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Predigt:

Der Liebe Raum geben

7. Sonntag im Jahreskreis (alternativ) C (20.02.2022)

L1: 1 Sam 26,2.7-9.12-13.22-23; L2: 1 Kor 15,45-49; Ev: Lk 6,27-38


Josef Spindelböck

Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!

Die von der Kirche für diesen Sonntag vorgesehenen Texte der Lesungen und des Evangeliums lassen sich unter das Leitwort stellen: „Denn nach dem Maß, mit dem ihr messt, wird auch euch zugemessen werden“ (Lk 6,38c).

In unserem Leben sind wir immer wieder darauf bedacht, Ordnung zu schaffen. Dies gilt für uns selbst, aber auch für die mitmenschlichen Beziehungen; um die rechte Ordnung geht es vor allem in unserem Verhältnis zu Gott, unserem Herrn, dem wir als Schöpfer alles verdanken, was wir sind und haben, und der unser Erlöser und Heiligmacher ist. In unserem Gewissen erkennen wir das Gute, das wir tun sollen, und das Böse, das es zu meiden und zu unterlassen gilt. Die rechte Ordnung ist uns zugänglich kraft unserer Vernunft und vor allem im Glauben an die göttliche Offenbarung. Worin aber besteht diese gute Ordnung für uns – was ist das rechte Maß?

Wir können zuerst ausgehen von einer Beziehung der Gegenseitigkeit: Als Menschen sind wir einander ebenbürtig. Wir besitzen dieselbe Würde und dieselben grundlegenden Rechte und Pflichten. Die „Goldene Regel“, welche zum ethischen Kernbestand der Menschheit gehört und an die auch Jesus seine Jünger und Zuhörer erinnert, lautet in ihrer positiven Fassung: „Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen!“ (Lk 6,31). Gegenüber der negativen Fassung, die wir vom Sprichwort her kennen („Was du nicht willst, dass man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu!“), ist die von Jesus vorgestellte Form der „Goldenen Regel“ anspruchsvoller. Nicht die Angst vor dem Verlust des Eigenen oder der Verletzung eigener Rechtsansprüche durch den anderen bestimmt das Handeln, sondern die zuvorkommende Liebe zum Nächsten gibt uns das Maß vor, wie wir handeln sollen. Auf diese Weise wird die Logik des bloßen Anspruchs und der gegenseitigen Forderungen durchbrochen und der Liebe über die Gerechtigkeit hinaus Raum gegeben. Im Grunde ist hier eine Dynamik des Wachstums im Guten eröffnet, die keine Grenzen nach oben hin kennt.

Aber schon hier mag die Frage hochkommen: Sind wir da nicht überfordert? Geraten wir damit nicht unter den Druck einer Leistungsgerechtigkeit, die zwar dem Mitmenschen alles Mögliche schenken und zukommen lassen will, dabei aber auf sich selbst vergisst und so die eigenen Grundlagen untergräbt? Wo bleibt die rechte Selbstliebe, die ja immerhin die natürliche Grundlage der Liebe zum anderen ist oder zumindest als Grundvoraussetzung nicht einfach übergangen werden darf? Und noch krasser stellt sich das Problem angesichts der von Jesus über die bloße Nächstenliebe hinaus noch eingeforderten Feindesliebe! Wer ist diesem Anspruch gewachsen? Wer kann einem solchen Maß entsprechend leben und handeln? Versagen wir hier nicht alle? Ja, natürlich!

Spätestens hier sollte der Mensch erkennen, dass die eigenen Kräfte nicht ausreichen, um das Gute zu tun. Wir sind überfordert – heillos! Wir können uns und anderen das Heil nicht schenken. Nur einer kann uns retten, und er tut es auch: Gott der Vater durch seinen Sohn Jesus Christus im Heiligen Geist.

Doch schon vor dem Kommen Christi in diese Welt hat Gott seinen Willen kundgetan. Auch wenn sich im Alten Testament so manche Berichte über Gewalt und Grausamkeit finden, so ist die Aussageabsicht klar: All das soll letztlich überwunden werden mit dem Blick auf den gütigen und barmherzigen Gott! So macht David gemäß der Lesung aus dem ersten Buch Samuel nicht von seiner Möglichkeit Gebrauch, seinen Widersacher König Saul zu töten. Er will seine Hand „nicht an den Gesalbten des Herrn legen“ (1 Sam 26,23b). Die Schonung, die er seinem Feind erweist, ermöglicht es, dass sich Saul seines Unrechtes bewusst wird. David will ihm das Böse, das er getan hat, nicht nachtragen. Nicht er selbst verschafft sich Recht, sondern Gott der Herr „wird jedem seine Gerechtigkeit und Treue vergelten“ (1 Sam 26,23a).

