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Alttestamentliches Gesetz

Karl Hörmann: LChM 1969, Sp. 12-23

Der Mensch erfährt seine tatsächliche wesentliche Bestimmung und die sittl. Ordnung, die sich aus ihr ergibt, durch die Offenbarung. Diese erreicht nach vorbereitenden Stufen im AT ihre Fülle im NT. Welchen Sinn und welche Verbindlichkeit sittl. Forderungen haben, die Gott im AT erhebt, läßt sich letztl. nur vom NT her feststellen.

1. Daß es ein a. G. gibt, wird von den Schriften des AT reichl. bezeugt. Seinen Kern bildet das mosaische Gesetz als Grundlage des Bundes (Ex 19,5; 24,3.8; 34,10) Gottes mit dem Volk Israel (Ex 20–23; 25–31; 34,10–26); dieses Gesetz und der Pentateuch, in dem es geschrieben steht, werden im AT, im NT und im Spätjudentum vorzügl. als „das Gesetz“ bezeichnet. Allerdings werden in den atl. Büchern schon aus der Zeit vor Mose Gebote Gottes und Bundesschließungen berichtet: Gebote an Adam (Gen 1,28; 2,15–17) und an Noe und seine Nachkommen (Gen 9,1–7); Bündnisse mit Noe (Gen 9,8–17) und Abraham (Gen 15,17–21; 17,1–14). Viele Forderungen Gottes finden sich auch in nachmosaischen atl. Schriften, die vom NT und vom Spätjudentum häufig als die „Überlieferung“ oder die „ Propheten“ an die Seite des mosaischen Gesetzes gestellt werden; ebenso Zusagen Gottes in Form von Bündnissen (David: 2 Sam 7; Leviten: Num 18,19; 25,12). Das Gesetz schlechthin ist aber doch das mosaische, und der Bund schlechthin ist der von Sinai. Gelegentl. ist im NT mit „Gesetz“ die ganze Hl. Schrift des AT gemeint, meistens aber wendet es den Ausdruck auf die Forderungen Gottes im Pentateuch an. Irrlehrer des Altertums (Simon der Magier, Marcioniten, Manichäer, Priscillianisten) schrieben das AT einem bösen Prinzip zu, und Rationalisten der Neuzeit bezeichneten es als rein menschl. Werk des Moses (D 3409–12 3420 3490 [2009–12 2020 2090]). Das Christentum war zwar bald gezwungen, nach der Weitergeltung der atl. Forderungen zu fragen, hat jedoch deren göttlichen Ursprung (Ex 20,1; 24,3 f; 25,1; 10,11.17.22; 31,1.12.18; 34,10; 35,1.4 unda.) nie bezweifelt: Sie sind Gesetz Gottes (Röm 7,22) durch Vermittlung des Moses (Gal 3,19 f), daher heilig, gerecht und gut (Röm 7,12.16; D 198 685 790 854 1334 1501 3006 [28 348 421 464 706 783 1787]).

2. Dem Inhalt nach lassen sich die atl. Forderungen in drei Gruppen zusammenfassen: sittliche, rituelle und rechtliche Bestimmungen (praecepta moralia, caeremonialia, iudicialia; Thomas von Aquin S.Th. 1,2 q.99 aa.2–4). Als Bundesgesetz des Alten Bundes nehmen sie an dessen Charakter teil: Der Alte Bund aber ist der zum Sinaibund ausgestaltete Abrahamsbund, in der Sicht des NT ein Bund der Verheißungen (Apg 7,8; Röm 9,4; Gal 3,17; Eph 2,12) auf Christus hin (Lk 1,72; Apg 3,25; Röm 10,4; 11,27; 2 Kor 3,14; vgl. 2. Vat. Konz., Dei verbum 14 f; Nostra aetate 4).

