Kirchliches Gesetz
Karl Hörmann: LChM 1976, Sp. 882-889
1. Der Kirche, die von Christus als Hüterin und Verkünderin der Offenbarung bestellt wurde, fällt die Aufgabe zu, das geoffenbarte sittl. Gesetz (vgl. Alttestamentl. Ethik, Neutestamentl. Gesetz) zu bewahren, zu verkünden und zu erklären, also interpretierend tätig zu sein, darüber hinaus aber eigentl. Gesetzgebung dort zu üben, wo das geoffenbarte göttl. Gesetz zur Erfüllung von Forderungen mehrere Möglichkeiten offenläßt und die kirchl. Gemeinschaft näherer Festlegung bedarf. Die Aufgabe der kirchl. Gesetzgebung erstreckt sich zunächst auf das geoffenbarte göttl. Gesetz; das natürl. sittl. Gesetz geht sie so weit etwas an, als es zum Inhalt des geoffenbarten göttl. Gesetzes wird.
2. Gegen das Gesetzgebungsrecht der Kirche wandten sich einzelne schon im Altertum (vgl. Epiphanius, Haeres. 75, PG 42,503–516), dann die Vorläufer der Reformatoren und diese selbst (vgl. R. Bellarmino, De summo Pontif. IV 13; F. de Suarez, De legib. IV 1,1). Ihren Spuren folgte die Synode von Pistoia (D 2065). Anhänger des Staatsabsolutismus und des weltanschaul. Liberalismus wollen die Gewalt der Kirche vollständig von der des Staates abhängig sein lassen.
Tatsächl. hat die Kirche ihre eigene Gesetzgebungsgewalt. Diese ist ein Teil der Leitungsgewalt der kirchl. Vorsteher („Habt acht auf euch und auf die ganze Herde, über die der Hl. Geist euch zu Bischöfen bestellt hat, die Kirche Gottes zu weiden, die er sich mit seinem eigenen Blute erworben hat“,, Apg 20,28; vgl. 1 Petr 5,2 f), die in der göttl. Autorität gründet („Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“, Joh 20,21; „Wer euch hört, der hört mich, und wer euch verachtet, verachtet mich; wer aber mich verachtet, verachtet den, der mich gesandt hat“, Lk 20,16). Aus dieser Gewalt heraus erlassen die Apostel Vorschriften (vgl. Apg 15,28 f). Vervollständigt wird die Leitungsgewalt der Kirche durch die Gewalt, über ihre unbotmäßigen Mitglieder Sanktionen zu verhängen („Hört er aber auch auf die Kirche nicht, dann sei er dir wie ein Heide oder Zöllner“, Mt 18,17; d.h. er werde aus der Kirche ausgeschlossen; der Ausdruck ist aus dem jüdischen Sprachgebrauch übernommen: Heiden und Zöllner standen außerh. der jüdischen Gemeinde); Paulus schließt tatsächl. den korinthischen Blutschänder aus der kirchl. Gemeinschaft aus (1 Kor 5,4 f). Augustinus kennzeichnet die Tätigkeit der Apostel dahin: „Sie geboten, was geschehen solle, wiesen zurecht, wenn es nicht geschah, und beteten, daß es geschehe“ (De corrept. et gratia 2,5; vgl. In Ps 44 en. 17, PL 44,918; 36,503 f). Aus der Überzeugung von ihrem Gesetzgebungsrecht hat die Kirche seit ihren Anfängen Gesetze gegeben, wie die alten Canones-Sammlungen zeigen. Nur so konnten ja ihre Vorsteher die ihnen übertragene Leitungsaufgabe erfüllen.