Sowohl in der Bergpredigt, die im Matthäusevangelium überliefert ist (Mt 5,1–7,29), als auch in der lukanischen Feldrede (Lk 6,17–49), der das Evangelium dieses Sonntags entnommen ist, fordert Jesus ein Übermaß an Vergebungsbereitschaft, an Barmherzigkeit, an Liebe. Ausdrücklich sagt er: „Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen! Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch beschimpfen!“ (Lk 6,27–28). Nochmals radikalisieren sich unsere Fragen: Ist das nicht zu viel verlangt? Kennt Jesus nicht die Schwachheit der Menschen, ja ihre Bosheit? Wird er mit diesen gutgemeinten, idealistischen, aber realitätsfernen Worten etwas erreichen? Wird sich etwas ändern in der Gesinnung und im Verhalten der Menschen?

Es ändert sich nur dort etwas und immer nur so weit, als ich selbst im eigenen Herzen bereit bin, der Liebe Gottes Raum zu geben. Denn, was unbestreitbar ist: Gott liebt uns Menschen ohne jedes Maß! Er macht den Anfang; er schuldet uns nichts. Dennoch schenkt er uns alles in seinem Sohn Jesus Christus, wie es im Römerbrief heißt (8,32): „Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ Diese Hingabe der Liebe bis in den Tod, welche nicht nur den Freunden Jesu gilt, sondern auch seinen Feinden, hat er verwirklicht, als er den Kreuzestod aus den Händen der Sünder, zu denen wir alle zählen, entgegennahm, um sich selbst als Opfer der Liebe seinem himmlischen Vater im Heiligen Geist darzubringen für das Heil der Menschen. „Gott aber hat seine Liebe zu uns darin erwiesen, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.“ (Röm 5,8). Auf diese Weise hat Gott selbst alle Feindschaft in der Wurzel überwunden und besiegt!

Und weil es wirklich wahr ist, dass wir das Gebot der Liebe zum Nächsten und umso mehr zum Feind nicht aus eigener Kraft erfüllen können, brauchen wir die Gnade Christi, des Erlösers. Je mehr wir dieser seiner Liebe in unserem Herzen Raum geben, desto wirkmächtiger wird die Kraft des Heiligen Geistes, der unser Herz verwandelt und uns gleichsam ein neues Herz aus Fleisch anstelle dessen aus Stein schenkt (vgl. Ez 36,26). Dann aber werden die Provokationen Jesu in der Bergpredigt bzw. in der Feldrede zu heilsamen Anstößen, unsere Lebenspraxis zu überdenken und zu korrigieren. Liebe muss konkret werden; eine allgemeine Gesinnung der Liebe nach dem Motto Friedrich Schillers im Gedicht an die Freude: „Sei umschlungen, Millionen!“ bewirkt nichts, wenn sie sich nicht irgendwann gegenüber einem wirklichen Menschen zeigt. Und da gilt dann die Ausrede nicht: Wir hätten ja gewollt, aber der andere war ja unser Feind! Denn die Liebe Christi verschiebt die Grenzen und macht das Unmögliche möglich durch die Kraft des Heiligen Geistes, der in uns wohnt und uns in der Taufe zu Kindern Gottes gemacht hat.

Falls dann immer noch jemand den Einwand vorbringt: „Was habe ich selbst davon, wenn ich meinen Feind liebe?“, so hat Jesus auch für eine solche Sichtweise Verständnis, die wir vielleicht allzu schnell einem bloßen Nutzen-Kalkül zuordnen würden. Denn er sagt ausdrücklich in seiner Feldrede: „Dann wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sei; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.“ (Lk 6,35 b). Niemand kommt zu kurz; letztlich sind wir alle Beschenkte. Wer kann es sich leisten, auf Dauer abseits zu stehen und sich dem Fest der Freude zu verweigern, das im Himmel gefeiert wird – auch angesichts der Heimkehr vieler, die zuerst als Sünder gegolten haben, die sich aber dann der Einladung Christi zu Umkehr und Vergebung nicht verschlossen haben und die jetzt seine Brüder und Schwestern sind?

Schon hier auf Erden ereignet sich im Verborgenen des Herzens das, was einst offenbar wird, wenn Christus wiederkommt in Herrlichkeit. Wir werden, wie es in der Lesung aus dem ersten Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth heißt, durch den neuen und letzten Adam Christus umgestaltet und durch die Gnade Gottes neu geformt, sodass wir nicht mehr irdisch sind, sondern himmlisch. Amen.

Hinweis: Diese Homilie wurde publiziert in: Auftrag und Wahrheit 1 (2021/2022) Heft 1, 126–128.