a) Die eigentl. sittlichen Vorschriften des AT, z.B. der Dekalog (Ex 20,2–17), sind im großen und ganzen nichts anderes als Forderungen des natürlichen Sittengesetzes, die der Mensch auch ohne Offenbarung erkennen kann. Durch die Offenbarung wurden sie für das Volk Israel nicht nur leichter und sicherer erkennbar gemacht (Ambrosius, Ep. 73,9 f; Augustinus, In Ps 57 en.1; PL 16,1307; 36,673; Thomas von Aquin, S.Th. 1,2 q.99 a.2 ad 2; Cat. Rom. II 1,2), sondern als Bundesverpflichtungen in die Heilsführungen Gottes hineingenommen; verdeutlicht wurde die Ausrichtung der atl. Sittlichkeit auf Künftiges bes. durch die aus den Messiasverheißungen erwachsenden Forderungen des Glaubens und der Hoffnung.

b) Die rituellen Vorschriften (z.B. Ex 25–30) regelten den Kult (Gottesverehrung), den das Volk Israel mit seinen damaligen Mitteln Gott erweisen konnte: die Beschneidung als Bundeszeichen, die Gottesdienststätte (hl. Zelt) und ihre Ausstattung, die Opfer, die religiösen Feste, Feiern (Osterlamm) und Gebräuche (beim Essen, in der Kleidung usw.). Dieser Kult wies ebenfalls über sich hinaus, da er das Geheimnis Christi im voraus versinnbildete. Im Hebräerbrief, der den unvollkommenen atl. Opfern das vollkommene Opfer Christi gegenüberstellt, heißt es vom hl. Zelt, es sei „ein Gleichnis für die gegenwärtige Zeit“ (Hebr 9,9). Thomas von Aquin führt näher aus, daß durch die atl. Opfer Christus als Opfer versinnbildet wurde, durch die Sakramente und die hl. Gegenstände des AT die des NT, durch die Gebräuche der Wandel des christl. Volkes, was alles mit Christus in Zusammenhang steht (S.Th. 1,2 q.101 a.2). Es habe viele Zeremonialvorschriften gegeben, die einerseits das Volk von vielerlei Götzendienst abhalten und andererseits den reichen Inhalt des Geheimnisses Christi versinnbilden sollten (ebd. a.3). Zusammenfassend erklärt Eugen IV. im Dekret für die Jakobiten von Christus, daß ihn als den Kommenden alle hl. Opfer, Sakramente und Zeremonien des AT im voraus bezeichneten (D 1347 [711]).

c) Die rechtlichen Bestimmungen ordneten die gesellschaftl. Beziehungen der Menschen in der atl. Theokratie, um in ihr die Gerechtigkeit zu verwirklichen. Auch dadurch sollte zugleich der Zustand des künftigen Messiasreiches versinnbildet werden (vgl. Thomas von Aquin S.Th. 1,2 q.104 a.2). Augustinus sagt daher: „Ich nenne aber jenes ganze Reich des Volkes der Hebräer einen großen Propheten, weil es sich auf einen Großen bezog“ (Contra Faust. XXII 24, PL 42,417).

3. Verpflichtet waren durch das a. G. als solches jene, denen es als Bundesgesetz gegeben wurde, die Angehörigen des Volkes Israel. „Das ist das Blut des Bundes, den Jahwe mit euch auf Grund aller dieser Bedingungen geschlossen hat“ (Ex 24,8; vgl. 19,5; 24,3; 34,10). „Und nun, Israel, was fordert Jahwe, dein Gott, von dir? Nichts anderes, als daß du Jahwe, deinen Gott, fürchtest, indem du auf all seinen Wegen wandelst, daß du ihn liebst und Jahwe, deinem Gotte, von ganzem Herzen und aus ganzer Seele dienest, indem du – dir zum Guten – die Gebote und Bestimmungen Jahwes hältst, welche ich dir heute anbefehle“ (Dtn 10,12 f). Die Israeliten sollten durch den Alten Bund und sein Gestz auf den Messias vorbereitet werden (vgl. Thomas von Aquin, S.Th. 1,2 q.98 a.5). Die Heiden waren zur Beobachtung des a. G. nicht verpflichtet, wohl aber (bes. als Proselyten in der jüdischen Diaspora) zugelassen; auch sie konnten ja durch das a. G. näher an die allen gemeinsame Berufung in Christus hingeführt werden (vgl. Thomas von Aquin, S.Th. 1,2 q.98 a.5 ad 3; Cat. Rom. III 1,7).