Das Gesetzgebungsrecht der Kirche hängt in keiner Weise vom Staat ab. Christus hat der Kirche ihre eigene Leitungsgewalt übertragen. Eine Abhängigkeit läßt sich auch nicht aus der Natur der staatl. Gewalt herleiten, da dieser andere Aufgaben zufallen als der kirchl. Das kirchl. Lehramt hat dies wiederholt klargestellt (D 945 3062 3168; 2. Vat. Konz., CD 19). Unter dem Einfluß des Christentums hat sich im Bewußtsein der Menschheit weitgehend die Überzeugung gebildet, daß der Staat für die rel. Angelegenheiten nicht zuständig ist und daß die Religionsgemeinschaften das Recht haben, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln (vgl. Religionsfreiheit).
Zu beachten ist ferner, daß Christus, wie das NT zeigt, die kirchl. Leitungsgewalt, in die das Gesetzgebungsrecht eingeschlossen ist, den Vorstehern verliehen hat, nicht der Gesamtheit der Gläubigen und erst durch sie den Vorstehern. Gegenteilige Auffassungen wurden vom kirchl. Lehramt verurteilt (D 2490 2602 f). Hinsichtl. der Gewalt des Papstes hat das 1. Vat. Konz. definiert, daß Petrus von Christus direkt und unmittelbar den Primat wahrer und eigentl. Jurisdiktion erhalten hat (D 3055), daß in diesem Primat der römische Papst sein Nachfolger ist (D 3058), daß der röm Papst daher die volle und höchste Jurisdiktionsgewalt über die gesamte Kirche nicht nur in Glaubens- und Sittensachen, sondern auch in Zucht und Leitung der Kirche hat (D 3064). Das 2. Vat. Konz. legt „ diese Lehre über Einrichtung, Dauer, Gewalt und Sinn des dem Bischof von Rom zukommenden hl. Primates ... abermals allen Gläubigen fest zu glauben vor“ (LG 18; vgl. CD 2). Hinsichtl. der Bischöfe erklärt es, daß sie als Nachfolger der Apostel zus. mit dem Nachfolger Petri das Haus des lebendigen Gottes leiten (LG 18). „An Gottes Stelle stehen sie der Herde vor, deren Hirten sie sind, als Lehrer in der Unterweisung, als Priester im hl. Kult, als Diener in der Leitung. Wie aber das Amt fortdauern sollte, das vom Herrn ausschließl. dem Petrus, dem ersten der Apostel, übertragen wurde und auf seinen Nachfolger übergehen sollte, so dauert auch das Amt der Apostel, die Kirche zu weiden, fort und muß von der hl. Ordnung der Bischöfe immerdar ausgeübt werden“ (LG 20). „Die Bischöfe leiten die ihnen zugewiesenen Teilkirchen als Stellvertreter und Gesandte Christi durch Rat, Zuspruch, Beispiel, aber auch in Autorität und hl. Vollmacht ... Diese Gewalt, die sie im Namen Christi persönl. ausüben, kommt ihnen als eigene, ordentl. und unmittelbare Gewalt zu ... Kraft dieser Gewalt haben die Bischöfe das hl. Recht und vor dem Herrn die Pflicht, Gesetze für ihre Untergebenen zu erlassen, Urteile zu fällen und alles, was zur Ordnung des Gottesdienstes und des Apostolates gehört, zu regeln“ (LG 27; vgl. CD 2).
3. In der Kirche gibt es folgende Gesetzgeber:
a) Der Bischof kann als Apostelnachfolger für seine Diözese auf der Diözesansynode oder außerh. ihrer Gesetze geben (vgl. LG 20 24; CD 2 3 8 11 27; CICc 335 § 1). „Wahrl., ich sage euch: Alles, was ihr auf Erden bindet, das wird im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden löset, das wird im Himmel gelöst sein“ (Mt 18,18). Eines der Grundthemen der Briefe des hl. Ignatius von Ant. ist es, daß der Gehorsam gegen den Bischof dem Willen Christi entspricht (z.B. Trall. 1,2).
Dasselbe Gesetzgebungsrecht haben alle Ortsordinarien: Äbte und Prälaten nullius (CICc. 399 § 1), Apost. Vikare und Apost. Präfekten (CICc. 239 § 1), Kapitelvikare (CICc. 432 §1), für beständig bestellte Apost. Administratoren (CICc. 315 § 1).
