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Sozialhirtenbrief
(15. Mai 1990)

Bischöfe Österreichs

Einleitung

Projekt Sozialhirtenbrief

(1) Es ist Aufgabe der Bischöfe, „zu den Menschen zu gehen und das Gespräch mit ihnen zu suchen“.[1] Dieses Wort des II. Vatikanischen Konzils hatten wir österreichischen Bischöfe vor Augen, als wir im Herbst 1988 zu einem Gespräch über einen in Aussicht genommenen Sozialhirtenbrief eingeladen haben.

Kirchliche Stellungnahmen zur sozialen Lage

(2) Die österreichischen Bischöfe haben nach dem Zweiten Weltkrieg mehrmals sowohl einzeln als auch gemeinsam zu wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Fragen Stellung genommen. Wir erinnern an den Katholikentag von 1952 mit seinen grundsätzlichen Überlegungen über eine freie Kirche in einer freien Gesellschaft und der Forderung an die Kirche, ihre Verantwortung für die Gesellschaft wahrzunehmen. Als Österreich 1955 seine Freiheit wiedererlangt hatte, entschlossen sich die Bischöfe Österreichs zu einem gemeinsamen Sozialhirtenbrief. Als Papst Johannes XXIII. 1961 das bedeutende Rundschreiben Mater et Magistra veröffentlichte, haben die österreichischen Bischöfe in einem eigenen Sozialhirtenbrief diese Botschaft auf Österreich angewendet. Im Synodalen Vorgang von 1974 hat sich die Kirche in Österreich neu zum gesellschaftlichen Engagement verpflichtet.

100 Jahre Rerum novarum

(3) Dieser Sozialhirtenbrief erscheint zur Vorbereitung des 100-Jahre-Jubiläums des Sozialrundschreibens Rerum novarum. Papst Leo XIII. hat 1891 in diesem Rundschreiben die Kirche in einer Zeit des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs in ganz neuer Weise zur gesellschaftlichen Verantwortung aufgerufen. Die Welt von heute befindet sich wiederum in einem tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandel.

Wirtschaft und Gesellschaft heute

Angesichts dieses Wandels wäre — wie damals — das Stillschweigen eine Verletzung Unserer Pflicht“.[2]

Es ist in einem Sozialhirtenbrief unmöglich, auf alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme Österreichs einzugehen. Wir haben uns deshalb entschlossen, einige Fragen herauszugreifen, die uns hinsichtlich einer menschengerechten Gestaltung von Arbeit und Wirtschaft sowie eines Lebens in Solidarität und Verantwortung besonders bedeutsam erscheinen.

I. „Das Gespräch suchen“
Anliegen und Anfragen

„Grundtext“ löste breite Diskussion aus

(4) Es war für uns eine erfreuliche Erfahrung, daß der Grundtext „Sinnvoll arbeiten — solidarisch leben“[3] ein so großes Interesse fand. Unsere Einladung zu einem vorbereitenden Gespräch zum Sozialhirtenbrief wurde bereitwillig angenommen. Rund 2.400 Stellungnahmen wurden uns zugesandt, an deren Abfassung mehr als 15.000 Personen beteiligt waren. Darüber hinaus haben viele an Gesprächsgruppen und Veranstaltungen teilgenommen. Die Medien berichteten eingehend über den Verlauf der Diskussionen. Dies hat uns gezeigt, wie viele Menschen in Österreich an der Lösung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme interessiert sind. Daß der Grundtext weniger auf die positiven Aspekte unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation einging, sondern vor allem Probleme und Herausforderungen aufzeigte, lag in der Zielsetzung des Textes, das Gespräch zur sozialen Lage anzuregen.

Die Gespräche verliefen zumeist in einem Klima der Offenheit und Toleranz. Die Teilnehmer bekannten sich zwar eindeutig zur eigenen Position, waren aber auch bereit, andere Meinungen zu hören. Es hat sich in diesem Vorgang innerhalb der Kirche eine Gesprächskultur entwickelt, die in die Zukunft weist.

Soziallehre gefragt

In diesem Gesprächsprozeß zeigte sich ein wachsendes Interesse für die katholische Soziallehre. Es wurde deutlich, daß auch unter den Katholiken ein großer Nachholbedarf besteht. Wir Bischöfe wurden gebeten, in unserem Sozialhirtenbrief die katholische Soziallehre auf die aktuelle Situation anzuwenden. Dieser Wunsch ist für uns mit ein Grund, in unserem Hirtenwort immer wieder auf die Sozialrundschreiben der Päpste und auf die sozialen Aussagen des II. Vatikanischen Konzils einzugehen.

„Zusammenfassung der Stellungnahmen“ zeigt:
Unterschiedliche Beurteilung der gesellschaftlichen Probleme

(5) Für Inhalt und Ergebnisse des Diskussionsprozesses verweisen wir auf die Dokumentation „Sinnvoll arbeiten — solidarisch leben. Zusammenfassung der Stellungnahmen“[4]. Die Diskussion zum ersten Themenschwerpunkt „Sinnvoll arbeiten“ erbrachte eine breite Übereinstimmung: Arbeit und Wirtschaft befinden sich auch in Österreich in einem tiefgreifenden Umbruch. Deshalb ist es notwendig, nach neuen Orientierungen zu suchen, und zwar nicht nur nach solchen wirtschaftlich-technischer, sondern auch sozialer und ethischer Art. Durch viele Beispiele aus dem Leben einzelner wie auch Gruppen wurden wir auf neue Formen von Diskriminierung und Unrecht in der Arbeitswelt aufmerksam gemacht. Keineswegs einheitlich war die Beurteilung der geschilderten Situation und die Formulierung der Aufgaben für die Zukunft. Es gab beachtlich viele Stimmen, welche die im Grundtext vorgelegte Analyse als zutreffend bezeichneten und tiefgreifende Reformen verlangten. Es gab aber auch solche, die eine Reihe von dort gegebenen Perspektiven als utopisch kritisierten.

Für unseren Hirtenbrief war es bedeutsam, daß im Vorbereitungsprozeß auch auf Themen hingewiesen wurde, die im Grundtext fehlten oder zu kurz behandelt wurden: zum Beispiel die Rolle des Unternehmers, die neue technische Revolution sowie die tiefgreifende Problematik der Umwelt.

Kluft zwischen Religion und Arbeitswelt

Eine Reihe von Stellungnahmen machte deutlich, daß für viele Menschen die Sinngebung für Arbeit und Wirtschaft nicht aus dem Glauben kommt. Die Kluft zwischen Religion und Arbeitswelt hat sich anscheinend vertieft. Es braucht eine neue Begegnung zwischen Kirche und Welt der Arbeit. Dieser Wunsch ist durch einen Hirtenbrief allein nicht zu erfüllen. Es bedarf vielmehr erneuter Anstrengungen in der Pastoral für die Menschen in der Arbeitswelt.

Notwendigkeit einer neuen Solidarität

(6) Die Auseinandersetzung mit dem zweiten Zentralthema »Solidarisch leben“ ergab eine weitere Übereinstimmung: All das, was mit Arbeit und Wirtschaft zusammenhangt, hat auch eine „technische Seite“. Es gibt sachliche Notwendigkeiten und Gesetzmäßigkeiten, die berücksichtigt werden müssen. Aber diese Eigenständigkeit ist relativ: Denn Arbeit und Wirtschaft stehen in einem sittlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang.[5] Darum wurde im Vorbereitungsprozeß immer wieder die Notwendigkeit einer neuen Solidarität ausgesprochen; einer Solidarität, die es nicht zuläßt, daß einzelne und Gruppen wirtschaftlich diskriminiert und vom gesellschaftlichen Leben ausgeklammert werden.

Unterschiedlich waren die Auffassungen über das Ausmaß des Verlustes an Solidarität und über den Weg, sie neu zu begründen und zu verwirklichen. Einerseits spürten wir mehr die Tendenz zur Stärkung — aber nicht notwendig zur Ausweitung — des Sozialstaates, andererseits wurden vorrangig Eigenverantwortung und Selbstregulierung durch gesellschaftliche Mechanismen betont.

Auch hier wurden neue Themen vorgeschlagen und Ergänzungen gewünscht: zum Beispiel über die Jugend, über alte und kranke Menschen, über neue gesellschaftliche Randschichten.

Suche nach Werten und Sinn

Wiederholt wurde der Wunsch geäußert, es möge auf Sinnfragen, auf sittliche Werte und Ziele eingegangen werden. Es ist bezeichnend, daß diese Anfragen gerade auch von jungen Menschen kamen, und nicht bloß von praktizierenden Gläubigen, sondern auch von Menschen, die der Kirche fernstehen.

Wertvoller Dienst der Stellungnahmen
Dank für die Beteiligung

(7) Wir können mit diesen Beispielen aus der Diskussion keineswegs den Reichtum der Aussagen und Anregungen ausschöpfen, der im Vorbereitungsprozeß zum Ausdruck kam. In der Abfassung des Hirtenbriefes haben uns diese Stellungnahmen wertvolle Dienste geleistet. Wir sagen allen, die sich an diesen Gesprächen beteiligt haben, ein herzliches Wort des Dankes. Dieser Dank gilt in besonderer Weise denen, die an der Vorbereitung und Durchführung dieses Projektes mitgearbeitet haben.

II. Der Weg des Menschen in Arbeit und Wirtschaft


Am Beginn unseres Sozialhirtenbriefes wollen wir ein klärendes Wort über das Anliegen dieses Hirtenwortes sagen.

1. Der Dienst unseres Hirtenwortes

Die religiöse Sendung der Kirche

(8) Es ist Aufgabe der Kirche, der Menschheit „die Liebe Gottes und das ihr durch Christus geschenkte Heil“[6] zu verkünden. Geschaffen nach dem Bild und Gleichnis des liebenden Gottes, ist der Mensch für ein Leben bestimmt, das in seiner Fülle über diese Welt hinausweist. Darum betont das II. Vatikanische Konzil ausdrücklich: „Die Sendung, die Christus der Kirche übertragen hat, bezieht sich ... nicht auf den politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Bereich: das Ziel, das Christus ihr gesetzt hat, gehört ja der religiösen Ordnung an.“[7]

Irdisches Leben entscheidend für das Heil

Das den Menschen zugesagte Heil wird als freies Geschenk Gottes empfangen. Gleichzeitig aber entscheidet sich seine Verwirklichung im Leben des Christen inmitten der Welt: Indem er in der Liebe und Gnade des dreifaltigen Gottes fähig wird, das Gute zu tun und das Böse zu bekämpfen. Diese Lebensaufgabe ereignet sich auch im konkreten Alltag: im Zusammenleben, in der Arbeit, in der Freizeit.

Orientierungshilfen der Kirche

(9) Die Kirche hat den Auftrag, den Menschen nicht nur das von Christus geschenkte Heil zu verkünden, sondern sie auch wegweisend in der Verwirklichung dieses Zieles zu begleiten. Sie hat das Recht und die Pflicht, den Menschen für die Gestaltung ihres konkreten Lebens sittliche Orientierung und geistliche Hilfe anzubieten.

Die geschichtlich gewachsenen Formen von Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft üben einen entscheidenden Einfluß auf das sittliche Handeln des Menschen aus. Sie können es erleichtern und fördern, sie können es auch behindern und gefährden. Es gibt gesellschaftliche Situationen, die es einer „ungeheuer großen Zahl von Menschen“ außerordentlich schwer machen, „ihr ewiges Heil zu wirken“.[8]

Aus Evangelium und christlichem Menschenbild

Die Kirche hat in den vergangenen hundert Jahren eine Reihe von Sozialrundschreiben veröffentlicht, um den Menschen in der Ordnung des gesellschaftlichen Lebens „nach dem Heilsplan der Frohbotschaft“[9] die sittlichen Grundsätze zu vermitteln. Diese Grundsätze entspringen letztlich „der christlichen Lehre vom Menschen“.[10]

Die Zuständigkeit der Kirche

(10) Wenn die Kirche aufgrund ihrer religiösen Sendung den Anspruch erhebt, für das wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Leben sittliche Weisungen zu geben, anerkennt sie zugleich die Grenze ihrer Zuständigkeit. Sie macht keine Aussagen darüber, mit welchen Mitteln die den Menschen vorgegebenen Ziele am erfolgreichsten zu verwirklichen sind. Die Kirche muß aber Einspruch erheben, wenn Mittel angewendet werden, die dem Sittengesetz und dem Evangelium widersprechen.

In unserem Hirtenwort werden wir immer wieder auf die Grundsätze der katholischen Soziallehre zurückgreifen. Es genügt dabei nicht, allgemeine sittliche Grundsätze zu verkünden. Die Kirche muß sich auch dafür einsetzen, daß diese verwirklicht werden. Das verlangt eine Anwendung auf die verschiedenen Situationen in den Teilkirchen. „Sie müssen die Verhältnisse ihres jeweiligen Landes objektiv abklären, müssen mit dem Licht der unwandelbaren Lehre des Evangeliums hineinleuchten ..., (um) darüber zu befinden, welche Schritte zu tun und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Reformen herbeizuführen, die sich als wirklich geboten erweisen.“[11]

Unterschiedliche Verbindlichkeit der Aussagen

(11) Wir haben diesen Auftrag im Dialog des Vorbereitungsprozesses aufgegriffen und wollen ihn in unserem Hirtenwort weiterführen. Wo es um die Anwendung sittlicher Grundsätze geht, wird es Meinungsverschiedenheiten geben. Darum unterscheiden wir in unserem Hirtenwort zwischen der Verbindlichkeit der sittlichen Grundsätze und den Maßnahmen zur Umsetzung.

Umsetzung in konkrete Modelle

(12) Die Verwirklichung der katholischen Soziallehre hangt wesentlich vom Einsatz unserer Brüder und Schwestern ab. Ihre Aufgabe ist es, die Kirche „an jenen Stellen und in den Verhältnissen anwesend und wirksam zu machen, wo die Kirche nur durch sie Salz der Erde werden kann“.[12] Darum soll unser Sozialhirtenbrief für ihren Einsatz eine Ermutigung, aber auch Orientierung sein. Wir wünschen sehr, daß die Christen nach konkreten Wegen suchen, die sittlichen Prinzipien gegenwarts- und zukunftsbezogen in die Praxis umzusetzen.

Berechtigte Vielfalt

Vom selben Evangelium inspiriert, können Christen bei der Suche nach konkreten Lösungen zu unterschiedlichen Entscheidungen kommen. Die Kirche anerkennt diese Tatsache, verlangt aber, daß sich jeder Christ in diesem Bemühen ernsthaft mit ihren sozialen Weisungen auseinandersetzt, ohne aber die Autorität der Kirche ausschließlich für die eigene Meinung in Anspruch zu nehmen.[13]

Die Hoffnung auf das Reich Gottes begründet den Einsatz in der Welt

(13) Die menschengerechte Gestaltung von Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft hat eine große Bedeutung für das Reich Gottes, das alle menschlichen Bemühungen um Gerechtigkeit übersteigt. Die Wirklichkeit der Sünde erweist die Machbarkeit eines innerweltlichen Paradieses als Illusion. Sie wirkt im persönlichen Verhalten wie auch in den „Strukturen der Sünde“[14] hemmend, störend und zerstörend. Durch Christi Tod und Auferstehung ist jedoch die Macht der Sünde gebrochen. Der Mensch wird frei zum Einsatz für die Gerechtigkeit, deren Vollendung er in Gott erwartet. In solcher Freiheit und endzeitlicher Hoffnung gründet der gesellschaftspolitische Einsatz der Christen. Religiöse Sendung und gesellschaftliche Verantwortung sind darin zuinnerst verbunden.
Diese gesellschaftliche Verantwortung verbindet Christen mit allen Menschen in der Sorge um eine menschengerechte Gestaltung von Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft. Gemeinsam müssen wir uns mit ganzer Kraft dafür einsetzen.

2. Glaube, Arbeit und Wirtschaft

Religiöse Aspekte der Arbeit

(14) Wenn die Kirche über Arbeit und Wirtschaft spricht, dann geht es ihr nicht zuerst um Investitionen und Rentabilität, um Kosten und Gewinn. Arbeit und Wirtschaft haben für sie wesentlich mit dem „Plan Gottes mit den Menschen“[15] zu tun.

Mitwirkung am Plan Gottes

Sein Auftrag, die Erde „zu bebauen und zu behüten“ (Gen 2,15), enthält einen Lebensentwurf: Im verantwortungsbewußten Gestalten der Erde entfaltet der Mensch das, was Gott mit der Welt vorhat.

Entfaltung der Talente

Indem der Mensch auch durch seine Arbeit an der Vollendung des Werkes Gottes mitwirkt, verschafft er sich nicht nur seinen Lebensunterhalt, sondern entfaltet zugleich sich selbst. Im schöpferischen Tun weckt er die verborgenen Talente, die der Schöpfer ihm geschenkt hat. Durch die Arbeit verwirklicht der Mensch nicht nur den Plan Gottes mit der Welt, sondern auch den Plan Gottes mit den Menschen: mehr Gott ähnlich werden, „mehr Mensch werden“.[16]

Ein Dienst für andere

(15) Diese persönliche Seite der menschlichen Arbeit hat aber gleichzeitig eine zwischenmenschliche Bedeutung. Sie verwirklicht sich zuerst in ihrer Beziehung zu Ehe und Familie. Die Hinordnung der Arbeit auf die materielle Sicherung der Familie, die Sorge für die Zukunft der Kinder haben einen entscheidenden Einfluß auf die Sinngebung und Sinnerfahrung der Arbeit.

Die soziale Dimension der Arbeit hat aber ganz wesentlich auch eine Beziehung zum Dienst am Gemeinwohl. Durch seine Arbeit trägt der Mensch dazu bei, daß die materiellen Voraussetzungen geschaffen werden, damit alle ein menschenwürdiges Leben führen können.[17] Wer nicht erlebt, daß er sich durch seine Arbeit für andere nützlich macht, beginnt nur allzuleicht an seinem Selbstwert zu zweifeln. Zugleich fehlt ihm dann auch die gesellschaftliche Anerkennung.

Jesus – der Sohn des Zimmermanns

(16) Dieses religiös-ethische Grundwissen über die Würde der menschlichen Arbeit erhält für den Christen durch Christus eine neue Tiefe. Gott ist in Jesus Christus unmittelbar in die Welt der Arbeit eingetreten. Das Wort der Bibel, er war „der Sohn des Zimmermanns“ (Mt 13,55), ist reich an Bedeutung. Jesus selber hat durch seine Arbeit ein Stück Welt mitgestaltet und damit die Arbeit mit einem neuen religiösen Sinn erfüllt. Durch sein Sterben am Kreuz hat er all das erlöst, was der Mensch als Folge der Erbsünde an Entfremdung und an Unheil in der Welt der Arbeit erfährt. Die vom Glauben her verstandene und verrichtete Arbeit dient trotz aller weiterbestehenden innerweltlichen Mühsal nicht nur zur Verwirklichung des eigenen Heiles, sondern auch zur Verwirklichung eines neuen Himmels und einer neuen Erde.

Das Ziel der Wirtschaft

(17) Grundlegend für die Gestaltung von Arbeit und Wirtschaft ist die Aussage des II. Vatikanischen Konzils: Das eigentliche Ziel der Wirtschaft besteht „weder in der vermehrten Produktion als solcher noch in der Erzielung von Gewinn oder Ausübung von Macht, sondern im Dienst am Menschen, und zwar am ganzen Menschen im Hinblick auf seine materiellen Bedürfnisse, aber ebenso auf das, was er für sein geistiges, sittliches, spirituelles und religiöses Leben benötigt. Das gilt ausdrücklich für alle Menschen und für jeden einzelnen ... ist doch der Mensch Urheber, Mittelpunkt und Ziel der Wirtschaft.“[18] Aus diesem Grundverständnis der Wirtschaft ergeben sich drei Folgerungen:

Gegenwärtiger Bedarf und künftige Lebenschancen

(18) Erstens: Nach der katholischen Soziallehre besteht das Ziel der Wirtschaft nicht in einem beliebigen, grenzenlosen Wachstum, sondern in der Versorgung der Menschen mit preiswerten Gütern und Diensten des täglichen Bedarfs: ausreichende Nahrung, Kleidung und menschenwürdiges Wohnen zählen dazu. Worin dieser Bedarf des Menschen näherhin besteht, kann nicht für alle gleich verpflichtend festgeschrieben werden. Trotz dieser Offenheit ergeben sich aber aus der körperlich-geistigen Einheit des Menschen Grundorientierungen und Grundverpflichtungen für den Wirtschaftsprozeß — auch in der Verpflichtung für die Lebenschancen der kommenden Generationen und für die Erhaltung der Schöpfung.