Da der Alte Bund nichts Endgültiges war, sondern auf den Neuen Bund vorbereitete, sollte auch sein Gesetz einmal zu verpflichten aufhören (2 Kor 1,20; 3,7.11.13).

Mit dem Kommen Christi hatte es seine Aufgabe erfüllt und verlor seine Existenzberechtigung. „Mit der Ankunft der angekündigten Dinge waren die Aufgaben der Ankünder beendet“ (Leo d. Gr., Sermo 69,2, PL 54,376). Jesus anerkannte zwar den atl. Gottesdienst in Wort (Mt 5,23 f; 23,16 f) und Tat (Joh 2,13; 5,1; 7,10; Mt 26,17–19), zeigte aber, daß die Vorschriften darüber nicht unbedingte Geltung hatten: Er duldete, daß seine Jünger das Sabbatgebot übertraten (Mt 12,1–7), heilte selbst am Sabbat (Mt 12,9–13; Lk 13,10–17; Joh 5,9; 9,14) und erklärte: „Der Menschensohn ist Herr über den Sabbat“ (Mt 12,8). An die Reinheitsvorschriften hält er sich bei wichtigen Gelegenheiten nicht, da er Aussätzige (Mk 1,41) und Tote (Mk 5,41; Lk 7,14) berührt; von den Speisevorschriften erklärt er, daß sie neben den sittl. Forderungen nichts zu bedeuten haben (Mk 7,14–23). Auch bezügl. der sittl. Bestimmungen läßt er erkennen, daß sie in manchen Punkten Unvollkommenes dulden („Wegen eurer Herzenshärte hat Mose euch diese Verordnung geschrieben“, Mk 10,5) und der Vervollkommnung bedürfen (Mt 5,21–48). So will er Gesetz und Propheten zwar nicht einfach auflösen, aber sie auch nicht in ihrer alten Gestalt weiter gelten lassen, sondern in ihrem eigentlichen Sinn erfüllen (Mt 5,17).

Am leichtesten ist das Wort vom Erfüllen von den rituellen Bestimmungen zu verstehen. Sie werden dadurch erfüllt, daß an die Stelle des atl. Gottesdienstes, den sie regelten, das tritt, worauf dieser Gottesdienst vorbereitete: das in der Kirche gegenwärtige Christusgeheimnis. Die Apostel stellten ausdrücklich fest, daß die atl. Zeremonialgesetze als solche keine Heilsbedeutung mehr haben (Apg 15,19 f.28 f; Röm 2,28; 3,1; Gal 2,3.7; 5,6) und verhielten sich dementsprechend. „Die ersten Sakramente, die dem Gesetze gemäß beobachtet und gefeiert wurden, waren Vorausverkünder des kommenden Christus. Da Christus sie durch seine Ankunft erfüllt hatte, wurden sie aufgehoben; und deshalb aufgehoben, weil sie erfüllt waren, denn er ist nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen“ (Augustinus, Contra Faust. XIX 13, PL 42,355).

Auch die Rechtssatzungen des AT verloren ihre Bedeutung damit, daß an die Stelle des auserwählten Volkes im Alten Bund das trat, worauf es im Vorbild hingewiesen hatte, das Gottesvolk des Neuen Bundes.

Das Wort vom Erfüllen gilt jedoch, wie Jesus und die Apostel deutl. zeigen, nicht nur von den rituellen und den rechtl. Vorschriften, sondern auch von den sittl. Geboten des AT. Jesus will sie aus der atl. in eine ntl. Gestalt überführen (Mt 5,17.21–48; Röm 2,13–29; 3,1; 7,7.22; Gal 2,3.7; 5,6); dafür ist maßgebend, daß sie auf den in ihnen verborgenen (vgl. Dtn 6,4 f; 10,12–15; 11,13) Sinn der in Christus zu verwirklichenden Liebe hin verinnerlicht werden (Mt 5,21–30; 7,12; 22,37–40; Mk 12,38–44; Lk 10,25–28).

