Ehrfurcht vor Gott
Karl Hörmann: LChM 1976, Sp. 309-312
Das innere Bedachtsein auf die Ehre Gottes läßt den Menschen auch im Äußeren Gott und den mit Gott zusammenhängenden Dingen Ehrfurcht, d.h. jene achtungsvolle Liebe und liebende Scheu entgegenbringen, wie sie sich vor der überragenden Größe Gottes geziemen, der sich in Liebe an uns verschenken will. „Beides – ich erschrecke, ich entbrenne: erschrecke darüber, weil ich ihm so ungleich bin, entbrenne danach, weil ich so sehr ihm gleiche“ (Augustinus, Conf. XI 9,11, PL 32,813 f).
1. Der in seinem Inneren Gott hingegebene Mensch wahrt in seinem Gesamtverhalten und bes. in seinem Reden zu Gott und über Gott die Ehrfurcht.
Die Pflicht der Ehrfurcht Gott gegenüber ist dem Menschen natürl. einsichtig, wie Geschichte und Ethnologie aufzeigen. In der Offenbarung tut sich Gott als die überwältigende Liebe kund, der sich der Mensch vertrauensvoll, aber nicht ohne Ehrfurcht nahen soll: „Heilig und hehr ist sein Name“ (Ps 110 [111],9). „Du sollst den Namen Jahwes, deines Gottes, nicht mißbrauchen; denn Gott läßt den nicht ungestraft, der seinen Namen mißbraucht“ (Ex 20,7; Dtn 5,11). „Geheiligt werde dein Name“ (Mt 6,9).
2. Ehrfurchtslosigkeit Gott gegenüber ist ein Fehlverhalten.
a) Sittl. unrichtig ist ehrfurchtsloses Sprechen von Gott, auch wenn es nur aus gedankenloser Gewohnheit geschieht (vgl. Ex 20,7; Dtn 5,11; Sir 23,9 f). Schwerer wiegt das Fluchen (das Ausstoßen des Namens Gottes im Zorn, durch das seiner eigentl. Bedeutung nach die Strafe Gottes auf den herabgerufen werden soll, gegen den man in Zorn entbrannt ist); darin gesellt sich zur Unehrerbietigkeit gegen Gott der Zorn.
Am ärgsten widerspricht der Ehrfurcht die Gotteslästerung (Blasphemie; vgl. Augusinus, De mor. eccl. cath. II 11,20, PL 32, 1354), die freche Ableugnung oder Verhöhnung göttlicher Eigenschaften oder Geheimnisse. Sie kann verwünschenden od beschimpfenden Charakter haben (oft der Erbitterung entspringend) oder Gott durch falsche Aussagen (Leugnung dessen, was ihm zukommt; Behauptung dessen, was ihm widerstreitet; Vergötzung von Geschöpfen) herabsetzen (vgl. Mt 9,2 f; 26,65). Die Wurzel solchen Fehlverhaltens liegt nicht in einem falschen Urteil, sondern in einer bösen Willenshaltung (vgl. Thomas von Aq., S.Th. 2,2 q.13 a.1).
Die Hl. Schrift kennzeichnet die Gotteslästerung als Gipfelpunkt der Widergöttlichkeit: Das apokalyptische Tier trät auf seinen sieben Köpfen gotteslästerl. Namen (Offb 13,1). „Und es ward ihm ein Maul gegeben, um prahlerische und lästerl. Reden zu führen ... Und er tat sein Maul auf zu Lästerungen wider Gott, um seinen Namen zu lästern und sein Zelt, (d.h. die) die im Himmel ihr Wohnzelt haben“ (Offb 13,5 f). Die Anhänger des Tieres „zerbissen sich die Zungen vor Pein, und sie lästerten den Gott des Himmels ob ihrer Peinen und ob ihrer Geschwüre, aber sie bekehrten sich nicht von ihren Werken“ (Offb 16,10 f). Hieronymus findet: „Nichts ist schrecklicher als die Gotteslästerung, die an den Höchsten ihren Mund anlegt ... Jede Sünde ist ja, verglichen mit der Gotteslästerung leichter“ (In Is. Proph. VII 18, PL 24,247). Der Mensch sollte Gott in seinem wirkl. Sein und Wollen liebend bejahen; durch die Lästerung tut er das gerade Gegenteil.