Die Bischöfe können ihre Gesetzgebungsgewalt auch kollegial auf Konzilen und in besonderen Fällen auf Bischofskonferenzen ausüben: auf dem Plenarkonzil für das Gesamtgebiet einer Nation, auf dem Provinizialkonzil für eine Kirchenprovinz, auf der Beschofskonferenz für ein Land oder ein Gebiet (CICc. 290; LG 22; CD 3 36–38).
b) Wie die Apostel gemeinsam mit der Sendung Christi betraut wurden, bilden die Bischöfe miteinander ein Kollegium, das für die Gesamtkirche Verantwortung trägt (LG 22 f; CD 3–8). Jeder Bischof wirkt zwar im Rahmen dieses Kollegiums in eigener Vollmacht zum Besten der ihm anvertrauten Gläubigen und der ganzen Kirche (LG 22). Als Kollegium aber haben die Bischöfe für die Gesamtkirche gemeinsam Sorge zu tragen, auch durch Förderung der Disziplin, die der ganzen Kirche gemeinsam ist (LG 23).
Gemäß der Verfügung Christi besitzt das Bischofskollegium eine bestimmte Verfassung: Wie das Apostelkollegium unter Petrus (Mt 16,18 f; Joh 21,15–17), so steht es unter der Leitung des Nachfolgers Petri, des Papstes (LG 21 22).
“Das Kollegium oder die Körperschaft der Bischöfe hat aber nur Autorität, wenn das Kollegium verstanden wird in Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom, dem Nachfolger Petri, als seinem Haupt, und unbeschadet dessen primatialer Gewalt über alle Hirten und Gläubigen ... Die Ordnung der Bischöfe aber, die dem Kollegium der Apostel im Lehr- und Hirtenamt nachfolgt, ja, in welcher die Körperschaft der Apostel immerfort weiter besteht, ist gemeinsam mit ihrem Haupt, dem Bischof von Rom, und niemals ohne dieses Haupt, gleichfalls Träger der höchsten und vollen Gewalt über die ganze Kirche. Diese Gewalt kann nur unter Zustimmung des Bischofs von Rom ausgeübt werden“ (LG 22).
Das Bischofskollegium betätigt seine oberste Gewalt über die Gesamtkirche höchst feierl. im ökumenischen Konzil, das vom Papst bestätigt oder wenigstens angenommen wird (Vorrecht des Papstes ist es, Konzile einzuberufen, auf ihnen den Vorsitz zu führen und sie zu bestätigen; CICcc. 222.228; LG 22; CD 4). Die gleiche kollegiale Gewalt kann gemeinsam mit dem Papst von den in aller Welt lebenden Bischöfen ausgeübt werden, wenn der Papst sie zu einer kollegialen Handlung aufruft oder eine von ihnen unternommene bi lligt oder frei annimmt (LG 22).
Dem Papst als dem Oberhirten der Gesamtkirche kommt dasselbe Gesetzgebungsrecht, welches das Bischofskollegium besitzt, auch dann zu, wenn das Kollegium nicht formell mitwirkt. „Weide meine Schafe“ (Joh 21,17). „Ich will dir die Schlüssel des Himmelreiches geben, und was du auf Erden bindest, das wird im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösest, das wird im Himmel gelöst sein“ (Mt 16,19). „Der Bischof von Rom hat näml. kraft seines Amtes als Stellvertreter Christi und Hirt der ganzen Kirche volle, höchste und universale Gewalt über die Kirche und kann sie immer frei ausüben“ (LG 22; vgl. CD 2).
c) Für exemte klerikale Orden haben deren Obere Jurisdiktion, soweit sie ihnen von den kirchl. genehmigten Konstitutionenen und vom allg. Recht verliehen wird (CICc. 501 § 1).