Mit dem Beginn des Neuen Bundes im Tod Christi verlieren also der Alte Bund und sein Gesetz ihre Kraft. „Er hat aus den beiden eins geschaffen und die trennende Scheidewand niedergerissen, in seinem Fleische die Feindschaft, das Gesetz der Gebote mit seinen Verordnungen vernichtet“ (Eph 2,14 f). „Denn wo ein Testament vorliegt, da muß der Tod dessen nachgewiesen werden, der es errichtet hat. Ein Testament ist nämlich erst bei Toten rechtskräftig, da es niemals in Kraft tritt, solange der lebt, der es errichtet hat“ (Hebr 9,16 f). „Am Kreuze also starb das alte Gesetz, das bald begraben und todbringend werden sollte, um dem neuen Platz zu machen“ (Pius XII., „Mystici corporis“, AAS 1943, 205).

Freilich, wenn auch das Alte Gesetz nach dem Tode Christi tot (lex mortua), d.h. seiner verpflichtenden Kraft beraubt war, wurde es doch nicht gleich todbringend (lex mortifera), d.h. von der Gemeinschaft mit Gott trennend. Vielmehr konnte es eine Zeitlang noch ohne Sünde beobachtet werden, soweit es eine gegenwärtige Gottesverehrung regelte, nicht aber, soweit es auf einen künftigen Messias hinwies. Die Apostel beobachteten zunächst noch manche atl. rituellen Vorschriften. Petrus versichert bei der Vision, die ihn den Weg zu Kornelius weist: „Noch niemals habe ich etwas Unheiliges und Unreines gegessen“ (Apg 10,14). Paulus beschneidet Timotheus „mit Rücksicht auf die Juden, die in jenen Gegenden waren“ (Apg 16,3). Er selbst machte ein Nasiräatsgelübde und erfüllt es (Apg 18,18; 21,23 f). Mit Recht kann Paulus beteuern: „So bin ich den Juden wie ein Jude geworden, um Juden zu gewinnen, den Gesetzesleuten bin ich ein Gesetzesmann geworden, obschon ich gar kein Gesetzesmann bin, um die Gesetzesleute zu gewinnen“ (1 Kor 9,20). Augustinus sagt von den jüdischen Überlieferungen zur Zeit der Apostel: „Für die Juden waren sie nicht schädlich, für die Heiden nicht notwendig, für keinen Menschen mehr heilbringend“ (De mend. 5,8, PL 40,494; vgl. Thomas von Aquin, S.Th. 1,2 q.103 aa. 3 f). Weil aber der Christ durch das Festhalten an den atl. Riten zumindest den Anschein erweckt hätte, als ob er nicht an Jesus, den Messias, der allein zum Heil genügt, glaubte und als ob er die Einhaltung atl. Vorschriften für zum Heil notwendig hielte, verbot sich ihre Beobachtung mit der Zeit von selbst und wurde todbringend. Paulus betont deshalb: „Wenn ihr euch beschneiden laßt, wird Christus euch nichts nützen. Ich versichere noch einmal jedem Menschen, der sich beschneiden läßt: Er ist verpflichtet, das ganze Gesetz zu halten. Geschieden seid ihr von Christus, die ihr im Gesetz die Rechtfertigung sucht, aus der Gnade seid ihr herausgefallen“ (Gal 5,2–4). Augustinus lehrt, das mosaische Gesetz sei vom Tod Christi an zunächst tot und schließl. todbringend geworden (vgl. Ep. 82,16, PL 33,282). Eugen IV. erklärt, nach der Verkündigung des Evangeliums sei die Beobachtung der Zeremonialgesetze verderblich (D 1348 [712]). Bei den Rechtssatzungen ist es eher möglich, daß sie ohne Gegenstellung zu Christus und daher ohne Sünde eingehalten werden.