Einzelinitiativen und Handeln des Staates

(19) Zweitens: Der Mensch als Person ist „Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft“18a. Für die Gestaltung des Wirtschaftsprozesses ist darum nicht zuerst der Staat, sondern die Initiative der einzelnen und der gesellschaftlichen Gruppen zuständig. Das Recht auf persönliches Eigentum und wirtschaftliche Initiative gehört somit zu den Menschenrechten.[19] Die Vielfalt der Einzelinitiativen und Einzelinteressen führt aber nicht automatisch zur Verwirklichung des Gesamtzieles der Wirtschaft: Dienst am Menschen und an allen Menschen. Darum braucht es das gestalterische Handeln des Staates, um den Wirtschaftsprozeß auf das Gemeinwohl hinzuordnen, einen Ausgleich zwischen Leistungsstarken und Leistungsschwachen zu schaffen und Unrecht abzubauen oder zu verhindern.

Sachgesetze der Wirtschaft und Würde des Menschen

(20) Drittens: In der Wirtschaft geht es nicht nur um die Bereitstellung von Gütern und Diensten, sondern wesentlich um die Zusammenarbeit von Menschen. Die soziale Ausgestaltung des Wirtschaftsprozesses gehört deshalb zu den zentralen Aufgaben einer menschengerechten Wirtschaftsordnung. Das schließt keineswegs aus, daß die Erstellung von Gütern und Diensten ihre Sachgesetze hat. Wo aber nach Gottes Bild geschaffene, freie, selbstverantwortliche Personen im Wirtschaftsprozeß zusammenarbeiten, sind die Achtung vor der Würde des Menschen, das Recht auf Mitverantwortung und Mitbestimmung und die Vermenschlichung der Arbeitswelt vorrangig.

Überprüfung der Wirtschaft an ihrer Zielbestimmung

(21) Diese von der menschlichen Vernunft und vom Glauben her vorgegebene Zielbestimmung von Arbeit und Wirtschaft verpflichtet die Kirche, Wirtschaftssysteme und Wirtschaftspraxis dahin zu überprüfen, ob sie die Erreichung dieser Ziele ermöglichen und fördern oder sie behindern und verhindern.

Kritik an Wirtschaftssystemen

Die Kirche hat von ihrem Menschenbild her wiederholt zu Wirtschaftssystemen und wirtschaftlicher Praxis Stellung bezogen. Sie hat den liberalistischen Kapitalismus des vergangenen Jahrhunderts abgelehnt, weil er für ein „nahezu sklavisches Joch“[20] des Proletariates verantwortlich war. Sie hat das kollektivistische Wirtschaftsystem verurteilt, weil es die Person des Menschen zu einem Objekt entwertete.[21] Die Kirche muß aber auch zu anderen Wirtschaftssystemen ihre kritische Stimme erheben, wenn sie überzeugt ist, daß einzelne Menschen oder gesellschaftliche Gruppen in ihren Rechten bedroht sind. Solche Kritik erfolgt in der Überzeugung: Nur eine menschengerechte Wirtschaft kann auf weite Sicht gesehen eine sachgerechte Wirtschaft sein.

Anerkennung für wirtschaftliche Leistungen und Solidarität der Sozialpartner

(22) Wenn wir in unserem Sozialhirtenbrief zu konkreten Fragen der Arbeit und Wirtschaft in unserem Land Stellung nehmen, dann tun wir das in der gleichen Absicht. Wir sagen es in Anerkennung alles dessen, was auf wirtschaftlichem Gebiet in den Nachkriegsjahren geschaffen wurde. Wir denken dabei an die schweren Zeiten des Wiederaufbaues, der in entscheidender Weise auch durch Opferbereitschaft und Sinn für das Gemeinwohl von Seiten der Arbeitnehmer ermöglicht wurde. Wir anerkennen den Beitrag der Gewerkschaften für den wirtschaftlichen und sozialen Aufbau und für die Erhaltung des sozialen Friedens.

Ohne die solidarische Zusammenarbeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, wie sie sich in Österreich in der Sozialpartnerschaft bewährt hat, wäre es unmöglich gewesen, den heutigen Wohlstand und die soziale Sicherheit zu erwirtschaften. Wir anerkennen darum nicht weniger all das, was durch das verantwortliche Handeln der Unternehmer geschaffen wurde. Insbesondere verweisen wir dabei auf die eindrucksvollen Leistungen der vielen Klein- und Mittelbetriebe, die nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in sozialer Hinsicht zum Fortschritt und sozialen Frieden unseres Landes entscheidend beigetragen haben.

Herausforderungen für Arbeit und Wirtschaft

(23) Arbeit und Wirtschaft in Österreich stehen vor großen Herausforderungen. Die wissenschaftlich-technischen Innovationen zwingen zu massiven Strukturveränderungen und Anpassungen innerhalb der einzelnen Wirtschaftszweige und infolge dessen zu großen beruflichen Veränderungen innerhalb der arbeitenden Bevölkerung. Die Internationalisierung der Märkte bedeutet auf der einen Seite eine Verschärfung der Konkurrenz und Bedrohung der kleineren Wirtschaftseinheiten, auf der anderen Seite neue wirtschaftliche Chancen. Die Entwicklung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hat auch für Österreich tiefgreifende Folgen und bedeutet eine Herausforderung für die Sozialpartner. Sie muß von ihnen mit sachkundigen wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen beantwortet werden. Dazu braucht es auch den Willen zur Selbstkritik und die Bereitschaft zu jeweils neuen Initiativen. Es braucht aber ebenso ethische Orientierungen sowohl für die Gestaltung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen als auch für das Verhalten der Menschen.

Die Aufgaben des Unternehmers

(24) Österreich braucht Unternehmer, die über hohe Sachkompetenz verfügen; Unternehmer, die nicht nur die wirtschaftlichen Notwendigkeiten von heute erkennen, sondern auch die Entwicklung von morgen mitberücksichtigen und den Mut zu unternehmerischem Risiko besitzen. Österreich braucht aber auch Unternehmer, die über ein hohes Maß an sozialer Kompetenz und Initiative verfügen; Unternehmer, die in den Arbeitnehmern nicht Produktionsfaktoren, sondern Mitarbeiter sehen; Unternehmer, die imstande sind, ein Betriebsklima zu schaffen, das den Arbeitnehmern die Überzeugung gibt, „in eigener Sache“[22] zu arbeiten. Dazu gehört wesentlich die Möglichkeit der Mitverantwortung und Mitbestimmung. Wer produktive Arbeit leistet, soll auch imstande sein, „den Gang der Dinge mitzubestimmen“.[23]

in Verantwortung für das Gemeinwohl

Bei all dem können sich Unternehmer nicht auf die Lösung rein ökonomischer Probleme beschränken, wie etwa Produktionsverfahren und Absatzstrategien. Sie müssen auch bereit sein, Verantwortung für das Gemeinwohl auf nationaler und internationaler Ebene zu übernehmen. In ihren wirtschaftlichen Entscheidungen sind immer auch die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen mitzuberücksichtigen: die Bewältigung des Problems der Arbeitslosigkeit, die Erhaltung des sozialen Friedens, die Sorge für die Anliegen der Jugend und die Verantwortung für die Umwelt. Für die katholische Soziallehre gilt darum: Der verantwortungsbewußte Unternehmer soll nicht
nur sachgerecht, sondern immer auch menschengerecht und gesellschaftsgerecht handeln. Diese Aussage soll nicht bloß als Appell für die Zukunft, sondern auch als Anerkennung der bisherigen Bemühungen verstanden werden.

Der Beitrag der Arbeitnehmer

(25) Österreichs Wirtschaft braucht nicht weniger den Beitrag der Arbeitnehmer, die ihre Verantwortung in der Welt der Wirtschaft wahrnehmen. Dies beinhaltet nicht nur den persönlichen Einsatz im Arbeitsprozeß, sondern auch die Mitverantwortung für die Gestaltung der Gesamtwirtschaft.

Ihre Organisation

Seit ihrem ersten Sozialrundschreiben hat die Kirche das Recht der Arbeitnehmer auf eine unabhängige Organisation verteidigt. Sie hat dieses Recht auch in den folgenden Rundschreiben gefordert. Im Rundsehreiben über die menschliche Arbeit bezeichnet Johannes Paul II. die Organisation der Arbeitnehmer als „unentbehrliches Element des gesellschaftlichen Lebens“.[24]

Die Kirche kennt eine zweifache Aufgabe der Organisation der Arbeitnehmer. Sie muß einerseits die „berechtigten Forderungen“ der Arbeitnehmer in allen Bereichen, wo ihre Rechte ins Spiel kommen, wirksam vertreten.[25] Sie muß andererseits auch einen „wirksamen Beitrag“ zur Gestaltung des Wirtschaftslebens leisten.[26]
 

Spannungen und Konflikte

Die Verwirklichung dieser zweifachen Aufgabe kann zu Spannungen und Konflikten führen. Schon das Sozialrundschreiben Quadragesimo anno spricht von der Möglichkeit und sogar Notwendigkeit des „Kampfes“ zur ‘Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit. Der große Unterschied gegenüber der marxistischen Theorie des Klassenkampfes besteht darin, daß die bestehenden Gegensätze nicht als unüberwindbar betrachtet werden. Es wird klar erkannt, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufeinander angewiesen sind. Der Kampf wird „im Hinblick auf das Gut der sozialen Gerechtigkeit“ geführt, zur „Durchsetzung berechtigter Ansprüche“.[27] Das darf allerdings nicht in der Haltung eines Gruppen- oder Klassenegoismus und auch nicht in bloßer Abhängigkeit von den Willensentscheidungen politischer Parteien geschehen, sondern im Dienst am Gemeinwohl des ganzen Landes.

Mitarbeit in den Gewerkschaften

Wenn wir heute von neuen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Herausforderungen und von einer neuen sozialen Frage sprechen, dann hoffen wir, daß die Gewerkschaften, in denen viele Menschen aus christlicher Verantwortung mitarbeiten, diese „Zeichen der Zeit“ in ihrem Aktionsprogramm berücksichtigen.

Anerkennung der demokratischen Ordnung

(26) Der wirtschaftliche Aufstieg und der soziale Friede unseres Landes wurde wesentlich durch den Aufbau und Ausbau einer neuen politischen Kultur mitgestaltet. Die demokratische Grundverfassung unseres Staates bildete die Voraussetzung und Garantie dafür, daß auch im Bereich der Wirtschaft und Gesellschaft demokratische Prozesse in Gang gesetzt werden konnten. Wenn wir heute den Beitrag der Sozialpartner zur Vermenschlichung von Arbeit und Wirtschaft anerkennen, dann gilt diese
gleicher Weise den politischen Kräften unseres Landes. Wir wissen aus Vergangenheit und Gegenwart um die Bedrohungen der demokratischen Ordnung. Darum wollen wir es
nicht bloß bei einem Wort der Anerkennung belassen. Wir appellieren vielmehr an die Mitverantwortung der Christen für die Erhaltung und den Ausbau unseres demokratisch verfaßten Staates.

Solidarität mit Minderheiten

Die demokratische Reife einer Gesellschaft zeigt sich gerade am Umgang mit Minderheiten, wie sie Rechte und kulturelle Eigenart ethnischer Gruppen anerkennt und fördert. Bei aller berechtigten Sorge von Minderheiten um die Erhaltung ihres Volkstums werden sie ihrerseits bemüht sein, am Gesamtwohl der Gesellschaft solidarisch mitzuwirken.

3. Mehr Mensch werden in Arbeit und Wirtschaft

Sinnerfüllung in der Erwerbsarbeit?

(27) Heute wird viel vom Wandel des Sinnes der Arbeit gesprochen. Manche sind der Meinung, Erwerbsarbeit sei nur noch ein notwendiges Übel, die menschliche Entfaltung werde oft nur in der Freizeit gesucht. Andere anerkennen durchaus, daß die Freizeit eine neue Bedeutung erhalten habe und daß die Erwerbsarbeit keineswegs den einzigen Lebenssinn darstelle. Trotzdem sei sie für viele auch heute noch ein zentraler Wert für Lebenssinn und Lebenserfüllung.

Recht auf Arbeit — Pflicht zur Arbeit

(28) Weil die menschliche Arbeit wesentlich mit einem Auftrag Gottes verbunden ist, gibt es sowohl ein Recht,[28] wie auch eine Pflicht zur Arbeit. Das Recht, das besagt, daß den
Menschen der Zugang zur Arbeit nicht verwehrt werden darf. Die gesellschaftlichen Kräfte und der Staat sind dazu verpflichtet, wirtschaftliche Voraussetzungen zu schaffen, aufgrund derer der Mensch Arbeit finden kann. Denn durch die persönliche Arbeit verschafft der Mensch sich selber und seiner Familie den Lebensunterhalt und trägt unmittelbar zum Gemeinwohl bei. Es gibt aber auch eine Pflicht zur Arbeit, welche in vielen Fällen Erwerbsarbeit sein wird, die in Gewissenhaftigkeit, Leistungsbewußtsein und Verantwortung zu verrichten ist.

Belastende Arbeitsbedingungen


(29) Zweifellos gibt es in Österreich viele Menschen, die mit ihrer Arbeit zufrieden sind, die ganz zu ihrem Betrieb stehen und das vielfältige Entgegenkommen von Seiten der Betriebsleitung zu schätzen wissen. Wir begegnen aber auch Aussagen, die uns besorgt machen. Es handelt sich dabei nicht um seltene Ausnahmen, sondern um eine beachtliche Zahl. Männer, Frauen und Jugendliche klagen über Arbeitszeiten, welche die gesetzlich festgelegten Normen bei weitem überschreiten. Leistungsdruck und Arbeitsstreß werden zu einer Bedrohung der Gesundheit. Akkord oder stundenlange Bildschirmarbeit führen nicht selten zu körperlich-geistiger Überbelastung mit gesundheitlichen Dauerschäden. Unhygienische Arbeitsbedingungen widersprechen nicht nur dem Gesetz, sondern auch der Menschenwürde. Aus Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes werden Situationen in Kauf genommen, die eine schwere Belastung darstellen. Wir hören da und dort von einer Entlohnung, die in keinem Verhältnis zur geleisteten Arbeit steht. Es werden gelegentlich Formen von Anstellungen und Entlassungen praktiziert, die Sonderzahlungen und Urlaubsansprüche umgehen. Pendler sind besonderen Belastungen ausgesetzt und leiden schwer an den verkürzten Kontakten zur eigenen Familie und an der Verarmung anderer sozialer Beziehungen. Wir wissen von politischem Gesinnungsdruck, dem man sich unterwerfen muß, um den Arbeitsplatz zu behalten und beruflich weiterzukommen.

Schlechtes Betriebsklima

(30) Eine besondere Bedeutung hat im Leben vieler Menschen, denen wir begegnen, das soziale Klima am Arbeitsort. Selbst schwere und eintönige Arbeit wird nicht als Dauerbelastung empfunden, wenn am Arbeitsplatz unter der Belegschaft ein gutes Klima besteht und die einzelnen bei der Betriebsleitung Achtung und Anerkennung finden. Man wird über Vorgänge im Betrieb informiert, kann Mitverantwortung tragen und mitbestimmen. Wir hören aber auch von Enttäuschung und Verbitterung. Nicht wenige klagen über ein schlechtes Betriebsklima. Es bestehen Spannungen und Rivalitäten innerhalb der Belegschaft, Arbeitnehmer werden gegeneinander ausgespielt. Wo keine Möglichkeit zu Mitverantwortung und Mitbestimmung besteht, fehlt dem Menschen die Beziehung zum Betrieb, und er empfindet die Arbeit als schwere Last. Verbitterung am Arbeitsort wirkt nicht zuletzt hinein ins Familienleben und in die Freizeitgestaltung.

Zurückbleiben der Mitgestaltung

(31) In seinem Rundschreiben über die menschliche Arbeit sagt Johannes Paul II.: „Wenn der Mensch arbeitet und sich dabei aller verfügbaren Produktionsmittel bedient, so möchte er zugleich, daß die Früchte dieser Arbeit ihm und anderen zugute kommen und daß er bei diesem Arbeitsprozeß Mitverantwortlicher und Mitgestalter an dem Arbeitsplatz sein darf, an dem er tätig ist.“[29] Wir teilen die Sorge und die Enttäuschung vieler unserer Brüder und Schwestern darüber, daß in unserem Land die soziale Ausgestaltung von Arbeit und Wirtschaft hinter dem technisch-wirtschaftlichen Fortschritt oft zurückbleibt.

(32) Pauschalurteile wären unberechtigt. Wir wissen, daß sich manche Betriebe in Schwierigkeiten befinden und daher von der Belegschaft Verständnis und Opfer verlangen müssen. Wir wissen ebenso, daß manches Entgegenkommen mißdeutet und mißbraucht werden kann.

Menschengerechte Gestaltung der Arbeit auch wirtschaftlich richtig

Trotzdem erheben wir unsere Stimme für Vermenschlichung von Arbeit und Wirtschaft und können feststellen, daß wir in diesem Anliegen nicht alleingelassen sind. Mehr denn je wird klar: eine menschengerechte Gestaltung von Arbeit und Wirtschaft führt auf weite Sicht auch zum bestem wirtschaftlichen Erfolg.

4. Arbeitslosigkeit

Arbeitslosigkeit trotz günstiger Wirtschaftslage

(33) Arbeitslosigkeit zählt zu den Geißeln der modernen Menschheit. Den von ihr Betroffenen schafft sie schwere, in Einzelfällen unerträgliche Belastungen. Trotz anhaltend günstiger Konjunktur und beachtlichen Wirtschaftswachstums ist es nicht gelungen, das Problem der Arbeitslosigkeit befriedigend zu lösen. Sicher ist die Situation der Arbeitslosigkeit nicht überall die gleiche. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen aber ist deutlich angestiegen und hat sich verfestigt.

Arbeitslosigkeit bedeutet Ausgrenzung

(34) Unsere Sorge um die von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen entstammt letztlich dem religiösen Anliegen. Nach Aussage der Bibel ist die Verpflichtung, die Erde zu gestalten, an alle Menschen ergangen. Darum ist es sittlich unzulässig, wenn eine beachtliche Gruppe von Menschen keinen Zugang zur Erwerbsarbeit findet. Diese Tatsache wird zu einer gesellschaftlichen Bedrohung, wenn es sich um junge Menschen handelt, denen schon der Einstieg in die eigene Lebensgestaltung und gesellschaftliche Mitverantwortung unmöglich gemacht wird. Selbst wenn den Arbeitslosen ein Existenzminimum zugesichert ist: das größere sittliche Problem besteht darin, daß Menschen aus der Beteiligung am gesellschaftlichen Arbeitsprozeß schuldlos ausgeklammert werden, mit all den Folgen für die Erfüllung des an jeden einzelnen ganz persönlich ergangenen Auftrages. Darum ist ein gesellschaftlicher Zustand, der Menschen von der Arbeit ausschließt, als menschenunwürdig zu bezeichnen.[30]

Weitreichende soziale Folgen

(35) Gewiß ist das Problem der Arbeitslosigkeit äußerst komplex. Es kann auch menschliches Versagen eine Rolle spielen. Die Kirche anerkennt alle ernsten Bemühungen, dieses schwerwiegende soziale Problem zu lösen. Wir Bischöfe fühlen uns aber verpflichtet, eindringlich unsere Stimme zu erheben, weil wir den Eindruck haben, als hätte man sich mit einer bestimmten Arbeitslosenrate bereits abgefunden. Wir wissen um Krisen in Ehen und Familien, die durch die Arbeitslosigkeit ausgelöst oder verschärft werden. Wir kennen das Leid älterer Arbeitnehmer, die nach jahrelanger, treuer Arbeit unter einem wirtschaftlichen Vorwand entlassen wurden und keine Arbeit mehr finden. Wir begegnen Menschen, die man zu schnell als „nicht mehr vermittelbar“ einstuft und den gesellschaftlichen Problemgruppen zuordnet, obwohl ihnen eine sorgfältigere Umschulung und Weiterbildung vielleicht eine neue Einstiegschance in die Arbeit ermöglichen könnte. Viele unserer Arbeitslosen machen die schmerzliche Erfahrung, daß sie nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich isoliert werden. Es droht ein Zerbrechen der Solidarität zwischen den Arbeitslosen und jenen, die einen Arbeitsplatz besitzen.