d) Der Papst bedient sich bei der Ausübung der höchsten, vollen und unmittelbaren Gewalt über die Gesamtkirche der Behörden der röm. Kurie. „Diese versehen folgl. ihr Amt in seinem Namen und mit seiner Vollmacht zum Wohle der Kirchen und als Dienst, den sie den geweihten Hirten leisten“ (CD 9; vgl. CICcc. 242–264). Ihre zeitgemäße Umgestaltung, im besonderen durch Heranziehung von Mitarbeitern (auch Laien) aus den verschiedenen Gebieten der Kirche und durch Beteiligung von (Diözesan-) Bischöfen, wurde durch das 2. Vat. Konz. in die Wege geleitet (CD 9 f). Die vom Konzil beschlossene und von Paul VI. (Motuproprio „Apostolica sollicitudo“, 15.9.1965, AAS 1965, 775–780) eingerichtete Bischofssynode, der aus den verschiedenen Gegenden der Erde ausgewählte Bischöfe angehören, leistet dem obersten Hirten wirksamen Beistand und bringt „gleichzeitig zum Ausdruck, daß alle Bischöfe in der hierarchischen Gemeinschaft an der Sorge für die ganze Kirche teilhaben“ (CD 5).
4. Verpflichtet werden durch die k.n. G.e Getaufte, die sich des hinreichenden Vernunftgebrauches erfreuen. Die Verpflichtung erstreckt sich im allg. nicht auf Getaufte, die das 7. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (CICc.12).
a) Durch die allgemeinen k.n.G.e sind überall alle verpflichtet, für die sie gegeben wurden (CICc. 13 § 1).
Die für ein abgegrenztes Gebiet gegebenen Gesetze binden alle, die auf dem Gebiet Wohnsitz (domicilium) oder Nebenwohnsitz (quasidomicilium) haben und sich tatsächl. dort aufhalten (CICc.13 § 2). Fremde, d.h. Leute, die sich außerh. ihres Wohnsitzes und ihres Nebenwohnsitzes aufhalten (CICc. 91), sind durch die heimatl. Partikulargesetze nicht verpflichtet, da diese am Gebiet haften (außer sie wären vom Gesetzgber nicht als territorial, sondern als personal bindend gedacht oder ihre Nichtbeachtung würde dem Heimatgebiet schaden); an die Partikulargesetze des Aufenhaltsortes brauchen sie sich auch nicht zu halten, weil sie als Fremde nicht zur örtl. Gemeinschaft gehören und nicht deren Gesetzgebern unterstehen, außer es würde sich um die öffentl. Ordnung oder um die Rechtsformalitäten von Akten handeln; sie sind durch jene allg. k.n. G.e gebunden, die am Aufenthaltsort gelten, selbst wenn sie in ihrem Heimatgebiet aufgehoben sind, nicht aber durch jene, die am Aufenhaltsort nicht gelten (CICc.14 § 1). Herumziehende, die nirgends Wohnsitz oder Nebenwohnsitz haben (CICc.91), sind zur Beobachtung der allg. und der partikulären k.n. G.e des jeweiligen Aufenhaltsortes verpflichtet (CICc.14 § 2).
b) Es fragt sich, ob die k.n. G.e jene Getauften etwas angehen, die von der Kirche getrennt sind. Durch die Taufe wird der Mensch zwar Person in der Kirche Christi mit allen Rechten und Pflichten (CICc.87; D 1314 1672). Die Zugehörigkeit zur Kirche kann aber inniger oder lockerer sein (vgl. LG 14–16). Getaufte, die von der Kriche getrennt sind, besitzen Teilelemente der Kirchenzugehörigkeit. Infolge ihrer Taufe unterstehen sie grundsätzl. der kirchl. Leitung, daher auch den k.n G.n (D 1620 f 1627). Eine andere Frage ist es, wie weit für sie gemäß dem Stand ihres Gewissens diese Gesetze drängend werden. Übrigens nimmt die Kirche von manchen ihrer Gesetze die nichtkath. Getauften und nichtkath. Gebliebenen ausdrückl. aus (z.B. von der kath. Eheschließungsform, CICc. 1099 § 2).