Die eigentl. sittlichen Vorschriften des AT gelten ihrem wesentlichen Gehalt nach weiter. Als Forderungen des natürlichen Sittengesetzes verpflichten sie den Menschen schon infolge seines Menschseins, wenn sie auch für Israel noch dazu zum Bundesgesetz gemacht wurden. Im NT fällt der Alte Bund als Titel der Verpflichtung weg, die Verpflichtung aus dem Titel der menschl. Natur bleibt aber. Der Christ ist ja Mensch, wenn auch nicht auf die natura pura beschränkt, sondern zur Gotteskindschaft berufen; so ist er auch an die sittl. Gesetze des Menschseins gebunden (vgl. Thomas von Aquin, S.Th. 1,2 q.104 a.3). Das Konzil von Trient hat daher die Auffasung zurückgewiesen, der Dekalog gehe den Christen nichts an (D 1569 [829]; Cat. Rom. III 1,2).

4. Aus der Sicht des NT müssen wir über das AT sagen, daß auch hier schon der Wille Gottes am Werk ist, sich in übernatürl. Selbstmitteilung dem Menschen zu schenken. Der Mensch ist allezeit zur übernatürl. Gottesgemeinschaft berufen. Im AT bereitet Gott durch seine Heilsführungen diese Berufung vor, im NT läßt er sie in Christus voll offenbar werden. „Wie in der Gerste das Korn unter dem Stroh verborgen ist, so ist in der Hülle der Geheimnisse des Gesetzes Christus verborgen“ (Augustinus, Sermo 130,1, PL 38,725; vgl. 2. Vat. Konz., Dei verbum 15 f; Nostra aetate 4). So stehen atl. und ntl. Gesetz zueinander im Verhältnis von Vorbereitung und Erfüllung. An einzelnen Zügen sei dies gezeigt. Die Berufung des Menschen, die durch das NT geoffenbart wird, ist die Berufung zur Liebe zu und mit Gott (ntl. Gesetz). Das AT weiß um den Auftrag der Liebe (Dtn 6,5; 10,12; 11,13; Lev 19,18), nur unter Entstellung der Tatsachen könnte man das Gegenteil behaupten (D 2465 [1415]). Der Mensch wurde aber im AT im allg. nur zu jener Liebe angeleitet, die in der Hinwendung zu Gott aus Furcht steckt (Ex 20,20; Lev 19,14; Dtn 4,10; Ps 18,10; 111,1; 118,63; Spr 14,2; Sir 2,15–18; 15,1 unda.). Das ehrl. gute Streben aus solcher Gottesfurcht war gewiß nicht schlecht (D 2464 [1414]). Das NT lehrt den Menschen aber Besseres: Nicht als Knecht muß er sich in Furcht, sondern als Kind darf er sich in Liebe Gott zuwenden. „Ihr habt doch nicht den Geist der Knechtschaft empfangen, daß ihr euch wieder fürchten müßt, sondern ihr habt den Geist der Kindschaft empfangen, in dem wir rufen: Abba, Vater“ (Röm 8,15; vgl. Gal 4,22–31). Als Sinn sämtlicher Weisungen Gottes zeigt das NT die Verwirklichung der Liebe, was übrigens schon für das AT zutrifft (Mt 22,37–40). Im großen und ganzen gilt: „Kurz gesagt, heißt der Unterschied von Gesetz und Evangelium: Furcht und Liebe“ (Augustinus, Contra Adim. 17, PL 42,159).