Gegen Resignation ankämpfen

(36) Am meisten Sorge machen uns Resignation und Abgestumpftheit der Arbeitslosigkeit gegenüber. Gegen diese Haltungen muß sowohl von seiten der gesellschaftlichen Kräfte, als auch von seiten des Staates angekämpft werden. Auch unser Hirtenwort soll dazu beitragen. Wir dürfen die Arbeitslosigkeit nicht einfach als gegeben hinnehmen und unser Vertrauen allein auf den Marktmechanismus setzen.

Initiativen der Kirche

Die Kirche darf es bei diesem so schwerwiegenden Problem nicht bei einem bloßen Appell belassen. Sie muß sich selber verpflichten, nicht zuletzt deshalb, weil die Kirche in Österreich selbst ein bedeutender Arbeitgeber ist. Auch wenn wir zahlenmäßig keine großen Erfolge aufweisen können, bewirken die von den kirchlichen Stellen unternommenen Initiativen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vor allem eine Bewußtseinsveränderung und Überwindung unchristlicher Gleichgültigkeit.

5. Lohn — Einkommen — Eigentum

Gerechte Verteilung des Wohlstands

(37) Grundüberzeugung der katholische Soziallehre ist es, „daß der wirtschaftliche Wohlstand eines Volkes weniger zu bemessen ist nach der äußeren Fülle von Gütern, über die seine Glieder verfügen, als vielmehr nach ihrer gerechten Verteilung, so daß alle im Land etwas davon für die Entfaltung und Vervollkommnung ihrer Persönlichkeit erhalten; denn das ist das Ziel, auf das die Volkswirtschaft ihrer Natur nach hingeordnet ist“.[31]

Prüfstein: Gerechter Lohn

Heute wissen wir besser als früher, daß die Lohnfrage eine zentrale gesamtwirtschaftliche Frage darstellt. Von ihr hängt nicht nur das Los der Lohnempfänger ab. Sie hat einen entscheidenden Einfluß auf die Unternehmen und die Gesamtwirtschaft. Deshalb ist der gerechte Lohn „Prüfstein für die Gerechtigkeit des gesamten ökonomischen Systems“.[32]

Ungerechtfertigte Lohnunterschiede

(38) In Österreich gibt es eine beachtliche Zahl von Menschen, deren Lohn nicht ausreicht, für sich selber und die eigene Familie einen Lebensunterhalt zu garantieren, der ein menschenwürdiges Leben im Rahmen der gesellschaftlichen Möglichkeiten erlaubt. Wir dürfen es nicht hinnehmen, daß gerade Frauen in der Lohnbemessung in vielfacher Weise benachteiligt werden. Wir wissen um Fälle von Entlohnung von Flüchtlingen und Gastarbeitern, die als Ausbeutung zu bezeichnen sind.

Es macht uns ebenfalls besorgt, wenn die Zuteilung von Lohn nicht ausschließlich aufgrund von Leistung, sondern aufgrund gesellschaftlicher Macht erfolgt. Gruppen, die Zugang zu gesellschaftlicher Macht besitzen, erhalten Vorteile und Privilegien. Andere, die diesen Zugang nicht haben, werden benachteiligt und an den gesellschaftlichen Rand gedrängt.

Regionale Einkommensgefälle

(39) Es gibt in Österreich Regionen, die über eine hohe Beschäftigung, sichere Arbeitsplätze und überdurchschnittliche Einkommen verfügen, und es gibt Gebiete, die sich aus einer Reihe von Gründen in ökonomischer Dauerkrise befinden. Selbstverständlich bestehen in jedem Land nicht nur persönliche, sondern auch regionale Unterschiede.

Mit Recht ist zu fragen, ob übergroße Unterschiede und offenkundige Benachteiligungen mit einer Gesellschaftsauffassung übereinstimmen, die auf den Grundsätzen der Menschenwürde, der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität aufgebaut ist.

Eigentumsbildung in Arbeitnehmerhand

(40) Noch vor wenigen Jahrzehnten wurde auch in Österreich viel über Eigentumsbildung in Arbeitnehmerhand gesprochen. Damals wurden mutige Schritte unternommen, diese Forderung einzulösen. In dem durchaus berechtigten Bemühen um die wirtschaftliche Mitbestimmung und um den Ausbau der sozialen Sicherheit trat auch in Österreich die Frage nach der Beteiligung der Arbeitnehmer an der volkswirtschaftlichen KapitaIbildung zurück. Dazu kam, daß Arbeitnehmer die Möglichkeit erhielten, Geldvermögen zu erwerben. Andere haben sich ein Eigenheim oder eine Eigentumswohnung geschaffen. Dennoch sollte das Anliegen der Eigentumsbildung in Arbeitnehmerhand nicht in den Hintergrund gedrängt werden.

Immer noch gilt das Wort des Sozialrundschreibens Quadragesimo anno: Man muß „mit aller Anstrengung dahin ... arbeiten, daß wenigstens in Zukunft die neugeschaffene Güterfülle nur in einem billigen Verhältnis bei den besitzenden Kreisen sich anhäufe, dagegen aber im breiten Strom der Lohnarbeiterschaft zufließe“.[33]

Soziale Verpflichtung des Eigentums

Die Freiheit und Verantwortung der Person und damit auch die Freiheit und Verantwortung einer demokratisch verfaßten Gesellschaft dürfen nicht bloß in formalen Rechtsansprüchen bestehen, sondern müssen auch im persönlichen Eigentum begründbar sein. Freilich besagt das persönliche Eigentum nie ein absolutes Recht, sondern enthält immer auch eine soziale Verpflichtung: Das Recht auf Eigentum darf nie vom ursprünglichen Nutzungsrecht aller an den Erdengütern losgelöst werden.

6. Landwirtschaft

Dienst an der Natur

(41) Wenn wir von der Vermenschlichung der Arbeit und der Wirtschaft als sittlicher Grundforderung sprechen, dann gilt unsere besondere Sorge der Landwirtschaft und dem ländlichen Raum. Die Bauern haben den Auftrag Gottes zum „Bebauen und Behüten“ der Erde im wörtlichen Sinn zu ihrer persönlichen Aufgabe gemacht. Sie erfüllen in dieser Arbeit den Schöpfungsauftrag Gottes und erweisen dadurch der Menschheit einen unersetzlichen Dienst.

Sorgen der Landwirte

(42) Es kann nicht übersehen werden, daß sich die Landwirtschaft heute in Österreich in einer schweren Krise befindet, auch wenn sich diese Krise nicht überall in gleicher Weise darstellt. Nicht wenige Bauern klagen über einen massiven Einkommensschwund, der sie gegenüber anderen Bevölkerungsschichten benachteiligt. Eine Reihe von Bauern mußte schwere Verschuldungen auf sich nehmen. Eine große Anzahl landwirtschaftlicher Betriebe wurde aufgelassen oder in Nebenerwerbsbetriebe umgewandelt. Der Mangel an Arbeitskräften führt zu Überbelastungen, insbesondere der Frauen. Wir stellen in der bäuerlichen Bevölkerung nicht selten eine Hoffnungslosigkeit fest, verbunden mit einer wachsenden Unsicherheit über die Zukunft der Landwirtschaft, besonders im Hinblick auf die Folgen des gemeinsamen Europäischen Marktes.

Wir wissen, daß sowohl von seiten der Landwirtschaft selber als auch von seiten der öffentlichen Hand mit allem Ernst an der Lösung der Agrarfrage gearbeitet wird, die heute ein europa-, ja weltweites Problem darstellt.

Bäuerliche Landwirtschaft oder industrielle Nahrungsmittelproduktion

(43) Wir sind davon überzeugt, daß die bäuerlich strukturierte Landwirtschaft auch in Zukunft für die Versorgung der Bevölkerung mit gesunden Lebensmitteln die unmittelbare Verantwortung tragen soll. Dazu kommt aber als gleichwertige Aufgabe die Erhaltung und Pflege des ländlichen Naturhaushaltes und der natürlichen Lebensgrundlagen. Beide Leistungen müssen in engem Zusammenhang gesehen werden. Die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen wie Boden, Wasser, Luft und Wald ist von solcher Bedeutung, daß sie nicht bloß einer rationellen Nahrungsmittelproduktion untergeordnet werden darf.

Die Bedeutung für den ländlichen Raum

(44) Für den ländlichen Raum hat eine lebensfähige bäuerliche Landwirtschaft besondere Bedeutung. Die Bindung an das persönliche Eigentum hat eine wesentliche gesellschaftsstiftende Aufgabe; persönliche Verantwortung und Initiative werden zur alltäglichen Erfahrung. Der bäuerliche Familienbetrieb erbringt Leistungen, die nicht nur in wirtschaftlichen Größen, sondern auch in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung gemessen werden müssen. Trotz allem Wandel in der bäuerlichen Wirtschaft und im ländlichen Raum gibt es dort noch bedeutende kulturelle Werte: nachbarschaftliche Beziehungen erfahrbare Solidarität, religiöse und kulturelle Gemeindebildung. Sie dürfen in ihrer Auswirkung auf die Gesamtgesellschaft nicht unterschätzt werden.

Neue Formen der Partnerschaft und der Solidarität

(45) Daraus ergibt sich die Gemeinwohlbezogenheit der heutigen Agrarfrage. Die Lösung der Krise der Landwirtschaft kann nicht ausschließlich der ländlichen Bevölkerung aufgelastet, aber auch nicht dem bloßen Mechanismus des Marktes überlassen werden. Selbstverständlich werden auch die Bauern und ihre Berufsvertretungen ihren Beitrag leisten und sich um situationsgemäße Formen der Partnerschaft und Solidarität untereinander bemühen müssen. Das wird gerade für die Einrichtungen der bäuerlichen Selbsthilfe eine neue Herausforderuflg darstellen und sie zu einer Überprüfung und Neubesinnung verpflichten. Es besteht die Gefahr, daß Einrichtungen, die seinerzeit zur Selbsthilfe der Bauern gegründet wurden, mehr und mehr zum Selbstzweck werden.

Umweltgerechte Produktion
Verantwortung der Konsumenten

(46) Einen Strukturwandel hat es in der Landwirtschaft immer wieder gegeben, und er wird gerade im Blick auf die neu entstehenden größeren Wirtschaftsräume auch heute gefordert. Das kann im Einzelfall schmerzliche Opfer erfordern. Die größere Verantwortung aber liegt bei einer weitschauenden Agrar- und Regionalpolitik. Sie wird darüber mitzuentscheiden haben, ob einer Landwirtschaft, die bodenbezogen, kreislauforientiert und umweltverträglich arbeitet, der Vorzug gegeben wird oder einer industrielle betriebenen Nahrungsmittelproduktion. Die technisch-wirtschaftliche Entwicklung sollte in die Richtung einer umweltgerechten Produktion und einer artgerechten Tierhaltung gelenkt werden. Entscheidet man sich aber aus den oben angeführten Gründen für den Vorrang einer bäuerlichen Landwirtschaft, dann wird man um eine entsprechende Markt- und Preispolitik nicht herumkommen. Eine besondere Verantwortung kommt dabei den Konsumenten zu. Das steigende Bewußtsein über die Zusammenhänge zwischen gesunder Umwelt und gesunder Ernährung verlangt solidarische Unterstützung der Erzeuger von Lebensmitteln durch die Konsumenten.

Förderung des ländlichen Raumes

(47) Es müssen aber ebenso die landeskulturellen Leistungen anerkannt und finanziell abgegolten werden. Es ist notwendig, im ländlichen Raum neue Arbeitsplätze zu schaffen, damit eine bäuerliche Landwirtschaft die gesamte ländliche Bevölkerung in der Vielfalt von Voll-, Neben- und Zuerwerbsbetrieben existieren können. Der ländliche Raum kann nur durch moderne Infrastruktur, durch erweiterte Möglichkeiten der Bildung und Weiterbildung, der Kranken- und Altenbetreuung und der Freizeitgestaltung seine Anziehungskraft beibehalten und die Erfahrung von Solidarität vermitteln. Die Eindämmung der Abwanderung vieler Menschen, vor allem der Jugend, wird ein untrügliches Zeichen für eine neue soziale Gerechtigkeit im ländlichen Raum sein.

7. Schöpfung, Natur und Umwelt

Die Natur bedroht

(48) Wie nie zuvor sind die Menschen heute in Sorge um die Zukunft der Natur und Umwelt. Durch Jahrtausende wurde der Mensch von den Naturkräften bedroht. Jetzt bedroht der Mensch die Natur in einem Ausmaß, daß ihr kaum heilbare Schäden zugefügt werden und sie ihrerseits in neuer Weise den Menschen bedroht. Wir teilen die Sorgen und Ängste, die viele unserer Brüder und Schwestern bestimmen, und anerkennen ihren Einsatz für die Erhaltung der Schöpfung.

Bewahrung und Gestaltung der Schöpfung – ein religiöser Auftrag

(49) Wenn wir in unserem Sozialhirtenbrief zu den Fragen der Schöpfung, Natur und Umwelt Stellung nehmen, dann tun wir es entsprechend unserem religiösen Auftrag. Der biblische Schöpfungsbericht ist geprägt von der wiederkehrenden Aussage: „Und Gott sah, daß es gut war“ (Gen 1—2). Diese gute Schöpfung übergab Gott dem Menschen, daß er sie „bebaue und behüte“. Daraus folgt das Recht des Menschen, die Erde so in seinen Dienst zu nehmen, daß sie ihm dazu dient, „mehr Mensch zu werden“. Indem der Mensch in der Vielfalt seines persönlichen und gemeinschaftlichen Schaffens mehr Mensch wird, verherrlicht er seinen Schöpfer, dessen Bild und Gleichnis er ist. Bebauen und Behüten kann aber nicht bedeuten, den Garten Gottes zu gefährden und zu verwüsten, sondern stellt die Aufgabe, ihn in der Art der Vorsehung und Fürsorge Gottes zu pflegen und zu vollenden. Indem der Mensch durch das Werk seiner Hände und die Kraft seines Geistes die Geheimnisse der Natur entdeckt und die Welt sinnvoll ordnet, trägt er dazu bei, daß die Schöpfung immer eindrucksvoller die Größe und Nähe des Schöpfers darstellt.

Verantwortung für die kommenden Generationen

(50) Wenn immer Gott seinem auserwählten Volk Verheißungen, aber auch Mahnungen zukommen ließ, verband er sie mit dem Hinweis auf das Leben der kommenden Generationen. Er wollte nicht, daß sein Volk sich in die Gegenwart verlor, sondern daß es sich der Verantwortung für die Nachkommenschaft bewußt blieb. Wenn wir darum sagen, daß die Güter dieser Erde für alle Menschen bestimmt sind, dann gilt das nach dem Willen Gottes nicht nur für die Menschen von heute, sondern auch für die kommenden Generationen. Wir haben nicht das Recht auf schrankenlosen Gebrauch und Verbrauch, sondern die Pflicht und Verantwortung für die Welt und die Menschen von morgen.

In Christus erneuerte Schöpfung

(51) Schon der Schöpfungsbericht spricht darum von der Ursünde des Menschen, die nicht nur zu einer Entfremdung des Menschen von Gott und von sich selber führte, sondern auch zu einem „Aufruhr der Erde“.[34] Der Mensch tritt der Schöpfung nicht mehr in „Liebe und Weisheit“,[35] sondern in der Haltung des Egoismus und der Ausbeutung gegenüber.

Als Christen wissen wir, daß durch den Tod und die Auferstehung Christi nicht nur die Menschheit mit Gott versöhnt wurde, sondern daß es dem Vater gefallen hat, durch ihn alles zu versöhnen, „alles im Himmel und auf Erden“ (Kol 1,20). Damit wurde auch die Schöpfung erneuert und all das, was einst dem Tod und dem Verfall ausgeliefert war, erhielt ein neues Leben bis hin zur Erwartung eines neuen Himmels und einer neuen Erde. Wenn auch die Menschheit trotz des durch Christus geschenkten Heiles bis zu seiner Wiederkunft weiterhin dem Gesetz der Sünde unterworfen bleibt, so enthält sein Evangelium eine Frohbotschaft und eine Wegweisung für den Umgang mit der Schöpfung: es besteht eine innere Beziehung zwischen dem Frieden mit Gott und dem Umgang mit der Schöpfung.

Eigenwert der Schöpfung
Spannung zwischen Ökonomie und Ökologie

(52) Aus dieser religiösen Botschaft ergibt sich für den Christen ein ethisches Leitbild für den Umgang mit der Schöpfung. Zu allererst gilt es zu lernen, daß die Schöpfung und alles, was lebt, einen gottgewollten Eigenwert besitzt und nicht allein zum Nutzen des Menschen da ist. Der Ideologie eines grenzenlosen Wirtschaftswachstums durch willkürliche Ausbeutung der Natur ist die Ehrfurcht vor der und die Verantwortung für die Schöpfung entgegenzusetzen. Wo es zu Spannungen zwischen ökonomischen Wachstumsinteressen und ökologischen Erhaltungsinteressen kommt, muß dafür gesorgt werden, daß eine menschenwürdige Umwelt gesichert bleibt. Darum ist jeder wissenschaftlich-technische Fortschritt darauf zu überprüfen, ob er umweltverträglich ist und nicht zu Folgen führt, die eine schwere Gefährdung für den Menschen darstellen.

Kritische Selbstprüfung in ökologischen Fragen

(53) Aus diesem religiös-ethischen Leitbild ergeben sich Verpflichtungen für das konkrete Handeln:
Die Verantwortung für Schöpfung, Natur und Umwelt gehört zu den ganz persönlichen Pflichten des Einzelmenschen und seiner unmittelbaren Lebensgemeinschaft. Im persönlichen Lebensstil, im selbstkritischen Gebrauch der technischen Mittel, in der sparsamen Verwendung von Rohstoffen und Energie, im sorgfältigen Umgang mit Schadstoffen, in der Vermeidung von Abfällen, welche die Umwelt belasten, entscheidet sich bereits ein wesentlicher Teil der Verantwortung für Natur und Umwelt. Ohne eine kritische Selbstprüfung und Umkehr auf der persönlichen Ebene lässt sich die ökologische Frage nicht menschengerecht lösen. Es braucht eine „Bekehrung in der Art des Denkens und des Verhaltens“.[36]

Initiativen von Gruppen und Organisationen

(54) Auch in der ökologischen Frage darf nicht alles vom Staat erwartet werden. Es gilt auch hier das Subsidiaritätsprinzip, das Grundgesetz der gestuften Selbsthilfe. Pfarrgemeinden, Ortsgemeinden, Sozialverbände und andere Vereinigungen haben Verantwortung wahrzunehmen. Wenn es darum geht, unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu verteidigen, dann muß auch manchmal ein klares Nein zu bestimmten Vorhaben gesagt werden. Eine besondere Aufgabe haben hier die Verantwortlichen der Wirtschaft. Wir alle werden uns noch kritischer fragen müssen, ob wir den Raubbau an gewissen Ressourcen noch hinnehmen dürfen, oder ob wir nicht bereits zu einem radikalen Umdenken gezwungen sind.

Staatliche Maßnahmen

(55) Es zeigt sich immer deutlicher, daß die Bedrohung von Schöpfung, Natur und Umwelt bereits ein solches Ausmaß angenommen hat, daß ein direktes Eingreifen des Staates notwendig geworden ist. Die Erhaltung und Wiederherstellung einer menschenfreundlichen Natur und Umwelt werden Opfer und Verzicht auch wirtschaftlicher und finanzieller Art verlangen. Sie müssen in solidarischer Haltung eingefordert und geleistet werden. Dazu ist der Staat im Namen des Gemeinwohles berechtigt und verpflichtet.

