der Sublimierung wird der Trieb „von einem ursprünglichen Ziel – z.B. sexueller Natur – auf ein anderes, kulturell höheres, hingelenkt“ (Dieter Wyss, Die tiefenpsychologischen Schulen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Entwicklung, Probleme, Krisen, Göttingen 19916, 64).

[18] Vgl. Messner, Widersprüche, 20–24. Messner distanziert sich vom pansexualistischen Libido-Determinismus Freuds. Jene Theorie, welche „die Libido zu dem letztlich die menschliche Existenz bestimmenden Element macht“, sei „unvereinbar mit der Wirklichkeit“ (Widersprüche, 83).

[19] Vgl. Messner, Widersprüche, 27f.

[20] Vgl. Messner, Widersprüche, 36 f.40.

[21] Messner, Widersprüche, 28.

[22] Messner, Widersprüche, 29.

[23] Vgl. Messner, Widersprüche, 30–33.

[24] Messner, Widersprüche, 35f.

[25] Messner, Widersprüche, 59.

[26] Messner, Widersprüche, 39.

[27] Die Ausführungen lassen sich ergänzen durch den Hinweis auf ähnliche Gedanken bei Karol Wojtyła in „Liebe und Verantwortung. Eine ethische Studie“ (Lublin 1960, auf der Grundlage des polnischen Textes neu übersetzt und herausgegeben von Josef Spindelböck, Kleinhain 20112, 31–70), wo dieser als fundamentales ethisches Prinzip die unbedingte Achtung der Person bei sich selbst und bei jedem anderen Menschen herausstellt und die personale Liebe als das Gegenteil des „Gebrauchens“ oder Instrumentalisierens aufzeigt.

[28] Vgl. Messner, Widersprüche, 45–48.

[29] Messner, Widersprüche, 48.

[30] Messner, Widersprüche, 48. Eine differenziertere Sicht auf das Phänomen des geschlechtlichen Schamgefühls bringt Karol Wojtyła in „Liebe und Verantwortung“ zum Ausdruck: Er sieht darin ein „spontane(s) Verlangen, sexuelle Werte sowie den sexuellen Charakter bestimmter Erlebnisse zu verbergen“ (ebd., 263), und zwar nicht nur bei sinnlich-sexuellen Regungen und Reaktionen, die der bewussten Kontrolle des Menschen entzogen sind oder ihr gar widersprechen, sondern gegenüber unbeteiligten Dritten gerade auch dort, wo es um den intimen und exklusiven leiblichen Ausdruck der Liebe von Mann und Frau in der schöpfungsgemäßen Gutheit der ehelichen Vereinigung geht (vgl. ebd., 265). Generell sieht Wojtyła das Schamgefühl darin, „wenn etwas, das seinem Wesen oder seiner Bestimmung nach privat sein soll, die Grenzen der Privatsphäre einer Person überschreitet und auf irgendeine Weise öffentlich wird“ (ebd., 256).

[31] Messner, Widersprüche, 49.

[32] Messner, Naturrecht, 547; Ethik, 299.

[33] Vgl. Messner, Naturrecht, 547; Ethik 299.

[34] Vgl. Messner, Naturrecht,548; Ethik, 300.

[35] Vgl. Messner, Naturrecht, 548; Ethik, 300; Widersprüche, 69.

[36] Vgl. Messner, Widersprüche 64f.

[37] Messner, Widersprüche, 65.

[38] Vgl. Messner, Widersprüche, 65–67.

[39] Messner, Widersprüche, 67.

[40] Vgl. Messner, Widersprüche, 67f.

[41] Messner, Naturrecht, 551; Ethik, 302.

[42] Vgl. Messner, Naturrecht, 552.

[43] Vgl. Messner, Naturrecht, 551; Ethik, 302.

[44] Messner, Naturrecht, 552; vgl. Ethik, 302f.

[45] Vgl. Messner, Naturrecht, 552f und 556f.

[46] Vgl. Messner, Naturrecht, 553–557; Ethik, 304–308.

[47] Messner, Naturrecht, 553, mit Verweis auf Aristoteles, Politik, I 2 §5.

[48] Vgl. Messner, Naturrecht, 555.

[49] Vgl. Messner, Naturrecht, 557–565; in seiner „Ethik“ (305–308) behandelt Messner diesen Aspekt in meist gleichlautenden Formulierungen, jedoch in teilweise anderer Anordnung im Abschnitt über die Familie als Lebensgemeinschaft.

[50] Messner, Naturrecht, 558; vgl. Ethik, 305.

[51] Vgl. Messner, Naturrecht, 559–561; Gemeinwohl, 155f.

[52] Vgl. Messner, Naturrecht, 562–565; Ethik, 306–308.

[53] Vgl. Messner, Naturrecht, 565–571; Ethik, 308–312.

[54] Vgl. Messner, Naturrecht, 565f; Ethik, 308f.

[55] Vgl. Messner, Naturrecht, 566–570; Ethik, 309–312.

[56] Messner, Naturrecht, 570; vgl. Ethik, 309.

[57] Vgl. Messner, Naturrecht, 571–578. Dieser Aspekt wird in der „Ethik“ nicht ausdrücklich behandelt.

[58] Vgl. Messner, Naturrecht, 571–578.

[59] Vgl. Messner, Naturrecht, 578f; Ethik, 312–317.

[60] Vgl. Messner, Naturrecht, 578–580.

[61] Vgl. Messner, Naturrecht, 580 f; Ethik, 313.

[62] Messner, Ethik, 315.

[63] Vgl. Ethik, 316f.

[64] Vgl. Messner, Naturrecht, 582 f.

[65] Vgl. Messner, Naturrecht, 583–585.

[66] Messner, Naturrecht, 585 und 588; Ethik, 304.

[67] Messner, Naturrecht, 586–587; Ethik, 303.

[68] Vgl. Messner, Naturrecht, 588.

[69] Vgl. Messner, Naturrecht, 588 f.

[70] Messner, Widersprüche, 63.

[71] Vgl. Messner, Widersprüche, 70–74.

[72] Messner, Widersprüche, 73.

[73] Messner, Widersprüche, 75.

[74] Vgl. Messner, Widersprüche, 75–77.

[75] Messner, Widersprüche, 76.

[76] Vgl. Messner, Widersprüche, 82.