Je vollkommener der Mensch die Liebe verwirklicht, umso mehr muß er mit dem Innersten seines Herzens dabei sein (Mk 12,30). Vom AT zum NT läßt sich ein Fortschritt in der Innerlichkeit feststellen. Gewiß hat es die Sittlichkeit des AT nicht nur mit dem äußeren Verhalten zu tun, sie wäre sonst nicht echte Sittlichkeit. Deutlich fordert sie nicht nur äußeres Tun, sondern auch innere Akte und Haltungen: Glauben (Gen 15,5 f; 17,4–8), Hoffnung (Ps 118,81; 129,5 f), Gottesliebe (Dt 6,5; 10,12; 11,13), Gottesfurcht (Ex 20,20 unda.), Nächstenliebe (Lev 19,18), Meiden rein innerer Sünden (Ex 20,17; Lev 19,17; Dtn 5,21). Jesus legt das Hauptgewicht auf die rechte innere Gesinnung (Mt 5,21–28; 6,1–8; Mk 7,14–23; das Anbeten „im Geist und in der Wahrheit“, Joh 4,23 f), in der das Wort Gottes erfüllt wird: „Ich werde mein Gesetz in ihr Inneres legen und ihnen ins Herz hineinschreiben“ (Jer 31,33; vgl. Hebr 8,10; 2 Kor 3,3). Die innere Grundlage der christl. Sittlichkeit ist die Gnade, das Leben des Geistes, das dem Menschen durch Christus geschenkt wird. „Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben worden, die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“ (Joh 1,17). „Die Liebe Gottes ist in unseren Herzen ausgegossen durch den Hl. Geist, der uns geschenkt wurde“ (Röm 5,5). „Das Gesetz des Geistes des Lebens hat dich vom Gesetz der Sünde und des Todes freigemacht“ (Röm 8,2). Die Kirchenväter machen auf diesen Quellgrund der christl. Sittlichkeit aufmerksam: „Welche sind die von Gott in die Herzen geschriebenen Gesetze Gottes, wenn nicht die Gegenwart des Hl. Geistes selbst?“ (Augustinus, De spir. et litt. 21,36; vgl. 17,20; Contra Faust. XVII 5; Ambrosius, Sermo contra Aux. 28, PL 44,222.218; 42,343; 16,1058). Nach Thomas von Aquin besteht das ntl. Gesetz grundlegend im inneren Gnadenleben (S.Th. 1,2 q.106 a.1). Wegen des größeren Nachdrucks, den das NT auf die innere Sittlichkeit legt, kann Thomas sagen: „Das Alte Gesetz zügelt die Hand, das Neue Gesetz den Geist“ (S.Th. 1,2 q.91 a.5).

Im NT zeigt sich, daß die Liebe ihrem Wesen nach zu möglichst vollkommener Verwirklichung drängt. Das AT nahm auf die unvollkommene Verfassung des Volkes Israel Rücksicht und ließ manche Dinge hingehen, denen das NT mit aller Entschiedenheit entgegentritt (z.B. Forderungen der Feindesliebe, Mt 5,43–48; der Untrennbarkeit der Ehe, Mt 5,31 f; 19,3–9; Mk 10,2–12; Lk 16,18). Die vollere Hingabe legt das NT auch durch die Räte nahe, die nicht, wie im AT, bloß Einzelleistungen (freiwillige Opfer, Lev 1–3; Gelübde, Dt 23,22–24, unter ihnen das Nasiräatsgelübde Num 6,1–21) betreffen, sondern beständige Formen gottverbundenen Lebens.

Das NT zeigt als letzte Erfüllung des Menschen, zu der all sein sittliches Handeln hinführen soll, den liebenden Gottbesitz im Jenseits. Im AT ist dieses Ziel zunächst noch verhüllt und tritt nur langsam hervor; zeitl. Versprechungen und Drohungen spielen für die atl. Sittlichkeit eine wichtige Rolle (vgl. Augustinus, De spir. et litt. XXIV 41, PL 44,225; Thomas von Aquin, S.Th. 1,2 q.91 a.5; q.99 a.6).

Zusammenfassend können wir feststellen, daß wohl beide, das atl. und das ntl. Gesetz der einen Heilsabsicht Gottes entspringen und daß doch das atl. Gesetz „nur ein Schattenbild der künftigen Güter, nicht die Gestalt der Dinge selbst enthält“ (Hebr 10,1; vgl. Mt 12,6.41 f).


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