Weltweite Zusammenarbeit

(56) Die Bedrohung von Schöpfung, Natur und Umwelt läßt sich heute nicht mehr bloß innerstaatlich bewältigen. Die Ursachen sind überstaatlich und weltweit geworden und darum müssen auch weltweite Lösungen angestrebt werden. Die Kirche begrüßt und unterstützt dieses Bemühen. Sie weist dabei aber auch auf eine andere Aufgabe hin, die ebenso vordringlich ist: Die Bedrohung der Natur und Umwelt auf weltweiter Ebene hängt mit dem Elend der Entwicklungsländer zusammen. Die Ausbeutung des Bodens, das Abholzen der Wälder, das unkontrollierbare Wachstum der Städte, können nur durch eine schrittweise, aber sehr bewußte wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung der Völker eingedämmt werden. Solange diese „Strukturen der Armut“[37] weiterbestehen und sogar noch anwachsen, wird auch die Bedrohung der Natur und Umwelt weiterbestehen und zunehmen.

Mitarbeit der Kirche am Bewußtseinswandel

(57) Wir sind uns bewußt, daß diese Umkehr und Bekehrung auf verschiedenen Ebenen eine umfassende Bewußtseins- und Gewissenbildung erfordert. Ohne eine breite Zustimmung von seiten der Bevölkerung lassen sich die dringend erforderlichen Maßnahmen weder auf innerstaatlicher, noch auf weltweiter Ebene durchführen. Wir wollen mit aller Entschiedenheit an diesem Bewußtseinswandel mitarbeiten. Für die Kirche geht es dabei keineswegs um eine bloß profane Angelegenheit, sondern um einen Auftrag, der mit dem Willen Gottes zu tun hat.

III. Gesellschaft in Solidarität und Verantwortung

Arbeit und Wirtschaft prägen das Zusammenleben

(58) In Arbeit und Wirtschaft entscheidet sich Wesentliches für die soziale Kultur unseres Landes. Gelingt es, in Arbeit und Wirtschaft „mehr Mensch zu werden“, so wirkt sich diese Erfahrung befreiend und befruchtend auf die übrigen Bereiche des gesellschaftlichen Leben aus: auf Ehe und Familie, auf das Leben in Nachbarschaft und Gemeinde, auf die Gestaltung der Freizeit, auf die Einstellung zum Staat. Erfährt der Mensch Arbeit und Wirtschaft als Bedrückung und Entfremdung, dann bestimmt diese negative Erfahrung nur allzuoft auch sein Verhalten im Alltagsleben.

1. Glaube, Gemeinschaft und Gesellschaft

Leben in Gemeinschaft nach dem Auftrag Gottes

(59) Leben in Gesellschaft ist für die Christen nicht zuerst ein Problem der Organisation und der Rechtsordnung, wie wichtig diese auch sein mögen. Leben in Gemeinschaft und Gesellschaft hat für sie wesentlich mit dem Willen des Schöpfers und dem Auftrag Christi zu tun. Von dort bezieht die Kirche letztlich die Berechtigung, aber auch die Verpflichtung zu ihren Aussagen über das gesellschaftliche Leben.

Das Wort des Schöpfers „Es ist nicht gut, daß der Mensch allein bleibt“ (Gen 2,18), hat eine umfassende Bedeutung. Es bezieht sich ursprünglich auf die Kernzelle jeder Gesellschaft, auf Ehe und Familie: „Als Mann und Frau schuf er sie“ (Gen 1,27). Dann aber hat dieses Wort auch eine grundsätzliche Bedeutung für jedes zwischenmenschliche Leben.

Entfaltung des Menschen in Gemeinschaft

(60) Geschaffen nach dem Bild des dreifaltigen Gottes kann der Mensch den in ihm grundgelegten Reichtum nur in Begegnung und Austausch mit der Vielheit und Verschiedenheit der Mitmenschen verwirklichen: in Liebe und Freundschaft, in Wohngemeinschaft und Nachbarschaft, in der gemeinsamen Arbeit, in den Werken der Kultur, in der religiösen Gemeinde, im Leben des Staates. Der Mensch sucht das „Du“ und braucht das „Du“, um jenes „Ich“ zu werden, das Gott ihm zugedacht hat.

Deshalb gilt: „Es ist nicht gut für den Menschen, daß er allein bleibt“, oder wie das II. Vatikanische Konzil formuliert: „Da das gesellschaftliche Leben für den Menschen nicht etwas äußerlich Hinzukommendes ist, wächst der Mensch nach all seinen Anlagen und kann seiner Berufung entsprechen durch Begegnung mit anderen, durch gegenseitige Dienstbarkeit und durch den Dialog mit den Brüdern.“[38] Entfaltung der Person und Entfaltung der Gesellschaft bedingen sich gegenseitig.

Im Zusammenleben die Menschenfreundlichkeit Gottes erfahren

(61) Leben in Gemeinschaft und Gesellschaft dient nach dem Plan Gottes nicht nur der Entfaltung und Vollendung des Menschen, sondern wesentlich auch der Darstellung und Verkündigung dessen, der der Geber alles Guten ist. Wo immer im Zusammenleben und Zusammenwirken von Menschen Liebe, Freude Kraft, Trost und Hoffnung geschenkt und empfangen werden, ereignet sich in Teilhabe Offenbarung der Liebe und Menschenfreundlichkeit Gottes. Wir wissen aus der Alltagserfahrung, wie leicht Menschen durch die Erfahrung von Kälte und Grausamkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen, von Unrecht und Lüge im gesellschaftlichen Leben an Gott irre werden, wie oft sie aber auch durch ein geglücktes Leben in Gemeinschaft die Größe und Güte Gottes erfahren. Durch das Leben in Gemeinschaft wird nicht nur der ganze Reichtum des Geschöpfes Mensch entfaltet, in ihm spiegelt sich auch die Vollkommenheit des liebenden Gottes, die sich im isolierten Einzelmenschen nicht darstellen kann.[39]

Jesus – und sein neues Gebot der Liebe

(62) Für Christen erhält das Leben in Gemeinschaft eine neue Begründung und Zielsetzung durch Christus, der in allem uns gleich geworden ist, außer der Sünde (Eucharistisches Hochgebet IV). Er ist Mensch geworden im Kreis der Familie und aufgewachsen in der dörflichen Gemeinschaft. Er sammelte einen Freundeskreis von Jüngern und Frauen um sich und gab ihnen ein neues Gebot: „Liebet einander, so wie ich Euch geliebt habe“ (Joh 15,12). Nach seinem Evangelium gründet das Leben in Gemeinschaft in den brüderlichen und schwesterlichen Beziehungen der Menschen zueinander.

Das Geschenk der Erlösung

(63) Daß Egoismus als Mangel an Solidarität die große Bedrohung des Lebens in Gemeinschaft darstellt, erfuhr Christus selber. Er hat diese Erfahrung auf ihre letzte Wurzel zurückgeführt: auf die Sünde und in ihr auf die Angst des unerlösten Menschen um sich selbst. Darum schafft sein Sterben am Kreuz auch die grundsätzliche Überwindung alles dessen, was Leben in Gemeinschaft gefährdet und zerstört. Und darum bringen seine Auferstehung und das Geschenk seines Pfingstgeistes eine neue Hoffnung und neue Kraft für ein gottgesegnetes Leben in Gemeinschaft und Gesellschaft. Trotz allem Weiterbestehen von Egoismen, Aggressionen und unmenschlichen Strukturen ist dem Leben in Gemeinschaft die verwandelnde Kraft der Erlösung geschenkt. Das gibt den Christen die zuversichtliche Kraft, sich für eine menschengerechte Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens einzusetzen.

Kirche stiftet Gemeinschaft

(64) Damit ist eine weitere Zusage des Evangeliums verbunden: Christus hat sein geoffenbartes Wort und das von ihm gestiftete Heil der Gemeinschaft der Kirche anvertraut. Er ist als Haupt seiner Kirche und durch die Kirche als lebendige
Gemeinschaft gegenwärtig. So bestätigt er endgültig, wie bedeutsam und heilbringend nach Gottes Plan Leben in seiner Gemeinschaft ist.

2. Ehe und Familie

Lebendiges Anliegen

(65) Eine Tatsache hat uns im Vorbereitungsprozeß dieses Hirtenbriefes besonders beeindruckt: Das Thema Ehe und Familie wurde am häufigsten angesprochen. Dabei ging es nicht bloß um wirtschaftliche Probleme der Familie. Immer wieder wurde betont, daß die Problematik der heutigen Ehe und Familie viel umfassender und grundsätzlicher Natur ist.

Stellungnahmen der Kirche

Wir können in diesem Sozialhirtenbrief nicht alle Probleme der Ehe und Familie behandeln. Wir müssen auf eine Reihe anderer kirchlicher Dokumente verweisen[40] und beschränken uns hier auf jene Fragen, die aus Anlaß dieses Hirtenbriefes an uns herangetragen wurden und die wir selber im Blick auf die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens als vorrangig ansehen.

Neue Akzente

(66) Es ist erwiesen, daß Ehe und Familie in der Überzeugung und im Leben unseres Volkes nach wie vor eine vorrangige Bedeutung haben. Das gilt keineswegs nur für die ältere Generation, sondern auch für die Jugend. Das schließt durchaus ein, daß in der Bewertung und noch mehr In der praktischen Gestaltung von Ehe und Familie bedeutende Veränderungen angestrebt werden: Genannt seien das Bemühen um mehr Selbstbestimmung der Ehepartner, um verantwortete Elternschaft, um die Gleichberechtigung von Mann und Frau und um die Verwirklichung der ehelichen Gemeinschaft, auch in Form einer partnerschaftlichen Arbeitsteilung in Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit.

Zentrale Bedeutung in Frage gestellt

Alle diese Gesichtspunkte lassen aber nicht übersehen, daß wir dennoch von einer Krise der Ehe und Familie sprechen müssen. Sie hat viele Ursachen geistig-religiöser ‚ wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Art. Unter diesen sind solche, welche die Kirche in besonderer Weise betreffen und herausfordern. Hier geht es uns vor allem um die Krise des gesellschaftlichen Standortes von Ehe und Familie.

Wirtschaftliche Benachteiligung

(67) Wir müssen feststellen, daß Familien mit mehreren Kindern immer noch erhebliche wirtschaftliche Benachteiligungen erfahren. Wir erleben die Schwierigkeiten vieler Familien, insbesondere der Frauen, die Familienarbeit mit der außerhäuslichen Berufsarbeit in Einklang zu bringen. Wir hören Klagen über den Mangel an familienergänzenden Hilfen bei der Betreuung und Erziehung von Kleinkindern, bei der Pflege von alten und kranken Menschen und nicht zuletzt bei der häuslichen Begleitung von Sterbenden. Wir verweisen auf die immer noch mangelhafte Berücksichtigung der Erziehungszeiten in der gesetzlichen Altersversorgung. Wir sind in Sorge über die Wohnungsnot kinderreicher Familien, aber auch jener junger Menschen, die am Beginn ihrer Ehe stehen.

Gegenläufige Tendenzen

Wir sehen, daß in Österreich die Familie als Kernzelle einer gesunden Gesellschaft zurückgedrängt wird. Das geschieht, obwohl in der Bevölkerung der Wunsch nach einem geordneten Familienleben außerordentlich hoch ist. Zugleich leiden aber immer mehr Menschen darunter, daß dieser ihr Wunsch aus persönlichen und gesellschaftlichen Gründen immer schwerer lebbar ist. Dazu tragen auch kulturelle Tendenzen bei, die sich mehr am Leitbild individueller Selbstverwirklichung und persönlichen Wohlergehens orientieren als an der Stärkung der gesellschaftlichen Kernzelle Familie. Das mag zwar kurzfristig zu einem breiten Konsens und zu äußerem politischen Erfolg führen, auf weite Sicht gesehen hat aber die Gesellschaft selber an den schwerwiegenden schädlichen Folgen zutragen. Die Kirche kann auch nicht hinnehmen, daß Ehe und Familie durch die Begünstigung konkurrierender Lebensformen in Bedrängnis geraten. Es schadet am Ende sowohl den Erwachsenen wie den heranwachsenden Kindern, wenn es immer weniger Lebensräume gibt, die von Stabilität durch Treue und Liebe geprägt sind.

Ehe und Familie in der Schöpfungsordnung

(69) Wir sind der Überzeugung, daß Ehe und Familie nicht nur einem erst vom Christentum geschaffenen Leitbild entsprechen, sondern eine Einrichtung sind, die in ihrem innersten Kern der Schöpfungsordnung entspringt und darum für das gesellschaftliche Leben der Menschen allgemein verpflichtend ist. In der ehelichen Liebe erfahren Menschen am tiefsten den Reichtum des Lebens in Gemeinschaft. In der Familie werden den Kindern zuerst die Grundwerte des persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens vermittelt. Durch das Wort Gottes und die Botschaft Christi erhält dieses Leitbild einen neuen religiösen Inhalt und eine neue Verpflichtung. Die christliche Ehe bezeichnet „das Geheimnis der Einheit und der fruchtbaren Liebe zwischen Christus und der Kirche“.[41]

Eine gesellschaftsstiftende Kraft

(70) Ausdrücklich erklärt das II. Vatikanische Konzil: „Das Wohl der Person sowie der menschlichen und christlichen Gesellschaft ist zuinnerst mit einem Wohlergehen der Ehe und Familiengemeinschaft verbunden.“[42] Die Entfaltung und Verwirklichung des Menschen wird also primär in der gebenden und empfangenden Begegnung innerhalb der Familie grundgelegt. Die menschliche Gesellschaft als solche empfängt durch die gesellschaftsstiftende Kraft der Ehe und Familie in ihrer Grundlegung, in ihrem Zusammenhalt und in ihrer menschengerechten Gestaltung einen Beitrag, der aus anderen Kräften nicht bezogen werden kann.

Anerkennung und Sorge

Wenn wir die gesellschaftliche Bedeutung von Ehe und Familie mit solcher Deutlichkeit betonen, dann sind wir uns der vielfältigen Krise der heutigen Gestalt von Ehe und Familie durchaus bewußt. Wir wollen damit auch kein voreiliges Urteil über die persönliche Notlage einzelner Menschen aussprechen. Wir anerkennen das Bemühen der öffentlichen Hand und anderer gesellschaftlicher Kräfte, die sich gerade in letzter Zeit für das Wohl von Ehe und Familie eingesetzt haben. Trotzdem fühlen wir uns zu dieser besorgten Aussage verpflichtet.

Wirtschaftliche Benachteiligung ausgleichen

(71) Daraus ergeben sich drei Folgerungen, die wir kurz so zusammenfassen möchten:
Erstens: Die Familie braucht mehr denn je einen gesicherten wirtschaftlichen Lebensraum. Die Familie erweist durch die Erziehung der Kinder der Gesellschaft von morgen einen unersetzlichen Dienst. Die Gesellschaft ist darum verpflichtet, alles zu tun, um nicht die Familie, insbesondere die kinderreiche und die Familie Alleinerziehender, wirtschaftlich zu diskriminieren.

Wenn sich Eltern dafür entscheiden, daß ein Teil entweder ganz oder zeitweise nicht berufstätig ist, um sich ganz der Familie, der Erziehung der Kinder, der Pflege von alten und kranken Menschen und der häuslichen Begleitung von Sterbenden zu widmen, dann muß in der Familienpolitik dafür Sorge getragen werden, daß die damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Nachteile ausgeglichen werden. Das kann konkret in Form einer familienfreundlichen Steuerpolitik, von Kindergeld, Erziehungsgeld, Anerkennung der Erziehungszeiten in der Sozialversicherung und für den Pensionsanspruch geschehen. Auf keinen Fall dürfen materielle Zuwendungen an die Familie als bloßes Entgegenkommen oder Gunsterweis angesehen werden. Sie sind ein Rechtsanspruch der Familie an die Solidarität der Gesellschaft, für deren Zukunftssicherung sie die unersetzliche Voraussetzung schafft.

Familiengerechte Gestaltung der Arbeitswelt

(72) Zweitens: Die Familie braucht aber auch ihren sozialen Lebensraum. Gewiß bestehen in Arbeit und Wirtschaft Notwendigkeiten, die berücksichtigt werden müssen. Aufgrund des technisch-wissenschaftlichen Wandels eröffnen sich aber neue Möglichkeiten, Arbeitsformen und Arbeitszeiten mehr den Bedürfnissen der Menschen anzupassen. Wir
möchten in aller Dringlichkeit die Forderung stellen, Arbeitsformen und Arbeitszeiten so zu gestalten, daß der soziale Lebensraum der Familie wiederhergestellt und erweitert wird, daß sich Eltern und Kinder wieder regelmäßiger begegnen können, daß der Familie wieder längere Zeiten des gemeinsamen Lebens und Erlebens zur Verfügung stehen. Hier eröffnet sich ein weites Feld der Verantwortung der Wirtschaft für gesamtgesellschaftliche Anliegen.

Die Sicherung und Erweiterung des sozialen Lebensraumes der Familie erschöpfen sich aber nicht in wirtschaftlichen Reformen. Es braucht dazu auch gesellschaftliche Initiativen. Je mehr der moderne Wirtschafts- und Arbeitsprozeß den sozialen Lebensraum der Familie einengt, um so mehr braucht er ergänzende zwischenmenschliche Einbindungen. Das kann in vielen Formen der Freundschaft der Familien untereinander, aber auch durch familienfreundliche Angebote von seiten der Nachbarschaft, der Pfarren, Ortsgemeinden und freiwilliger Gruppen geschehen.

Sittliche und kulturelle Werte fördern

(73) Drittens: Die Familie braucht schließlich auch einen kulturellen Lebensraum. Ehe und Familie geraten nicht nur in wirtschaftliche Engpässe und in eine Verarmung ihres sozialen Lebensraumes. Auch der geistig-kulturelle Lebensraum der Ehe und Familie wird enger, ihr sittlicher Wert ausgehöhlt, relativiert und aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit verdrängt. Die Sexualität, insofern sie zwischenmenschliche Liebe zum Ausdruck und zum Wachsen bringt, wird weithin von ihrer Hinordnung auf die Ehe getrennt. Aus kommerziellen Interessen wird sie zum allgemeinen Konsumgut herabgewürdigt, in der Werbung mißbraucht und in der menschenentwürdigenden Pornographie entstellt.

… und schützen

Die geistigen Werte einer Gesellschaft können nicht obrigkeitlich verordnet werden. Damit ist aber keineswegs gesagt, daß nicht auch das geistig-sittliche Gemeinwohl der ergänzenden Hilfe und des wirksamen Schutzes des Staates bedarf. Das gilt in besonderer Weise für den Schutz der Familie. Die Bischofssynode von 1980 betonte ausdrücklich, daß die Familien und die gesellschaftlichen Kräfte selbst die unmittelbare Verantwortung für die Erhaltung und Verteidigung des Grundwertes Familie haben. Sie sagte aber ebenso eindeutig: „In der Überzeugung, daß das Wohl der Familie einen unersetzlichen und unverzichtbaren Wert für das Zusammenleben der Bürger darstellt, müssen die staatlichen Autoritäten ihr Möglichstes tun, um den Familien alle jene Hilfen auf wirtschaftlichem, sozialem, erzieherischem, politischem und kulturellem Gebiet zu sichern, die sie brauchen, um in menschenwürdiger Weise ihrer vollen Verantwortung nachkommen zu können.“[43]

Familienfreundliche Kirche

(74) Wir wollen uns dieser Verantwortung für die Familien selber verpflichten: Wir werden in Zukunft der Ehe und Familie in ihrer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und
religiösen Not weiterhin die volle Aufmerksamkeit zu widmen haben. Die Kirche wird auch in ihrem eigenen Bereich die Voraussetzungen verbessern müssen, so daß es für ihre Mitglieder möglich ist, Ehe und Familie überzeugend zu leben.

3. Frauen

Zeichen der Zeit

(75) Schon 1963 zählte Johannes XXIII. in seinem Rundschreiben über den Frieden folgende drei Zeichen der Zeit auf, die die Welt von heute charakterisieren: der eindrucksvolle Aufstieg der werktätigen Menschen, das Ringen der Entwicklungsländer um wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Fortschritt, das neue Bewußtsein um die Würde der Frau und ihre gesellschaftliche Stellung.[44]

Wenn das II. Vatikanische Konzil die Kirche dazu verpflichtet, die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums zu interpretieren, dann muß sie heute ein deutliches Wort zu dieser neuen Stellung der Frau sagen. Sie hat das in theologisch-religiöser Sicht in einer Reihe von neueren Dokumenten getan.[45] In diesen Dokumenten ist die Grundposition der Kirche hinsichtlich der fundamentalen Gleichheit der Geschlechter in ihrer Würde so eindeutig ausgesprochen, daß sie nicht wiederholt werden muß. Uns geht es hier um einige konkrete Auswirkungen für unser Land.