Das AT bestraft Gotteslästerung mit dem Tod (Lev 24,15 f; vgl. Mt 26,65 f). Auch das Kirchenrecht geht gegen Gotteslästerung mit Strafen vor (CICc. 2323). Wenn staatl. Gesetze derartige Strafbestimmungen enthalten, soll dadurch der Religionsstörung entgegengewirkt werden; gerade in einer pluralistischen Gesellschaft sollte man sich um des friedl. Zusammenlebens willen solcher Äußerungen enthalten, die andere in ihren teuersten Auffassungen verletzen. Der Grad der Schuld des Gotteslästerers hängt nicht nur von dem ab, was er sagt, sondern mehr noch von seiner Erkenntnis, seiner Absicht, seiner seelischen Verfassung. Nicht übersehen werden darf, daß die Neigung zu gotteslästerl. Rede krankhafte Ursachen haben kann.
b) Unter den verschiedenen Möglichkeiten ehrfurchtslosen Verhaltens Gott gegenüber wird die Versuchung Gottes von Jesus nachdrückl. abgelehnt. „Da nahm ihn der Teufel mit in die heilige Stadt, stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sagte ihm: 'Wenn du Gottes Sohn bist, dann stürze dich hinab ...' Jesus sprach zu ihm: Es steht auch geschrieben: 'Du sollst den Herrn, deinen Gott nicht versuchen'“ (Mt 4,5–7; vgl. Dtn 6,16). Der Mensch versucht demnach Gott, wenn er ihn zu außerordentl. Eingreifen herausfordert und ihn so in die menschl. Pläne einspannen will (ein Typ von Religion, der im Gegensatz zum Glauben steht). Anders verhält es sich z.B. bei der Wahl des Apostels Matthias durch das Los: „Du, o Herr, der du die Herzen aller kennst, zeige an, wen von diesen beiden du erwählt hast“ (Apg 1,24; vgl. 2 Chr 20,12); die Wähler wollen sich ganz dem Willen Gottes anpassen (= Glaube), nicht Gott ihren eigenen Zielen dienstbar machen (vgl. Thomas von Aq., S.Th. 2,2 q.97 aa.1–3; Alfons M. di Lig., Theol. mor. IV 29).
Die Absicht, Gott zu einem außerordentl. Kundgeben seiner selbst herauszufordern, kann ausdrückl. gehegt werden (tentatio Dei formalis) oder in der Handlungweise verborgen mitgegeben sein (t. D. virtualis). Zur letzteren Art der Versuchung Gottes zählen die Gottesurteile (ordalia), die heute noch bei manchen nichtchrist. Völkern übl. sind und zeitweilig auch in das Christentum eindrangen: Versuche, Schuld oder Unschuld von Verdächtigen durch wunderbares Eingreifen Gottes, das zu diesem Zweck herausgefordert wurde, festzustellen; der Mensch will die Lücke, die er durch größere Sorgfalt selbst füllen könnte oder die er nicht füllen kann, auf jeden Fall durch das Engreifen Gottes füllen lassen. Im Mittelalter mag die Übung, die durch Teilsynoden und einzelne Bischöfe gebilligt wurde, durch guten Glauben (unüberwindl. Irrtum), der durch die Zeitumstände genährt wurde, entschuldbar gewesen sein. Schon damals wandten sich Thomas von Aq. (S.Th. 2,2 q.95 a.8 ad 3; 3 q.80 a.6 ad 3) und andere Theologen sowie einige Päpste (D 670 695 799 1114) und das 4. Laterankonzil (cap. 18) dagegen.