Frauen prägen die Gesellschaft

(76) Wir Wissen um die große Mehrheit der Frauen in Österreich, die – sei es in Ehe und Familie, sei es als Unverheiratete – trotz aller Belastungen in einer eindrucksvollen christlichen Haltung mutig ihr eigenes Leben gestalten und in Familie und im öffentlichen Leben einen unersetzlichen Beitrag zum Bestand und Wohlergehen unseres Volkes leisten.

werden aber vielfach benachteiligt

(77) Im Wissen um diese positiven Werte müssen wir dennoch auch einer ernsten Sorge Ausdruck geben. Im kirchlichen Dokument über die Berufung und Sendung der Laien wird gefordert, daß „auf die vielen Diskriminierungen, denen die Frau zum Opfer fällt“, eine „umfassendere und entschiedenere Antwort“ gegeben werden müsse.[46] Diskriminierungen, die die Frau deshalb erfährt, „weil sie Frau ist“, treten in verschiedener Weise in Erscheinung: wenn die Frau am Arbeitsplatz benachteiligt wird; wenn sie für die gleichwertig geleistete Arbeit einen niedrigeren Lohn erhält als der Mann; wenn ihre Erziehungsarbeit in der Familie in der Sozialgesetzgebung nicht die entsprechende Anerkennung findet; wenn sie nach den Jahren der Mutterschaft wieder in die Berufsarbeit zurückkehren will und keine Einstiegs- und Aufstiegsmöglichkeiten mehr vorfindet; wenn man sie als ein Werkzeug des egoistischen Interesses und der Lust versteht, das man kaufen oder verkaufen kann.

Besonders alleinerziehende Frauen

Solche Formen der Diskriminierung belasten in besonderer Weise alleinerziehende Frauen. Viele Probleme der Familie treffen sie in verschärfter Weise. Die Verantwortung für die Erziehung und den Unterhalt der Kinder bedeutet für sie eine doppelte Belastung. Oft sind sie zur Ganztagsarbeit gezwungen, finden aber nicht die notwendigen familienergänzenden Hilfen wie Kindergärten, Heime und Horte vor. Dazu kommen häufig gesellschaftliche Vereinsamung und zwischenmenschliche Isolation.

Neubestimmung von Familien- und Erwerbsarbeit

(78 Unsere grundsätzliche Stellungnahme zum gesellschaftlichen Standort der Frau geht in eine zweifache Richtung:

Die erste bezieht sich auf die gesellschaftlichen Einrichtungen und Strukturen. Grundsätzlich darf die Gesellschaft eine Mutter mit Kindern nicht dazu zwingen, aus wirtschaftlicher Notwendigkeit einer Erwerbsarbeit zu übernehmen. Das Sozialrundschreiben über die menschliche Arbeit bezeichnet das im Blick auf das Gemeinwohl der Familie und der Gesellschaft als „widersinnig“.[47] Dabei ist sich die Kirche bewußt, daß Frauen keineswegs nur aus materiellen Überlegungen außerhäusliche Arbeiten annehmen. Oft wird dies für Frauen nur dann ohne Überlastung und schlechtes Gewissen möglich sein, wenn die Männer ihrerseits sich mehr als bisher ihrer familiären Aufgaben annehmen. Dies wird den Männern nicht gelingen ohne entsprechende Veränderungen in Arbeit und Wirtschaft.

Flexible Aufgabenteilung

Es geht in der heutigen Auseinandersetzung in Wirtschaft und Gesellschaft darum, der Frau in weithin von Männern dominierten Einrichtungen und Strukturen die Gleichberechtigung zu verschaffen. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Einrichtungen wären so zu beeinflussen und zu verändern, daß sie eine flexiblere Aufgabenteilung von Mann und Frau in Familie, Arbeit und Freizeit ermöglichen. Daß es sich hier keineswegs um utopische Forderungen handelt, zeigen die heutigen Bemühungen um flexible Arbeitszeiten und Teilarbeitszeiten, um einen wahlweisen Karenzurlaub, um Unternehmensplanungen, die bewußt den Wiedereinstieg der Frau in die Berufsarbeit verbunden mit neuen Aufstiegschancen berücksichtigen.

Bewußtseinswandel bei Frauen und Männern

(79) Die zweite Forderung des Rundschreibens über die menschliche Arbeit lautet: Wenn Frauen berufstätig sind, gleich ob verheiratet oder alleinstehend, dann sollen sie dies tun können „ohne Diskriminierungen und ohne Ausschluß von Stellungen, für die sie befähigt sind“.[48] Diese Forderung betrifft vor allem eine Änderung des Bewußtseins in der Gesellschaft.

Es ist äußerst mühsam, geschichtlich bedingte Vorurteile, die sich in gesellschaftlichen Strukturen verfestigt haben, abzubauen und „durch die wahre Ehrfurcht vor den Menschenrechten der Frau“ zu ersetzen.[49] Dieser Bewußtseinswandel läßt sich nicht verordnen, er muß in der Hausgemeinschaft beginnen und von den gesellschaftlichen Kräften mitgefördert werden. Die Frauen selber haben in diesem Bemühen eine große Aufgabe, insbesondere die christlichen Frauen und ihre Organisationen. Weil aber diese Veränderungen, die die Frauen wünschen, nicht ohne die Mitarbeit der Männer vorankommen, sind auch die Männer und ihre Organisationen sowohl aus eigenem Interesse wie aus Solidarität mit den Frauen gehalten, gestaltend mitzuwirken.

auch in der Kirche

(80) Die Kirche ist zu diesem Bewußtseinswandel in besonderer Weise verpflichtet. Würde und Rechte der Frau haben nicht nur in der Geschichte der Menschheit, sondern auch in der Geschichte der Kirche nicht immer die gebührende Anerkennung gefunden. Wenn aber heute die Kirche die volle Anerkennung der Würde und Rechte der Frau als Zeichen der Zeit erkennt, dann muß das für die Kirche zum unüberhörbaren Imperativ werden.

4. Jugend

Herausforderungen in Wirtschaft und Gesellschaft

(81) Wir haben in unserem Sozialhirtenbrief besonders auch die jungen Menschen im Blick, beschränken uns dabei aber auf jene Fragen, die unmittelbar mit ihrer Stellung in Wirtschaft und Gesellschaft zu tun haben. Beim österreichischen Katholikentag 1983 formulierte Johannes Paul II. die Anliegen der Jugend so: „Ihr wollt eine Gesellschaft mit mehr Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Ihr wollt eine Gesellschaft mit mehr Verantwortungsbewußtsein gegenüber Mensch und Umwelt, mit mehr Toleranz und vor allem mit mehr Frieden“ (10.9.1983). Nicht nur auf die gängigen Klagen und Anklagen über die Jugend hat sich der Papst eingelassen, sondern auf ihre positiven Ziele und Aufgaben. Dies wollen auch wir versuchen.

Die tiefgreifenden Veränderungen in Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft stellen vor allem für junge Menschen eine große Herausforderung dar. Man ruft nach Nachwuchskräften, die über eine hohe Berufsqualifikation, eine breit angelegte, fachübergreifende Ausbildung, über Anpassungsfähigkeit und Kreativität verfügen. Auch bei hoher Motivation, ehrlichem Interesse und großer Einsatzbereitschaft kann dies zur Überforderung werden.

Sorge um die Jugend

(82) Wenn wir heute von der Notwendigkeit einer neuen Solidarität sprechen, dann muß sich diese gerade in der Sorge um die Jugend bewähren: nicht in allgemeinen Deklarationen, sondern in konkreten Maßnahmen. Jeder Jugendliche hat das Recht auf eine qualifizierte Erstausbildung, die seiner Begabung und seiner Neigung entspricht und gleichzeitig realistische Arbeitschancen eröffnet. Dazu braucht es eine umfassende Beratung und eine enge Zusammenarbeit zwischen den Jugendlichen selber, den Eltern, den Schulen und den öffentlichen Einrichtungen. Sie darf sich nicht auf eine flüchtige Beratung am Ende der Schulzeit beschränken, sondern muß die jungen Menschen in einer mehrstufigen Berufsorientierung begleiten. Den Eltern, aber auch den Jugendlichen selber muß in aller Deutlichkeit klargemacht werden, daß die Chancen auf dem Arbeitsmarkt wesentlich von der qualifizierten Ausbildung und einer realistischen Berufsentscheidung abhängen.

Hilfen für Schwächere

Es darf nicht aufgrund des Versagens der Gesellschaft und des Staates zu einer Klassentrennung zwischen Gutausgebildeten und jugendlichen Randschichten kommen, die einer erhöhten Gefahr der Arbeitslosigkeit ausgesetzt sind. Die Solidarität mit der jungen Generation verlangt, daß gerade den Schwächeren im Wettbewerb durch gezielte Hilfsmaßnahmen Chancengerechtigkeit verschafft wird. Das gilt in besonderer Weise für jugendliche Behinderte.

Orientierung in der Gesellschaft

(83) In unseren Begegnungen mit jungen Menschen erfahren wir immer wieder: Sie kommen aus einer Umwelt, die ihnen durch Familie, Schule und Medien nur Fragmente von Lebensorientierung vermittelt hat. Sehr früh wurden sie in die Konflikte der Erwachsenen hineingezogen. Es wurden Fragen aufgeworfen, aber keine Antworten gegeben. Sie wuchsen auf in einer Gesellschaft mit rivalisierenden Gruppeninteressen und sich wiederholenden Skandalen, die lähmende Hilflosigkeit hervorrufen. Nicht wenige Jugendliche beschreiten einen naheliegenden Weg: Sie richten sich aus der Fülle der aufgedrängten Angebote ihren Lebensplan selber zurecht. Attraktives wird angenommen, Hindernisse werden umgangen. Bindungen werden vermieden, um jederzeit aussteigen zu können. Aber auch diese unsere Erfahrung beschreibt oft nur die äußere Erscheinung. Sie ist ein Ausdruck eines viel tieferen Konfliktes bei ihrer Selbstfindung inmitten einer Gesellschaft mit wenig glaubwürdigen Orientierungshilfen.

Soziales Engagement von Jugendlichen

(84) Wir begegnen auch vielen jungen Menschen mit einer sehr kritischen und selbstkritischen Grundhaltung, mit einer ausgesprochenen Bereitschaft zum sozialen Engagement und mit einem Durchhaltevermögen, das beeindruckt. Sie leiden an der Zerrissenheit unserer Gesellschaft, am Widerspruch zwischen äußeren Fassaden und innerer Leere, an der Erstarrung der Institutionen. Trotzdem lassen sie sich nicht entmutigen und glauben an ihre Zukunft. Dies gibt auch uns viel Zuversicht.

Verantwortung für die Zukunft

(85) Niemand kann der Jugend ihre eigene Verantwortung für die Zukunft abnehmen oder ihr etwas aufzwingen, was sie nicht innerlich bejaht. Unsere Gesellshaft kann und muß aber Voraussetzungen dafür schaffen, daß sich die Jugend angesprochen und herausgefordert erfährt. Unsere Jugend soll erfahren, daß sie gerade dort, wo über ihre eigenen Anliegen entschieden wird, gebraucht und zur Mitverantwortung gerufen wird; daß sie im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben Werte und Ziele erkennen kann, die gelebte Wirklichkeit sind; dass es sich lohnt, sich im öffentlichen Leben einzusetzen, weil Reformen nicht bloß zu Propagandazwecken versprochen werden, sondern überprüfbare Wirklichkeit geworden sind; daß junge Menschen erfahren, daß unsere Gesellschaft nicht nur das eine Ziel kennt: Steigerung des materiellen Wohlstandes, sondern daß es auch Wahrheiten, Werte und Ziele gibt, die über den engen Egoismus hinausführen: Menschenwürde, Gerechtigkeit, Solidarität mit den Armen und Verantwortung für die Schöpfung.

Glaubwürdigkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen

(86) Die Solidarität mit den Anliegen der Jugend muß in den gesellschaftlichen Gebilden und Strukturen konkrete Gestalt annehmen. Deshalb haben wir sosehr die Bedeutung von Ehe und Familie betont, darum haben wir die Ausbildung und die Vermittlung von Berufschancen für die Jugend hervorgehoben. Darum erscheint es uns so wichtig, daß die öffentliche Meinung nicht einseitig von Korruption und Skandalen bestimmt wird, sondern von glaubwürdigen Versuchen zur Vermenschlichung von Wirtschaft und Gesellschaft. Die Bereitschaft junger Menschen zur gesellschaftlichen Verantwortung ist ein zu kostbares Gut, als daß sie aufs Spiel gesetzt werden darf.

Anfragen an die Kirche

(87) In der Sorge um die Jugend besinnen wir uns auch auf unsere eigene Verantwortung. Wir erfahren in den Kontakten mit vielen jungen Menschen, daß sie es auch schwer haben — so sagen sie — in der Begegnung mit der Kirche, daß sie in ihr Strukturen begegnen, die sie ablehnen, Haltungen, die sie abstoßen. Es ist unmöglich, in diesem Rahmen eine ausreichende Antwort zu geben. Kritische Anfragen nehmen wir aber sehr ernst.

Verantwortung in der Kirche

Wenn wir von Wirtschaft und Gesellschaft heute eine neue Solidarität mit der Jugend verlangen, dann muß das auch für die Kirche gelten. Wir wollen die Jugend in ihrer Suche nach einem sinnvollen Leben nicht allein lassen. Wir teilen ihre Enttäuschung über die Widersprüche unserer Gesellschaft. Wir bestärken sie in ihrer Bereitschaft zum Einsatz für eine menschenwürdigere Zukunft. Wir wollen sie in der unvermeidlichen Auseinandersetzung mit sich selber begleiten. Wir sind überzeugt, daß die Begegnung mit der Person und dem Wort Christi für viele eine neue Lebensentscheidung bedeuten wird. Aus dieser Begegnung werden sie nicht nur Werte, sittliche Orientierung und Zuversicht für die Gestaltung des eigenen Lebens und die Vermenschlichung der Gesellschaft erhalten. Sie werden auch bereit zu einer neuen Verantwortung in der Kirche, die in allem geschichtlichen Wandel auch heute und morgen die Kirche Jesu Christi ist. Wir wollen den jungen Menschen unseren Dienst dazu anbieten, daß sie ihm begegnen, der für sie „der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6) sein will.

5. Die neue soziale Frage

(88) Als Papst Leo XIII. vor 100 Jahren das erste Sozialrundschreiben über die Arbeiterfrage veröffentlichte, war die soziale Frage noch eindeutig bestimmbar durch das Gegenüber einer kleinen Gruppe von Besitzern großen Kapitals und einer Masse ausgebeuteter Proletarier. Als Pius XI. vierzig Jahre später das Sozialrundschreiben Quadragesimo anno schrieb, war die soziale Frage immer noch durch zwei Fronten gekennzeichnet. Als das II. Vatikanische Konzil im Dokument „Kirche in der Welt von heute“ die Eigenart der sozialen Frage neu zu bestimmen suchte, ging die Antwort in eine zweifache Richtung: Die neue soziale Frage hat eine innerstaatliche Dimension, die sich vor allem auf die Industrieländer bezieht, aber ebenso eine weltweite Dimension, die sich auf die Entwicklungsländer erstreckt.

Vielfältige privilegierte und benachteiligte Gruppen
Menschen am Rand

(89) Die neue innerstaatliche soziale Frage unterscheidet sich deutlich von der sozialen Frage der Vergangenheit. Damals standen sich Kapital und Arbeit klar abgegrenzt im Klassenkampf gegenüber. Die neue soziale Frage kennt diese erstarrten Fronten nicht mehr. Wir haben es vielmehr mit einem gesellschaftlichen Wandel zutun, der die erstarrten Fronten aufgelöst und zu einem neuen Netz der sozialen Beziehungen und Abhängigkeiten geführt hat. Dieses Netz verbindet eine Vielzahl von aufsteigenden und absteigenden Gruppen quer durch die Gesamtgesellschaft. Es gibt bevorzugte und benachteiligte Bevölkerungsschichten. Es gibt Gruppen, die im Verhältnis zum Ganzen überstark belastet sind, und andere, die sich einer privilegierten Stellung erfreuen. Es gibt Menschen, die neue Aufstiegschancen vorfinden, und es gibt solche, die absteigen, an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden und in Armut leben. Dazu gehören oft: Alleinverdiener mit Familie, Arbeitnehmer mit niedrigen Löhnen und in Leichtlohngruppen, Mindestrentner, Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, Bewohner wirtschaftlich schwacher Regionen, Behinderte, Obdachlose, alte und kranke Menschen, Gastarbeiter und Flüchtlinge.

Organisierte Gruppeninteressen

(90) War die alte soziale Frage durch ein hohes Maß an Klassensolidarität gekennzeichnet, so wird die neue soziale Frage wesentlich stärker vom persönlichen und vom Gruppeninteresse bestimmt. Man sucht sich, einzeln oder in Gruppen, wirtschaftliche und gesellschaftliche Vorteile zu verschaffen, auch auf Kosten anderer Gruppen, die nicht über die gleiche organisatorische Macht verfügen. Diese Rivalität der Gruppeninteressen führt keineswegs von selber zu einer größeren sozialen Gerechtigkeit. Sie erzeugt vielmehr neue Ungleichheiten und Diskriminierungen und damit eine neue soziale Frage.

Flüchtlinge und Einwanderer

(91) Zu dieser neuen sozialen Frage gehört heute in besonderer Weise das Problem der Flüchtlinge und Einwanderer. Wir wissen, daß sowohl einzelne wie auch Gemeinden ein hervorragendes Zeugnis der Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft abgelegt haben. Wir wissen aber auch um bedauerliche Ereignisse und um unchristliche Vorurteile. Wir werden uns noch viel mehr bemühen müssen, die Vorurteile Fremden und Ausländern gegenüber abzubauen und solchen Menschen nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine mitmenschliche Heimat zu geben. Dazu bedarf es der Solidarität aller, auch der Bereitschaft zu einem innerstaatlichen Lastenausgleich. Es ist nicht hinzunehmen, daß Flüchtlinge und Einwanderer in ein Ghetto abgesondert werden. Sie brauchen Teilhabe am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben. Wir gehen auf eine Welt zu, in der die nationalen und politischen Grenzen durchlässiger werden. Wir brauchen noch wesentlich mehr Aufgeschlossenheit, christliche Nächstenliebe und Bereitschaft zum Teilen. Jeder Rückfall in eine nationale Überheblichkeit widerspricht dem Geist der Menschenrechte und ist zutiefst unchristlich. Auch das gehört zur neuen sozialen Frage.

Persönliche Initiativen gefordert

(92) Die Lösung der neuen sozialen Frage muß durch eine Vielzahl von Kräften und Initiativen angestrebt werden. Wenn der Mensch als Person „Ursprung, Träger und Ziel“ des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens ist, dann bedeutet das auch seine unmittelbare Verpflichtung zur Mitarbeit an der Lösung der neuen sozialen Frage. Das gilt sowohl für die Gestaltung seines eigenen Lebens als auch für die Lösung sozialer Probleme. Die Bevormundung des Menschen durch den Staat führt nicht nur zu einer Entstellung der Gesellschaft, sondern auch zu einer Entwürdigung der menschlichen Person. Ohne die persönliche Initiative können gesellschaftliche Probleme nicht menschengerecht gelöst werden. Das ist in aller Deutlichkeit festzuhalten.

Subsidiäre Einrichtungen: Organisationen und Verbände

(93) Ebenso klar muß herausgestellt werden, daß der Einzelmensch in der Verwirklichung seiner Lebensgestaltung und seiner mitmenschlichen Verantwortung der Hilfe der Gesellschaft bedarf. Wir wollen hier bewußt nicht sofort auf die staatliche Hilfe verweisen. Die katholische Soziallehre ist keineswegs gegen das organisierte Gruppeninteresse. Sie weiß aufgrund des Subsidiaritätsprinzips sehr wohl um die ordnende Kraft der gesellschaftlichen Gebilde und Organisationen. Wo aber gesellschaftliche Verbände zu Machtzentren erstarren und die Sorge für ihre Mitglieder und für das Gemeinwohl hintansetzen, stellen sie selber ihre eigene Existenz in Frage. Wo sie aus Gruppenegoismus die berechtigten Interessen anderer Gruppen behindern, hören sie auf, gesellschaftliche Ordnungskräfte zu sein, und werden zur Bedrohung des Gemeinwohls. Wir betonen dies, weil auch in Österreich die Gefahr besteht, daß durch die Erstarrung gesellschaftlicher Verbände und Strukturen die neue soziale Frage nicht hinreichend gelöst, sondern verschärft wird.

Vor wenigen Jahren hat Johannes Paul II. die Herausforderung der neuen sozialen Frage eindrucksvoll zusammengefaßt: Das heute so notwendige Bewußtsein der Solidarität „hängt wesentlich von der Fähigkeit der gesellschaftlichen Verbände und Organisationen ab, ihren Mitgliedern eine glaubwürdige Erfahrung der Mitverantwortung und des Dienstes zu vermitteln. Sie dürfen nicht selber zu bürokratischen Systemen erstarren, die zu einer sozialen Entfremdung des Menschen führen und seine konsumistische Einstellung der Gesellschaft gegenüber steigern. Man kann vom Menschen nicht eine voll entfaltete Solidarität gegenüber dem Staat und der internationalen Gemeinschaft erwarten, wenn sie nicht vorher auf der Ebene der gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen erfahren und praktiziert wurde.“[50]

Handeln des Staates

(94) Über eines besteht kein Zweifel: Das für die Lösung der neuen sozialen Frage so notwendige Gemeinwohl ist nicht das automatische Ergebnis der rivalisierenden Gruppeninteressen und auch nicht des Marktmechanismus. Dazu bedarf es auch des ethisch orientierten sozialpolitischen Handelns des Staates. Weil die Lösung der neuen sozialen Frage nicht einseitig auf den Staat abgewälzt werden darf, sondern den unabdingbaren Beitrag des Einzelmenschen und der gesellschaftlichen Kräfte wie Verbände und Organisationen verlangt, muß mit umso größerer Deutlichkeit auch die Tätigkeit des Sozialstaates eingefordert werden. Es ist nicht Aufgabe des Sozialstaates, einzelnen und gesellschaftlichen Gruppen ihre Selbstverantwortung abzunehmen. Es ist ebenso nicht eine Aufgabe, die bereits gesellschaftlich Mächtigen durch staatliche Förderung noch mächtiger werden zu lassen.

Aufgaben des Sozialstaates

(95) Aufgabe des Sozialstaates ist es, Diskriminierungen abzubauen und zu verhindern, Lasten gerechter zu verteilen und dahin zu wirken, daß die menschengerechten Lebenschancen allen zugänglich werden; daß gerade jenen einzelnen und Gruppen geholfen wird, die Minderheiten darstellen und über keine wirksame Organisation verfügen. Der Sozialstaat muß jene Güter und Dienstleistungen zur Verfügung stellen, die für das Gemeinwohl notwendig sind, über den Markt und die Gruppeninteressen aber nicht hinreichend erstellt werden können.

Europaweite Mindeststandards

Es geht also keineswegs darum, den Sozialstaat wahllos auszubauen und damit zu überlasten. Wohl aber geht es immer wieder um die kritische Überprüfung bisheriger Ziele und Leistungen und um den Mut zu neuen sozialen Initiativen. Weil sich die neue soziale Frage nicht mehr in erstarrten Fronten, sondern in einer Vielfalt von persönlicher Not und Gruppennot darstellt, braucht es einen Sozialstaat, der imstande ist, spezifische Not zu erkennen und mit gezielten Maßnahmen zu helfen. Im Blick auf künftige Entwicklungen im Zusammenhang mit der Integration Europas wird es auch Aufgabe des Staates und der Staaten sein, in allen Ländern für soziale Mindeststandards zu sorgen.

Freiwillige Hilfen

(96) Zweifellos kann und muß der Sozialstaat Not lindern und soziale Gerechtigkeit schaffen. Aber er stößt an Grenzen: Je gruppenspezifischer und vielfältiger die sozialen Probleme werden, umso weniger reichen staatliche Mittel und Maßnahmen. Menschen in Not brauchen nicht nur materielle Hilfe. Sie brauchen Zuwendung, Geborgenheit und Freundschaft. Wir werden in Zukunft noch mehr an freiwilliger und nachbarschaftlicher Sozialhilfe brauchen, um die neue soziale Frage zu lösen. Wir sagen bewußt: noch mehr, weil wir wissen, daß bereits Eindrucksvolles geschieht. Wir werden aber noch mehr freiwillige Initiativen zur Behebung sozialer Not brauchen: für unsere Alten und Kranken, für gefährdete Jugendliche, für Drogenabhängige und Haftentlassene, für gesellschaftliche Grenzschichten, für Flüchtlinge und Gastarbeiter. Es muß freilich auch hier ein Konzept wirksamer finanzieller Absicherung und unterstützender Einrichtungen gefunden werden.

Herausforderungen für die Kirche

(97) Wir wissen uns als Kirche dabei unmittelbar herausgefordert. Zweifellos geschieht von seiten der Gläubigen schon sehr viel. Wir dürfen stellvertretend für viele andere Werke auf die segensreiche Tätigkeit der Caritas hinweisen. Wir werden uns aber in Zukunft noch entschiedener engagieren müssen. Gerade weil sich die neue soziale Frage nicht mehr in den Formen des früheren Klassenkampfes äußert, sondern in vielfacher Not vieler einzelner Menschen und gesellschaftlicher Gruppen, bedarf es neben dem Sozialstaat des sozialen Dienstes vieler Menschen, die sich aus christlicher Nächstenliebe für die Vermenschlichung der Gesellschaft einsetzen. Denn alles, „was die Menschen zur Erreichung einer größeren Gerechtigkeit, einer umfassenderen Brüderlichkeit und einer humaneren Ordnung der gesellschaftlichen Verflechtungen tun, (ist) wertvoller als der technische Fortschritt“.[51]

6. Entwicklung und Frieden

Soziale Frage weltweit

(98) „Heute ist — darüber müssen sich alle klar sein — die soziale Frage weltweit geworden“, stellte Papst Paul VI. in seinem Sozialrundschreiben über den Fortschritt der Völker fest.[52] Wenn der Mensch „Ursprung, Träger und Ziel“ von Wirtschaft und Gesellschaft ist, dann gilt diese Aussage nicht nur für de Industrieländer, sondern ebenso für die Entwicklungsländer. Es müssen auch dort Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß der Mensch „mehr Mensch“ werden kann. Gott kann nicht ein zweifaches Abbild seiner selbst gewollt haben: eines, das in seiner Menschenwürde geschützt und verteidigt wird, und ein anderes, das entstellt und geknechtet ist.

Verpflichtung gegenüber den Ländern Ost-Mitteleuropas

(99) Wenn wir heute zur Lösung der weltweiten sozialen Frage verpflichtet sind, dann stehen wir in Österreich zunächst vor der besonderen Verantwortung für die Länder Ost-Mitteleuropas. Die Kirche in Österreich muß sich aufgrund ihrer Geschichte und ebenso aufgrund der geographischen Nähe in besonderer Weise für diese Länder verantwortlich fühlen. Diese neue Herausforderung stellt für sie selber auch in religiöser, geistiger und kultureller Hinsicht eine Bereicherung dar. Wir werden darum alles tun müssen, unseren Brüdern und Schwestern im Osten materiell und ideell helfen. Wir müssen ihnen aber auch Dienste für die so dringende Evangelisierung angesichts der neugewonnenen Freiheiten anbieten.

Entwicklungsländer: die größere Verpflichtung

(100) Diese große Aufgabe darf aber in keiner Weise unsere Verantwortung für die Entwicklungsländer ablenken oder schwächen. Man wirft den Entwicklungsländern oft vor, daß sie weithin selbst an ihrem Elend schuld seien: durch ihre wirtschaftliche Rückständigkeit, durch die politische Korruption, durch das asoziale Verhalten der eigenen Völker, durch die mangelhafte Bildung. Die katholische Soziallehre weiß um solche Probleme und erwartet — je nach der sehr unterschiedlichen Situation der einzelnen Länder — auch von den Entwicklungsländern tiefgreifende Reformen. Die größere Verpflichtung liegt aber zweifellos bei den Industrieländern, weil „die größere Verantwortung bei dem liegt, der mehr hat und mehr kann“.[53] Johannes Paul II. geht noch einen Schritt weiter. Er sagt, daß die Industrieländer mit schuld sind am Elend der Entwicklungsländer. Denn ihre wirtschaftlichen Strukturen sind so organisiert, daß sie immer zum Vorteil der Industrieländer gereichen. Als Beispiele führt der Papst unter anderem die unerträgliche Verschuldung der Entwicklungsländer und den Protektionismus der Industrieländer an. Nach wie vor werden gigantische Summen für Rüstung vergeudet, die für die Entwicklung der Völker fehlen.

Strukturen der Sünde
Umkehr zur Solidarität

(101) Diesen Zustand bezeichnet Johannes Paul II. als sündhaft und die dahinter stehenden Strukturen als „Strukturen der Sünde“. Er erklärt mit aller Entschiedenheit: In einer solchen sittlich verfehlten Grundhaltung gibt es keinen anderen Ausweg als eine tiefgreifende persönliche Umkehr und Bekehrung: aus der Haltung der Habsucht und Herrschsucht zu einer Haltung der Solidarität – das neue Wort für Frieden.

Ausdruck solcher Solidarität ist die selbstlose Arbeit unserer Missionare, Brüder, Schwestern und Entwicklungshelfer, wie auch der Einsatz aller jener, die sich im eigenen Land für einen notwendigen, aber auch mühsamen Bewußtseinswandel einsetzen. Einen bedeutenden Beitrag zur Solidarität mit den Menschen in den Entwicklungsländern stellen auch großmütige freiwillige Spenden dar. Wir müssen aber feststellen, daß die Republik Österreich selbst unter den Geberländern weit hintansteht. Mit aller Dringlichkeit appellieren wir darum nicht nur an die Bevölkerung, in der Bereitschaft zum Teilen nicht nachzulassen. Wir fordern vor allem auch auf, für einen größeren Beitrag des Staates zur internationalen Solidarität einzutreten. Im Bereich der Kirche werden wir selbst uns bemühen, daß kirchliche Einrichtungen und Gemeinschaften ihrer weltweiten Verantwortung noch stärker gerecht werden.

Es darf uns nicht nur darum gehen, wie wir unseren Wohlstand vermehren und unsere soziale Sicherheit ausbauen können, auch nicht ausschließlich darum, wie wir uns in dieser geschichtlichen Stunde um die neue Einheit Europas bemühen. Die größere Herausforderung ist die Not der Entwicklungsländer. Vielleicht werden der Ernst und die Aufrichtigkeit unserer gesellschaftlichen Verantwortung am Beginn des dritten Jahrtausends daran gemessen werden, wie wir es mit dieser Herausforderung gehalten haben.

Neues Bewußtsein für den Frieden

(102) In der Welt von heute ist ein neues Bewußtsein für den Frieden wachgeworden. Die Menschen haben erfahren, wie grausam und sinnlos die Kriege unseres Jahrhunderts waren. Sie wissen aber ebenso, daß trotzdem neue Kriege vorbereitet und Atomwaffen produziert werden, die eine Bedrohung der ganzen Menschheit darstellen. Auch sogenannte christliche Staaten sind zu Waffenproduzenten geworden, die durch den Waffenhandel schnelle Profite erzielen.

Anerkennung von Friedensinitiativen
Wehrdienst – Dienst am Frieden

(103) Christen nehmen das Beispiel und die Friedensbotschaft Christi ernst und wollen dazu beitragen, daß weltweit Krieg und Kriegsvorbereitung geächtet, und Wege des Friedens gesucht werden. Auch in Österreich beteiligten sich viele Christen am Einsatz für den Frieden. Wir wollen ihren Einsatz anerkennen und sie zur Weiterarbeit ermuntern. Wir begrüßen, daß die Angehörigen des Bundesheeres ihren Dienst zum Schutz der österreichischen Neutralität und im Dienst der Vereinten Nationen als Beitrag zur Erhaltung des Friedens verstehen.[54]

Der Friedensauftrag Österreichs

Die erfreuliche Entwicklung mit dem Abbau der für unüberwindlich gehaltenen Grenzen sowie Fortschritte in den Abrüstungsbemühungen machen die Suche nach Frieden keineswegs überflüssig. Österreich hat aufgrund seiner Geschichte und der Erklärung seiner immerwährenden Neutralität eine besondere Sendung in der Vermittlung des Friedens. Die Christen sollen sich dieser Aufgabe in besonderer Weise bewußt sein, denn an sie ist der Auftrag ergangen, dahin zu wirken, daß sich das Wort des Propheten erfülle: »Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg“ (Jes 2,4).[55]

IV. Sinnfragen, Werte und Ziele

Einsatz für materielle Werte

(104) Die Sorge um das tägliche Brot war Jesus so wichtig, daß er sie als Bitte in das Vater Unser hineinnahm. Die Kirche bejaht darum voll und ganz das menschliche Bemühen um das tägliche Brot. Es gilt aber auch das Wort Jesu: „Der Mensch lebt nicht nur vom Brot“ (Mt 4,4). Er wußte, daß all das, was mit dem täglichen Brot symbolhaft ausgedrückt ist, zur großen Versuchung des einzelnen und einer ganzen Gesellschaft werden kann, daß der „zusammengeraffte äußere Reichtum“[56] zum Selbstzweck und der materielle Fortschritt zum einzigen Maßstab des Lebensglückes wird.

Gegen diese Versuchung hat sich Jesus mit aller Kraft zur Wehr gesetzt. Wo er merkte, daß seine Jünger dieser Versuchung zu unterliegen drohten, hat er sie hart zur Rede gestellt und zur Umkehr ermahnt. Er verkündete, daß sich das Heil des Menschen nicht im Diesseits erschöpft, daß hinter dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Alltag ein „Plan Gottes mit dem Menschen“ steht, daß der Mensch zum Heil berufen ist und dieses Wissen ihm Lebenssinn, Orientierung und Durchhaltekraft vermittelt. Dies macht den neuen Menschen aus: „Dem österlichen Geheimnis verbunden und dem Tod Christi gleichgestaltet, geht er, durch Hoffnung gestärkt, der Auferstehung entgegen.“[57]

Einsatz für geistige Werte

(105) Es hieße vielen Menschen in unserem Land Unrecht tun, würden wir nicht den Bestand an geistigen und sittlichen Werten anerkennen, aus dem sie leben. Dieser Bestand entstammt einer Tradition durch viele Generationen. Er wurde im Lauf der Jahrhunderte immer wieder bedroht, aber auch immer wieder verteidigt. Er lebt im Gewissen der einzelnen, in den Familien, in den Pfarrgemeinden und Ortsgemeinden, in den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen. Dieses Gefüge an Werten ist tief verwurzelt im christlichen Glauben. Er gibt Lebenssinn, sittliche Orientierung und Hoffnung. Wie das II. Vatikanische Konzil feststellt, gibt es heute immer mehr Menschen, die „nach der Stellung des Menschen im Universum, nach dem Sinn seines individuellen und kollektiven Schaffens, schließlich nach dem letzten Ziel der Dinge und Menschen“ fragen.[58] Wir brauchen daher keinem Pessimismus zu verfallen.

In Sorge um die überlieferten Werte

(106) Dennoch sind wir in Sorge um den Bestand und um die gesellschaftliche Wirkkraft der geistigen Werte unseres Landes. Wir erfahren auch in Österreich die Tendenz zu einer Privatisierung und Subjektivierung der geistigen und sittlichen Normen. Diese Entwicklung hat zwei Seiten: Einerseits wachsen bei vielen Menschen das Gefühl für persönliche Verantwortung, für ganzheitliche Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen und der Wunsch nach Treue und Verläßlichkeit; andererseits orientiert sich das Urteil über Gut und Bös oft nicht mehr an der von der Kirche überlieferten sittlichen Ordnung. Das gilt für verschiedene Bereiche des Lebens, auch für die Gestaltung menschlicher Sexualität. Hier werden die von der Kirche für die Gewissensbildung verbindlich vorgelegten sittlichen Normen oft außer acht gelassen.[59]

Wenn geistige und sittliche Werte mit wirtschaftlichen Interessen in Konflikt geraten, werden sie oft dem materiellen Vorteil hintangestellt. Und das keineswegs bloß im privaten Leben der einzelnen, sondern auch in den Entscheidungen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Institutionen.

Geistige Werte schützen, nicht untergraben

(107) Wir wissen, daß es auch in den geistigen und sittlichen Werten eines Volkes eine Entfaltung gibt. Wir wissen ebenso, daß geistige und sittliche Werte nicht verordnet werden können. Aber wir wehren uns mit aller Entschiedenheit dagegen, daß die in einem Volk vorhandenen, für ein menschenwürdiges Dasein unabdingbaren und in vielfachen gesellschaftlichen Gebilden verwurzelten sittlichen Werte untergraben, ausgehöhlt und an den Rand gedrängt werden. Es ist ein folgenschwerer Irrtum, wenn man den gesellschaftlichen Pluralismus mit Wertneutralität verwechselt. Manche glauben, auf die Verwendung von sittlichen Begriffen wie Gut und Bös im öffentlichen Leben überhaupt verzichten zu können. Die sittlichen Werte eines Volkes müssen stets neu vertieft, konkretisiert, geschützt und verteidigt werden – auch durch das verantwortliche Handeln des Staates. Darin besteht eine wesentliche Aufgabe der Sorge um das Gemeinwohl.

Die Verantwortung der Medien

(108) Die modernen Kommunikationsmittel trifft eine große Verantwortung. Wir bejahen die Pressefreiheit und das Recht auf Information. Wir appellieren aber gleichzeitig eindringlich an das Gewissen der Verantwortlichen: Die geistig-sittlichen Werte, einmal aufgelöst, sind nicht wiederzugewinnen. Sie brauchen dringend den Dienst der Wahrhaftigkeit und Wahrheit, der Verpflichtung und des Schutzes. Die öffentliche Meinung hat nicht nur ein Anrecht auf kritische Kontrolle, sondern auch auf gesellschaftliche Leitbilder, auf Respekt vor persönlichen Überzeugungen und auf Wahrheit.

Für eine Wertekultur

(109) Die Zerstörung der geistigen Werte eines Volkes hat nicht nur Folgen für den Einzelmenschen, für seine Suche nach Lebenssinn und Lebensorientierung. Sie hat auch tiefgreifende wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen. Wir sprechen heute viel von Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Wir sind dabei überzeugt, daß es sich hier um Werte handelt, die nicht dem Belieben des einzelnen überlassen sind, sondern allgemeine und ständige Geltung haben und daher auch verteidigt werden müssen, auch mit persönlichen und gesellschaftlichen Opfern. Wir werden die dringend notwendigen gesellschaftspolitischen Ziele nur dann glaubwürdig und wirksam vertreten können, wenn sie unserer geistig-sittlichen und religiösen Wertkultur entstammen und daran gemessen werden können. Werte, die nicht mehr gelebt und begründet werden, zerfallen.

Aus dieser Sicht und aus dieser Verantwortung wollen wir zu einigen aktuellen Fragen Stellung nehmen.

1. Grundwert Leben

Kirche – Anwalt für das Leben

(110) Wenn wir in diesem Sozialhirtenbrief ein Wort zum Grundwert Leben sagen, dann können wir nicht all das wiederholen, was wir bereits in anderen Dokumenten ausführlich dargelegt haben. Wir dürfen aber diese Frage nicht übergehen, weil wir überzeugt sind, daß es sich hier um ein überaus schwerwiegendes soziales und ethisches Problem unseres Landes handelt. Mit Bedauern stellen wir fest, daß es uns nicht gelungen ist, die Menschen unseres Landes zu überzeugen, daß sie durch ihre Mehrheit die Voraussetzung für einen eindeutigen Schutz des ungeborenen Lebens geboten hätten.

Umfassender Schutz des Lebens

Wenn der Mensch der Weg der Kirche ist, dann muß sie zu diesem Menschen in all den Stufen seines Lebens stehen: vom Beginn bis zum Tod. Diese Botschaft gründet im Wissen aus dem Glauben um den göttlichen Ursprung jedes menschlichen Lebens und um seine Berufung zur ewigen Teilnahme an der Herrlichkeit Gottes. Damit ist dieses Leben der Willkür des menschlichen Zugriffes bedingungslos entzogen.

Das Lebensrecht der Ungeborenen

(111) Die Kirche verteidigt daher das Lebensrecht der Ungeborenen. Wir verurteilen mit aller Entschiedenheit, daß in Österreich fortgesetzt eine große Zahl ungeborener Menschen durch Abtreibung getötet wird. Es wird heute viel von der Vermenschlichung von Wirtschaft und Gesellschaft gesprochen, von der Solidarität gegenüber jenen, deren Lebenschancen verkürzt sind. Warum gibt es nicht mehr Solidarität mit jenen, deren Lebenschancen ohne Schuld am meisten bedroht sind? Warum werden bei Schwangerschaften in Konfliktsituationen nicht mehr Anstrengungen unternommen, um günstigere Bedingungen für ein Annehmen des Kindes oder auch für die Freigabe zur Adoption zu schaffen? Warum beteiligen sich so viele Menschen gegen Gottes Gebot an der Tötung der Ungeborenen?

Gesetzlicher Schutz – veränderte Einstellungen

Wenn wir das Recht auf Leben zu den unantastbaren Grundwerten unserer zivilisierten Welt erklären und in die internationale Rechtsordnung eingebaut haben, dann muß das grundsätzlich für jedes Leben gelten, auch für das ungeborene. Dieses Lebensrecht hat der Gesetzgeber ausreichend zu schützen. Allein schon die Überalterung unserer Gesellschaft müßte allgemein Nachdenklichkeit hervorrufen und den Willen bestärken, das Kind anzunehmen und ihm Wohlwollen, Schutz und Erziehung zu schenken. Dazu wird es künftig auch erforderlich sein, daß die Erwachsenen mehr bereit sind, ihren Lebensraum mit den Kindern zu teilen. Es gilt, die Kinderfeindlichkeit vieler öffentlicher Lebensbereiche abzubauen.

Die Sorge um die alten Menschen

(112) Die Ehrlichkeit des .Bekenntnisses zum Grundwert Leben zeigt sich am deutlichsten in den Grenz- und Krisensituationen des Lebens. Diese bedrängen nicht nur den Beginn, sondern auch das Ende des Lebens. Wir stehen vor einer völlig neuen Situation der Lebensalter. Die Gruppe der alten Menschen erhält einen wachsenden Anteil an der Gesamtbevölkerung. Das bedeutet einen gesellschaftlichen Zuwachs und Gewinn, bringt aber auch Probleme und Aufgaben. Obwohl die ernsten Bemühungen nicht unterschätzt werden sollen, reicht die Sorge um die alten Menschen oft nicht aus. Man ist zu leicht geneigt, sie aus der aktiven Gesellschaft auszuklammern und in ein Ghetto abzudrängen.

Menschenwürdiges Sterben

(113) Für die letzte Lebensphase halten manche schon das Angebot des „schönen Todes“ (Euthanasie) bereit. Wie am Beginn, so soll auch am Ende des Menschen über sein Leben verfügt werden. Die Kirche verurteilt solche Versuche ausnahmslos. Sie muß aber gleichzeitig mit dafür Sorge tragen, daß Menschen auf ein Sterben in Würde vorbereitet werden und den Tod aus der Kraft des Glaubens annehmen können. Viele wünschen zu Recht, im Kreise ihrer Angehörigen, menschenwürdig und medizinisch ausreichend versorgt, sterben zu können. Wir begrüßen, daß auch in Österreich Hospize entstehen, in denen dies möglich ist. Es gilt, dafür Wohnungen zur Verfügung zu stellen und auch die erforderlichen sozialpolitischen Voraussetzungen zu schaffen. So wie Eltern ihre Kinder zur Welt bringen, sollen Kinder ihrerseits ihre Eltern aus der Welt begleiten können.

Der Umgang mit dem Leben zeigt den Entwicklungsstand einer Gesellschaft

(114) Wir sind davon überzeugt, daß der Entwicklungsstand einer Gesellschaft nicht primär durch den materiellen Wohlstand und durch die Dichte ihrer sozialen Organisationen, sondern durch die geistigen Werte bestimmt wird, aus denen sie lebt und auf die sie sich verpflichtet weiß. Dies zeigt sich vor allem daran, wie eine Gesellschaft unter den verschiedenen Bedingungen mit dem Leben umgeht.

„Wähle das Leben!“

Die Achtung und der Schutz des Lebens verlangen einen hohen Grad von Bewußtseinsveränderung und Gewissensbildung. Die Bibel überliefert uns ein eindrucksvolles Wort, mit dem Mose in einer entscheidenden Stunde das Volk Israel zur Bundestreue dem Gesetz Gottes gegenüber mahnt: „Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen“ (Dtn
30,19).

2. Sonntagskultur

Religiöse Bedeutung des Sonntags

(115) Wir Bischöfe erfahren die hohe Einschätzung des Sonntags nicht nur bei den Visitationen unserer Pfarrgemeinden. Wir wissen, daß der „Tag des Herrn“ in weiten Kreisen eine tiefe religiöse Bedeutung behalten hat. Er erinnert an das Wort der Bibel: „Gott segnete den siebten Tag und erklärte ihn für heilig; denn an ihm ruhte Gott‚ nachdem er das ganze Werk der Schöpfung vollendet hatte“ (Gen 2,3). Noch mehr erinnert der Sonntag an den Tod und die Auferstehung des Herrn, an jenes österliche Geheimnis, das sich in jedem Christen immer neu vollzieht. Darum treffen sich Gläubige als christliche Gemeinden zum Gebet, zum Hören des Wortes und zum Brechen des Brotes, wie es ihnen der Herr aufgetragen hat. Sie tragen die Freuden, aber auch das Kreuz des Werktages zum Herrn und empfangen aus der christlichen Feier des Sonntags neue Kraft für den Alltag. Aus der tiefen Begegnung mit Gott folgt eine neue Bereitschaft zur Begegnung untereinander: in der eigenen Familie, in der Nachbarschaft, im Freundeskreis und auch mit Menschen, denen man sonst aus dem Weg ging.

Gesellschaftliche Bedeutung

(116) Wenn wir hier von der Welt der Werte sprechen und nach Einrichtungen suchen, in denen diese Werte in besonderer Weise zum Ausdruck kommen, dann treffen wir immer wieder auf den Sonntag. Für den glaubenden Menschen gründet dieser Wert in seinem religiösen Inhalt und in der daraus folgenden Sonntagspflicht zur Mitfeier der Eucharistie. Dieser Tag hat aber auch eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung. Der Sonntag ist Tag der gemeinsamen Entspannung und Erholung. Er schenkt den oft zerrissenen Familien die unersetzbare Zeit des Zusammenseins. Er bietet den im Arbeitsprozeß vereinsamten Menschen die Möglichkeit zwischenmenschlicher Erfahrung, und er schafft Raum zu geistigem Tun und schöpferischer Pause.

Bedrohungen des Sonntags

(117) Der Sonntag ist einem tiefgreifenden Wandel ausgesetzt. Zwei Bedrohungen machen uns besorgt und rufen nach entschiedenen Maßnahmen.

Wirtschaftliche Überlegungen

Es mehren sich die Stimmen, die eine Ausweitung der Nutzungszeiten der hochtechnisierten Produktionsanlagen verlangen, um dadurch einen größeren Spielraum für flexible Arbeitszeiten zu schaffen und in der wachsenden internationalen Konkurrenz besser bestehen zu können. Aber auch im Dienstleistungssektor und Handel gibt es eine wachsende Tendenz zur Lockerung des Arbeitsverbotes für Sonn- und Feiertage. Man denke etwa an die verkaufsoffenen Sonn- und Feiertage, an Märkte und Messen.

Die Kirche nimmt die Anliegen unserer Wirtschaft durchaus ernst und weiß um die Bedeutung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und die damit zusammenhängende Sicherung der Arbeitsplätze. Gewiß hat es immer Ausnahmen vom Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit gegeben. Es wird diese auch in Zukunft geben müssen, wenn ein kontinuierlicher Produktionsprozeß aus technisch zwingenden Gründen notwendig ist oder dringend notwendige gesellschaftliche Bedürfnisse die Sonn- und Feiertagsarbeit verlangen. Diese Ausnahmen müssen aber aus strengen, sittlich gerechtfertigten Kriterien der Notwendigkeit begründet werden. Wirtschaftliche Vorteile allein können keine Ausnahme vom Verbot der Sonn- und Feiertagsarbeit rechtfertigen. Nicht eine Flexibilisierung der Sonn- und Feiertage, sondern eine Reduzierung der Ausnahmen für Sonn- und Feiertagsarbeit sollte durch den technischen Fortschritt erreicht werden.

Freizeitindustrie

(118) Eine zweite Bedrohung des Sonntags ergibt sich aus den Mechanismen der Freizeitgesellschaft. Freizeit an sich ist Ausdruck der Befreiung des Menschen von den Zwängen der Zeit und enthält neue Chancen zwischenmenschlicher und kultureller Entfaltung. Dieser Zuwachs an möglicher Freiheit und Entfaltung enthält zugleich die Gefahr neuer Zwänge und Abhängigkeiten. Ausdrücke wie „Freizeitindustrie“ und „Vergnügungsindustrie“ deuten an, daß der Mensch in Gefahr gerät, in der gewonnenen Freizeit neuerdings Mechanismen und Manipulationen unterworfen zu werden, die ihm seine Freiheit nehmen, ihn ausbeuten. Es ist einsichtig, daß in einem solchen „Freizeitbetrieb“ auch der Sonntag in eine Krise gerät. Er wird aus einem Feiertag zu einem der freien Tage, die insgesamt der Hektik des Freizeitgeschäftes ausgeliefert sind. Er verliert seinen religiösen Grundbezug, seine gemeinschaftstiftende Kraft und wird zum Gegenstand individuellen Vergnügens. Der Sonntag wird zum Hauptgeschäftstag der Freizeitindustrie und zum Spekulationsobjekt schnellen Profites. Dabei spielt es scheinbar keine Rolle, daß durch das Eindringen der Vergnügungsindustrie in den Sonntag immer mehr Menschen gezwungen werden, Erwerbsarbeit zu leisten.

Für eine gemeinsame Sonntagskultur

(119) Immer mehr Menschen suchen heute nach einer neuen Sonntagskultur. Die gesellschaftliche Bedeutung liegt in der gemeinsamen Unterbrechung der Arbeit, die im Bewußtsein gründet, daß der Mensch nicht für die Arbeit da ist und Anbetung, Freude, Spiel, Feste und Gemeinschaft wesentlich sind. Zweifellos bedarf es dazu auch der schützenden Hilfe des Staates. Sie reicht aber bei weitem nicht aus. Vor allem dort nicht, wo es um das persönliche Verhalten der Menschen und um die Verantwortung der gesellschaftlichen Kräfte geht. Eine neue Sonntagskultur braucht einen breiten Konsens in der Bevölkerung. Ein solcher kann nur durch die Mitverantwortung vieler gesellschaftlicher Kräfte aufgebaut werden: von den Familien, Pfarren und Ortsgemeinden, von den Verbänden und freien Vereinigungen bis hin zu den Sozialpartnern. Die Bewahrung des Sonntags wird letztlich davon abhängen, ob es gelingt, ihn mit neuer Sinn- und Werterfahrung und religiösem Inhalt zu erfüllen. Hier weiß sich die Kirche unmittelbar verpflichtet.

3. Aus Werten leben — die Zukunft gestalten

Gegen soziale Illusionen

(120) Die katholische Soziallehre hat sich immer gegen zwei Illusionen zur Wehr gesetzt.

Die erste Illusion besagt, es komme in der Welt heute einzig darauf an, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen zu verändern. Daraus erwachse wie von selber der gute Mensch und das größte Glück der größten Zahl.

Die Bedeutung der sittlichen Einstellung

Wenn die Kirche sagt, daß der Mensch als Person „Ursprung, Träger und Ziel“ aller wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen ist, dann ist sie davon überzeugt, daß die gesellschaftlichen Einrichtungen sowohl in ihrem Entstehen, als auch in ihrem Funktionieren wesentlich von der sittlichen Einstellung der Menschen abhängen. Die sittliche Verantwortung des Menschen läßt sich durch technischen oder organisatorischen Fortschritt weder produzieren noch ersetzen.

Wir wissen, daß in unserem Land noch ein wertvolles sittliches Erbe vorhanden ist und gelebt wird: von Einzelmenschen, von Familien, am Arbeitsplatz, in der Freizeit. Wir kennen aber auch das andere: Menschen können einem Laster verfallen, fliehen aus ihrem unerträglichen Alltag in künstliche Bewußtseinszustände, in die Droge, den Alkohol, aber auch in Krankheit und Selbstmord; Familien zerbrechen und Kinder werden zu Scheidungswaisen; man tut Mitmenschen Gewalt an; Menschen verlieren die Kontrolle im Konsum; die Korruption ist zum öffentlichen Ärgernis geworden; man mißbraucht staatliche Einrichtungen und lebt auf Kosten anderer.

Freiheit und Verantwortung

Weil die Kirche davon überzeugt ist, daß der Mensch in entscheidender Weise der verantwortliche Träger und Gestalter von Wirtschaft und Gesellschaft ist, muß ihr die sittliche Kultur zutiefst am Herzen liegen. Als Kirche müssen wir dahin wirken, daß der Sinn für Nächstenliebe, Verläßlichkeit, Treue, Pflichtbewußtsein und Toleranz lebendig bleibt. Jeder Zugewinn an persönlicher Freiheit bedeutet immer auch einen Zuwachs an mitmenschlicher Verantwortung.

(121) Die katholische Soziallehre hat aber auch eine zweite Illusion zurückgewiesen: Es genüge die Gesinnungsreform. Die Veränderung der gesellschaftlichen Einrichtungen und Strukturen sei nicht notwendig, da sie vom reinen Sachverstand bestimmt seien.

Die Bedeutung der gesellschaftlichen Verhältnisse

Die Kirche ist dagegen überzeugt, „daß die Menschen aus den gesellschaftlichen Verhältnissen heraus, in denen sie leben und in die sie von Kindheit an eingefangen sind, oft vom Tun des Guten abgelenkt und zum Bösen angetrieben werden“.[60] Es genügt nicht, an das sittliche Verhalten der Menschen zu appellieren und sie zu einem Leben aus sittlichen Werten zu verpflichten, wenn sie im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Alltag Unrecht und Unmenschlichkeit erfahren. Die sittlichen Werte dürfen nicht nur in den Herzen der Menschen verankert sein. Sie müssen auch in den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen Geltung haben.

Werte in gesellschaftlichen Einrichtungen leben

(122) Die Werte, die wir als große Errungenschaft der heutigen Welt bezeichnen, wie Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Verantwortung für die Schöpfung, dürfen sich nicht in feierlichen Deklarationen erschöpfen. Sie müssen unseren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Alltag formen: die Betriebe, die Ortsgemeinden, die sozialen Einrichtungen, die politische Praxis. Wertgebundenes Verhalten darf nicht nur von einzelnen eingefordert werden, Werte müssen auch von den gesellschaftlichen Institutionen bejaht und von ihren Trägern glaubwürdig vorgelebt werden. Mit Recht sagt das II. Vatikanische Konzil: Wenn wir von den Bürgern heute verlangen, daß sie „zur Beteiligung am Leben der verschiedenen Gruppen des Gesellschaftskörpers bereit seien, müssen sie auch in diesen Gruppen Werte finden, die sie anziehen und zum Dienst für andere willig machen“.[61]

Nur entschlossenes Handeln überzeugt

Gesinnungsreform und Zuständereform – gleichzeitig und in gleicher Intensität: mit diesen Forderungen ist die katholische Soziallehre vor 100 Jahren angetreten. In diesen 100 Jahren ist vieles geschehen. Vieles steht aber noch aus. Was wir für die Zukunft dringend brauchen, ist der Wille zur sozialen Aktion. „Es genügt nicht, allgemeine Grundsätze dem Gedächtnis der Menschen einzuhämmern, gute Vorsätze zu beteuern, schreiende Ungerechtigkeiten anzuprangern, mit prophetischem Freimut Strafgerichte anzukündigen; alles das bedeutet nichts, wenn damit nicht verbunden ist das Ernstnehmen der eigenen Verantwortung und ein entsprechendes entschlossenes Handeln.“[62]

V. Der Weg der Kirche

(123) Der Mensch ist der Weg der Kirche, „der Weg ihres täglichen Lebens und Erlebens, ihrer Aufgaben und Mühen“.[63] Wir haben in diesem Sozialhirtenbrief versucht, den Weg der Menschen in Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft mitzugehen, ihre „Freude und Hoffnung“, ihre „Trauer und Angst“ zu teilen und ihr Verlangen nach einem „erfüllten und freien Leben, das des Menschen würdig ist“, ernstzunehmen.[64]

Die Kirche verpflichtet sich selbst

Am Schluß unseres Hirtenbriefes schauen wir auf diesen Weg zurück. Wir wollen nicht nur die Welt der Arbeit, der Betriebe, der Verbände und Organisationen ansprechen und sittliche Orientierung geben. Wir wollen auch unseren eigenen Weg bedenken und uns selber verpflichten.

Drei Forderungen

Das Sozialrundschreiben über die menschliche Arbeit formuliert diese Verpflichtung in drei Forderungen: die Kirche muß die Würde und die Rechte der Menschen verteidigen; sie muß Situationen aufzeigen, in denen die Menschenwürde verletzt wird; sie muß selbst dazu beitragen, daß die Würde und Rechte des Menschen in Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft verwirklicht werden.[65]

1. Heilsbotschaft und Option für die Armen

Würde und Rechte des Menschen verteidigen

(124) Erstens: Der christliche Glaube ist kein soziales Aktionsprogramm. Er ist göttliche Heilsbotschaft, „zugleich Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person“.[66] In dieser Berufung zum endzeitlichen Heil besteht die größte Würde des Menschen, und darin gründen letztlich auch seine unverletzlichen Rechte. Wenn die Kirche den Menschen den Glauben verkündet, wenn sie ihnen in den Sakramenten das göttliche Leben vermittelt und vertieft, wenn sie sie durch das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe wegweisend durch den Alltag begleitet, dann leistet sie dadurch einen Beitrag zur Würde und zum Lebensglück der Menschen, der von keinen anderen gesellschaftlichen Kräften gleichwertig vermittelt werden kann. Damit leistet die Kirche aber zugleich auch einen entscheidenden Beitrag zum „Aufbau und zur Festigung“ des gesellschaftlichen Lebens.[67] Die Weckung der aus dem gelebten Glauben kommenden Liebesfähigkeit ist vielleicht einer der wertvollsten Dienste der Kirche an der modernen Gesellschaft. An dieser Überzeugung wird die Kirche Österreichs in aller Entschiedenheit festhalten, und aus dieser religiösen Grundlegung wird sie die Würde und die Rechte des Menschen auch im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben am glaubwürdigsten verteidigen können.

Unrecht aufzeigen

(125) Zweitens ist die Kirche auch verpflichtet, Situationen aufzuzeigen, in denen diese Würde und die Rechte des Menschen verletzt werden. Die katholische Soziallehre hat das in ihrem ersten Sozialrundschreiben getan, als sie von einem sklavenähnlichen Los der Industriearbeiter sprach, und sie tat dies in dem letzten Entwicklungsrundschreiben, wo sie „Strukturen der Sünde“ ankreidete, die zur Ausbeutung der Dritten Welt wesentlich beitragen.

Option für die Armen

Aus dieser Verpflichtung ist auch die vorrangige Optioin der Kirche für die Armen zu verstehen. Diese Option ist keine Erfindung sozialer Extremisten, sondern Beispiel und Auftrag Christi. Sie ist keineswegs exklusiv, als ob sie andere Gruppen ausschließen oder benachteiligen wollte. Die Armut ist auch nicht nur materiell, sie kann „in verschiedenem Gewande auftreten“.[68] Aber die Option für die Armen ist eindeutig und entschieden und „von der ganzen Tradition der Kirche bezeugt“.[69] Sie bedeutet eine Entscheidung zu besonderer Offenheit den Anliegen der Kleinen und Schwachen, den Leidenden und Weinenden, gegenüber denjenigen, die gedemütigt sind und am Rand der Gesellschaft leben müssen, damit ihnen geholfen wird, ihre Würde als Menschen und Kinder Gottes zu erlangen“.[70] Die Option für die Armen gilt auch für die Kirche in Österreich. Darum muß sie dort ihre Stimme erheben, wo offen oder verborgen Armut besteht, wo Menschen Unrecht erleiden, wo gesellschaftliche Strukturen Menschen benachteiligen und anderen Privilegien erlauben. Und sie darf dabei nicht warten, bis Not und Armut an sie herangetragen werden. Sie muß auf die Armut zugehen und sie aufdecken.

Die Armut aufdecken und bekämpfen

Wie die Gesamtkirche, muß sich auch die Kirche in Österreich immer wieder kritisch fragen,wie weit sie selber die Option für die Armen ernst nimmt. Es gehört „zur ältesten Lehre und Praxis der Kirche ...‚ daß sie selbst, ihre Amtsträger und jedes ihrer Glieder durch ihre Berufung dazu angehalten sind, das Elend der Leidenden, ob nah oder fern, nicht nur aus dem ‚Überfluß’, sondern auch aus dem ‚Notwendigen’ zu lindern“.[71] Auch die Kirche in Österreich muß in dieser Hinsicht zu jener Einsicht bereit sein, die das II. Vatikanische Konzil für die Gesamtkirche ausgesprochen hat: „Auch in unserer Zeit weiß die Kirche, wie groß der Abstand ist zwischen der von ihr verkündeten Botschaft und der menschlichen Armseligkeit derer, denen das Evangelium anvertraut ist. Wie immer auch die Geschichte über all dies Versagen urteilen mag, wir selber dürfen dieses Versagen nicht vergessen, sondern müssen es unerbittlich bekämpfen, damit es der Verbreitung des Evangeliums nicht schade.“[72]

Beiträge der Kirche

(126) Damit ist bereits die dritte Forderung angesprochen: Der positive Beitrag der Kirche zur Verwirklichung der Würde und Rechte des Menschen. Dazu zählen Stellungnahmen zur Vermenschlichung von Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft, wie sie in diesem Sozialhirtenbrief enthalten sind, aber auch all das, was die Kirche in Österreich für die Jugend, die Alten und Kranken, die Behinderten und die gesellschaftlichen Randschichten tut.

2. Unterwegs mit den Menschen

Die Kirche wird sich gesellschaftspolitisch stärker engagieren

(127) Die unmittelbare gesellschaftspolitische Verantwortung der Kirche in Österreich wollen wir abschließend so formulieren:

Bewußtseins- und Gewissensbildung – auch gegen Widerstände

Erstens: Wir werden uns in Zukunft noch stärker um eine dem Evangelium entsprechende gesellschaftspolitische Bewußtseinsänderung und Gewissensbildung bemühen müssen. Die großen anstehenden sozialen Probleme wie Arbeitslosigkeit, die Sorge für Alte und Kranke, die Beheimatung von Flüchtlingen und Zuwanderern, die Entwicklung der Völker der Dritten Welt, die Verantwortung für die Schöpfung und die Umwelt können nur gelöst werden, wenn es gelingt, zu einer breiten sozialen Umkehr in der Bevölkerung zu kommen. Niemand gibt sich einer Täuschung hin, wie schwierig es ist, diese Aufgabe zu erfüllen und mit wie vielen Widerständen dabei zu rechnen ist. Mit dem Gebot der Nächstenliebe verfügt die Kirche in ihrer religiösen Botschaft über ein hohes Maß an Begründung und Motivation für innerstaatliche und weltweite Solidarität. Es wird entscheidend darauf ankommen, daß auch in Österreich diese Anliegen in der theologischen Wissenschaft, in der konkreten Seelsorge, in der Predigt, in der Katechese, in der Bildungsarbeit, in der Gemeindepastoral eingebaut bleiben und vertieft werden.

Neue Zusammenarbeit in Initiativen
Aufgabe der Ökumene

Die Lösung der weltweiten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme verlangt eine ganz neue Zusammenarbeit aller Christen, der großen Religionen der Welt und aller Menschen guten Willens. Wir sind davon überzeugt, daß diese Zusammenarbeit auch für die Lösung innerstaatlicher sozialer, Probleme von großer Bedeutung ist. Dankbar anerkennen wir die bisherigen gemeinsamen Initiativen. Wir werden uns in Zukunft noch mehr bemühen, daß der Geist der Ökumene sich nicht nur auf religiöse Anlässe beschränkt, sondern in zunehmender Weise auch zu gemeinsamen gesellschaftspolitischen Initiativen führt.

Bildungseinrichtungen fördern

(128) Zweitens: Die innerstaatlichen und weltweiten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme sind äußerst komplex geworden. Wenn schon das II. Vatikanische Konzil von der Tatsache der zunehmenden gesellschaftlichen Verflechtung gesprochen hat, so ist dies heute zur weltweiten Wirklichkeit geworden. Wir brauchen deshalb auch in der Kirche in Österreich ein zunehmendes Maß an Sachkenntnis und Kompetenz. Das besagt unter anderem die Förderung von Einrichtungen und Organisationen, die sich aus christlicher Verantwortung und im Auftrag der Kirche für das Studium der gesellschaftlichen Probleme und die Verwirklichung der katholischen Soziallehre einsetzen. Wenn dies heute auch nicht durch Massenorganisationen möglich ist, so ist die Präsenz der Kirche in der modernen Gesellschaft trotzdem von großer Bedeutung. Darum verdienen gerade auch in Österreich jene Männer, Frauen und Jugendlichen ein Wort der Anerkennung, die sich in den vergangenen Jahren diesem Apostolat zur Verfügung gestellt haben und es auch in Zukunft tun werden.

Konkrete kirchliche Initiativen

Wir haben in unserem Hirtenbrief versucht, die Grundsätze der katholischen Soziallehre und die Richtung ihrer konkreten Verwirklichung für Österreich aufzuzeigen. Diese Verwirklichung aber verlangt konkrete Initiativen. Wir erwarten im
Anschluß an diesen Sozialhirtenbrief von den einzelnen Mitchristen, von den Pfarren und Ordensgemeinschaften, von den katholischen Verbänden, Organisationen und Bewegungen in verstärktem Ausmaß solche Initiativen. Sie sollen im voraus wissen, daß wir ihren Einsatz und ihr Bemühen mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen werden.

Anerkennung des Einsatzes der Laien im öffentlichen Leben

(129) Drittens: Ebenso aber verdienen alle jene Frauen und Männer die volle Unterstützung der Kirche, die sich als katholische Laien in den verschiedenen Bereichen des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Lebens zum Wohl ihrer Mitmenschen einsetzen. „Die Kirche … zollt der Arbeit jener, die sich zum Dienst an den Menschen für das Wohl des Staates einsetzen und die Lasten eines solchen Amtes tragen, Anerkennung und Achtung.“[73]

Begleitende Hilfen

Die Kirche in Österreich wird sich immer wieder kritisch befragen müssen, ob sie jenen Männern und Frauen die nötige geistige und geistliche Hilfe zur Verfügung stellt, die sich auf den verschiedenen Ebenen des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens einsetzen. Es genügt nicht, gesellschaftliche Strukturen zu kritisieren und über politische Skandale empört zu urteilen. Wenn der Mensch „der erste und vorrangige“[74] Weg der Kirche ist, dann muß sie gerade jenen ihre begleitende Hilfe anbieten, deren Weg am meisten gefährdet ist.

Zusammenarbeit und Dialog mit allen

(130) Viertens: Die Kirche wendet sich mit ihrer Soziallehre nicht nur an die Gläubigen, sondern an alle Menschen guten Willens. Sie ist davon überzeugt, daß die Würde des Menschen und das Wohl der Gesellschaft nur durch die Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Kräfte gesichert werden kann. Auch wenn die Kirche nie ihre religiöse Sendung verfälschen darf, so „bekennt sie doch aufrichtig, daß alle Menschen, Glaubende und Nichtglaubende, zum richtigen Aufbau dieser Welt, in der sie gemeinsam leben, zusammenarbeiten müssen“.[75] Die Nachkriegsjahre haben gezeigt, wie entscheidend der wirtschaftliche, gesellschaftliche und geistig-kulturelle Aufbau von der Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Kräfte des Landes abhängt. Die Kirche in Österreich hat sich an dieser Zusammenarbeit beteiligt, und sie wird auch in Zukunft den Dialog mit allen gesellschaftlichen Kräften aufrecht erhalten und verstärken.

Die Kirche – an kein politisches System gebunden

Die Kirche in Österreich wird auch in Zukunft allen Wert darauf legen, daß ihre Sendung unverfälscht religiöser Natur bleibt und daß sie daher „an kein besonderes politisches, wirtschaftliches oder gesellschaftliches System gebunden ist“.[76]

Recht und Pflicht zu Stellungnahmen

Die Kirche wird aber auch daran festhalten müssen, daß sie aus ihrer religiösen Sendung das Recht und die Pflicht ableitet, für die Würde und Rechte des Menschen auch im öffentlichen Leben einzutreten. Sie wird das gelegen oder ungelegen tun, nicht aus politischer Herrschsucht oder aus dem Streben nach Privilegien, sondern aus Treue zu ihrem Auftrag, mit der Haltung des Dialogs und des Dienstes.

Bekenntnis zur Demokratie

Dieses Bekenntnis zur verantwortlichen Mitarbeit bedeutet für die Kirche gerade im 35. Gedenkjahr der wiedererlangten Freiheit Österreichs eine neue Verpflichtung. Wir Wissen aus der Erinnerung an die Tragödie der Unfreiheit unseres Landes, wie sehr es darauf ankommt, daß alle gesellschaftlichen Kräfte rechtzeitig und mit eindeutiger Entschiedenheit den demokratischen Staat um des Menschen willen verteidigen. Wir wollen uns im Blick auf die Zukunft keiner falschen Sicherheit hingeben. Wir wollen uns als Bischöfe verpflichten, unsere Brüder und Schwestern in ihrem Einsatz für die Sicherung, Entwicklung und Verteidigung unserer staatlichen Ordnung zu bestärken.

Vor den Herausforderungen der Zukunft

(131) Fünftens: Wir befinden uns am Ende des zweiten Jahrtausends in der Welt eines unvorhergesehenen Umbruchs: Weltanschauungen, die ein Jahrtausend prägen wollten, brachen zusammen. Politische Systeme, die als unveränderlich galten, wurden aufgebrochen. Mauern wurden abgetragen und Völker gehen aufeinander zu. Die Zukunft zeigt sich reich an Möglichkeiten und Hoffnungen, aber auch bedroht von Ratlosigkeit und der Gefahr des Rückfalls.

Mut in Wort und Tat

Wie die Gesamtkirche, so sind wir Bischöfe mit unseren Brüdern und Schwestern davon überzeugt, daß unsere soziale Botschaft nur dann glaubwürdig ist, wenn sie in die Praxis umgesetzt wird. Das bedeutet, daß Christen im Angesicht der neuen innerstaatlichen und weltweiten Herausforderung immer wieder aus der Lethargie der Gewohnheit und der sozialen Trägheit aufbrechen und gesellschaftspolitisch tätig werden, daß sie bereit sind, dafür auch Widerstand und Verfolgung in Kauf zu nehmen. So haben es die großen Heiligen unserer Kirche getan, so tun es auch heute noch Männer und Frauen im sozialen und politischen Einsatz.

Im Vertrauen auf Gott

(132) Wir wollen es am Schluß unseres Sozialhirtenbriefes im Namen unserer Brüder und Schwestern sagen: Wir Katholiken in Österreich sind bereit, uns diesen Herausforderungen zu stellen. Wir wissen um den Glauben unserer Brüder und Schwestern, aus dem sie immer wieder die Kraft schöpften, Krisen zu bewältigen und aufeinander zuzugehen. Sie werden auch den Weg zu einer neuen Vermenschlichung von Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft finden. Die Menschen unseres Landes haben sich trotz aller Anfechtungen nie in einem egoistischen Wohlstandsdenken abgeschlossen. Sie wissen auch heute um ihre weltweite Verantwortung und sind bereit, dafür Opfer zu bringen. Sie tun dies im Vertrauen auf die Hilfe des Herrn, der uns die Zusage gegeben hat: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Und gedenken dabei der Worte Mariens: „Was er euch sagt, das tut!“ (Joh 2,5)

Mit den Menschen unterwegs

So gehen wir Christen den Weg in das dritte Jahrtausend: den Weg der inneren Solidarität und den Weg der weltweiten Verantwortung. So sind wir als Kirche unterwegs mit den Menschen, denn durch Christus ist der Weg der Menschen auch der Weg der Kirche.

Wien, am 15. Mai 1990

+ Hans Hermann Kardinal Groer
Erzbischof von Wien
Vorsitzender der Österreichischen Bischofskonferenz

+ Georg Eder

Erzbischof von Salzburg

+ Stefan László

Bischof von Eisenstadt

+ Franz Žak

Bischof von St. Pölten

+ Johann Weber

Bischof von Graz-Seckau

+ Reinhold Stecher

Bischof von Innsbruck

+ Maximilian Aichern

Bischof von Linz

+ Egon Kapellari

Bischof von Gurk-Klagenfurt

+ Alfred Kostelecky

Militärordinarius

+ Klaus Küng

Bischof von Feldkirch

+ Kassian Lauterer

Abt von Wettingen-Mehrerau

+ Karl Moser

Weihbischof von Wien

+ Jakob Mayr

Weihbischof von Salzburg

+ Helmut Krätzl

Weihbischof von Wien

+ Florian Kuntner

Weihbischof von Wien

+ Kurt Krenn

Weihbischof von Wien

ZITATE nach folgenden Textausgaben:

  • Enzykliken: Texte zur Katholischen Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben 1891 der Päpste und andere kirchliche Dokumente. Mit einer Einführung von Oswald von Nell-Breuning SJ. Herausgegeben vom Bundesverband der Katholischen
    Arbeitnehmerbewegung (KAB) Deutschlands. 7. Auflage, Köln 1989.

  • Die Enzyklika „Redemptor hominis“ (1979) nach der Herder-Ausgabe (Freiburg-Basel-Wien, 1981).

  • Konzilstexte: Karl Rahner/Herbert Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium. Freiburg-Basel-Wien 1966.

  • Kirchliche Dokumente: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls. Herausgeber:
    Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn.

  • L‘Osservatore Romano: Vatikanische Ausgabe und Wochenausgabe in deutscher Sprache.


ZEITTAFEL ZUM PROJEKT „SOZIALHIRTENBRIEF 1990“:

  • 6. November 1986 Bekanntgabe des Vorhabens durch die Bischofskonferenz
    Vorbereitungsarbeiten von Aktions- und Beraterteam unter der Leitung von Welt von Bischof Maximilian Aichern

  • 9. September 1988 Präsentation des Grundtextes
    Diskussionsprozeß bis Juni 1989 und Auswertung der schriftlichen Stellungnahmen

  • 6. November 1989 Veröffentlichung der Zusammenfassung der Stellungnahmen

  • Erarbeitung des Sozialhirtenbriefes und Beratung des Entwurfs auf einer a. o. Sitzung der Bischofskonferenz am
    2. März 1990

  • 5. April 1990 Approbation des Entwurfes

  • 15. Mai 1990 Erscheinen des Sozialhirtenbriefes
     

ZEITTAFEL DER SOZIALDOKUMENTE DER WELTKIRCHE:

  • 1891 Rerum novarum – Über die Arbeiterfrage (Leo XIII.)

  • 1931 Quadragesimo anno – Über die Gesellschaftsordnung (Pius XI.)

  • 1961 Mater et Magistra – Über die jüngsten Entwicklungen des gesellschaftlichen Lebens (Johannes XXIII.)

  • 1963 Pacem in terris — Über den Frieden unter allen Völkern (Johannes XXIII.)

  • 1965 Gaudium et spes — Über die Kirche in der Welt von heute
    (II. Vatikanisches Konzil)

  • 1967 Populorum progressio – Über die Entwicklung der Völker (Paul VI.)

  • 1971 De iustitia in mundo — Über die Gerechtigkeit in der Welt (Paul VI.)

  • 1975 Evangelii nuntiandi — Über die Evangelisierung in der Welt von heute (Paul VI.)

  • 1981 Laborem exercens — Über die menschliche Arbeit (Johannes Paul II.)

  • 1987 Sollicitudo rei socialis — Über die soziale Sorge der Kirche (Johannes Paul II.)


* Vgl. Redemptor hominis 14 – Über den Erlöser des Menschen (1979).

[1] Christus Dominus 13 — Über die Hirtenaufgabe der Bischöfe in der Kirche (1965).

[2] Rerum novarum 13.

[3] Aktionsteam zur Vorbereitung des Sozialhirtenbriefes der österreichischen Bischöfe (Hg.), Sinnvoll arbeiten — solidarisch leben. Grundtext zur Diskussion, Linz, September 1988.

[4] Aktionsteam zur Vorbereitung des Sozialhirtenbriefes der österreichischen Bischöfe (Hg.), Sinnvoll arbeiten — solidarisch leben. Zusammenfassung der Stellungnahmen, Linz, November 1989.

[5] Gaudium et spes 36.

[6] Octogesima adveniens 1.

[7] Gaudium et spes 42.

[8] Quadragesimo anno 130.

[9] Quadragesimo anno, Überschrift.

[10] Mater et magistra 222.

[11] Octogesima adveniens 4.

[12] Lumen gentium 33.

[13] Gaudium et spes 43.

[14] Sollicitudo rei socialis 36.

[15] Ebd.

[16] Laborem exercens 9.

[17] Laborem exercens 10.

[18] Gaudium et spes 64.

18a Gaudium et spes 63.

[19] Sollicitudo rei socialis 15.

[20] Rerum novarum 2.

[21] Sollicitudo rei socialis 15.

[22] Laborem exercens 15.

[23] Mater et magistra 82.

[24] Laborem exercens 20.

[25] Ebd.

[26] Gaudium et spes 68.

[27] Laborem exercens 20.

[28] Octogesima adveniens 14.

[29] Laborem exercens 15.

[30] Johannes Paul II., Ansprache in Bottrop am 2.5.1987.

[31] Mater et magistra 74.

[32] Laborem exercens 19.

[33] Quadragesimo anno 61.

[34] Botschaft Johannes Pauls II. zum Weltfriedenstag 1990.

[35] Ebd.

[36] Ebd.

[37] Ebd.

[38] Gaudium et spes 25.

[39] Divini redemptoris 29 – Über den Kommunismus.

[40] Besonders: Familiaris consortio – Über die Aufgaben der christlichen Familie in der Welt von heute (1981).

[41] Lumen gentium 11.

[42] Gaudium et spes 47.

[43] Familiaris consortio 45.

[44] Pacem in terris 40.

[45] Besonders: Mulieris dignitatem – Über die Würde und Berufung der Frau (1988).

[46] Christifideles laici 49.

[47] Laborem exercens 19.

[48] Ebd.

[49] Christifideles laici 49.

[50] Ansprache an die katholischen Juristen vom 22.11.1981, in: L’Osservatore Romano vom 10.2.1983.

[51] Gaudium et spes 35.

[52] Populorum progressio 3.

[53] Sollicitudo rei socialis 47.

[54] Gaudium et spes 79.

[55] Vgl. auch Gaudium et spes 78.

[56] Gaudium et spes 35.

[57] Gaudium et spes 22.

[58] Gaudium et spes 3.

[59] Vgl. Pastoralkonstitution Gaudium et spes 47–52; das Rundschreiben Humanae vitae vom 25.7.1968 und das Apostolische Schreiben Familiaris consortio vom 22.11.1981.

[60] Gaudium et spes 25.

[61] Gaudium et spes 31.

[62] Octogesima adveniens 48.

[63] Redemptor hominis 14.

[64] Gaudium et spes 1 und 9.

[65] Laborem exercens 1.

[66] Gaudium et spes 76.

[67] Gaudium et spes 42.

[68] Laborem exercens 8.

[69] Sollicitudo rei socialis 42.

[70] Johannes Paul II., Ansprache an die brasilianischen Bischöfe vom 31.7.1980.

[71] Sollicitudo rei socialis 31.

[72] Gaudium et spes 43.

[73] Gaudium et spes 75.

[74] Gaudium et spes 21.

[75] Gaudium et spes 42.

[76] Ebd.