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Richtungssittlichkeit

Karl Hörmann: LChM 1976, Sp. 1386-1390

1. Die letzte Bestimmung des Menschen liegt in seiner Gottverbundenheit, die durch die Liebe (letztl. in unmittelbarer Gottschau) gekennzeichnet ist. Endgültig und vollendet kann der Mensch solche Gottverbundenheit auf Erden noch nicht erreichen; dennoch soll sie jetzt schon für ihn beginnen und in Kraft der Gnade von ihm vollendet werden. „Geliebte, jetzt (schon) sind wir Kinder Gottes. Und noch ist nicht offenbar geworden, was wir sein werden“ (1 Joh 3,2).

Paulus zeigt die Aufgabe, die sich dem Menschen von seiner Endbestimmung herstellt: „Bleibt niemand etwas schuldig, es sei denn die gegenseitige Liebe“ (Röm 13,8). Der Christ soll sich bewußt bleiben, daß er nach der Liebe zu streben hat und auch dann, wenn er Liebe geübt hat, weiter zu ihr verpflichtet bleibt. Wie der Glaube etwas Dynamisches ist, also sich von ersten Ansätzen zur Vollgestalt entfalten will, so auch die Liebe, durch die der Glaube wirksam wird (vgl. Gal 5,6); der Christ muß danach streben, den Auftrag der Liebe immer besser zu verstehen und immer vollkommener zu erfüllen. Man kann daher sagen: Das Gebot der Liebe weist eine Richtung; der Christ soll immer die Richtung der Liebe einhalten und sich diese Ausrichtung immer vollkommener zu eigen machen. Und wenn die Eigenart der christl. Sittlichkeit eben in der Agape liegt, gilt von der gesamten christl. Sittlichkeit: Sie ist Richtungssittlichkeit nicht nur in dem Sinn, daß der Mensch immer diese Richtung einhalten soll, sondern auch in dem Sinn, daß er in dieser Richtung Fortschritte machen, d.h. ihr Verständnis und ihre Verwirklichung immer besser erlernen soll (Askese als Einübung verstanden).

2. Seit einiger Zeit wurde in der Moraltheologie die Unterscheidung von Erfüllungs- und von Zielgeboten gebräuchl. Ein Erfüllungsgebot sei eine Forderung, die man zur Gänze erfüllen könne, ohne daß ein Rest unerfüllter Pflicht zurückbleibe („Gebt allen, was ihr schuldig seid: Steuer, wem Steuer, Zoll, wem Zoll“, Röm 13,7). Ein Zielgebot dagegen sei eine Anforderung, der man nie voll gerecht werden könne, viel mehr bleibe immer ein Rest an Verpflichtung zurück (vgl. das Schuldigbleiben der Liebe, Röm 13,8).

So bestechend diese Unterscheidung auf den ersten Blick wirkt, scheint sie sich doch nicht durchhalten zu lassen. Der Mensch kann z.B. einer konkreten Steuervorschreibung so nachkommen, daß sie zur Gänze erfüllt ist; dennoch bleibt ihm die grundsätzl. Steuerpflicht, die zu neuen Steuervorschreibungen führt. Das Richtungsgebot (die grundsätzl. Steuerpflicht) schlägt sich also von Zeit zu Zeit in Erfüllungsgeboten (Steuervorschreibungen) nieder. Richtungs- und Erfüllungsgebot stehen nicht im Verhältnis des Gegensatzes zueinander, sondern im Verhältnis von abstraktem Allgemeinen zu konkretem Besonderen; das Erfüllungsgebot ist die Konkretisierung des Richtungsgebotes.

Dies gilt, insofern Richtungsgebot bedeutet, daß der Mensch ständig auf eine Richtung verpflichtet ist und zu einem ihr entsprechenden konkreten Verhalten aufgefordert wird, falls dafür die Situation eintritt. Das gilt aber auch, insofern Richtungsgebot meint, daß der Mensch sich eine ihm aufgetragene Ausrichtung immer besser aneignen soll („Nicht, als hätte ich es schon ergriffen oder als wäre ich bereits vollendet, sondern ich jage ihm nach, um zu ergreifen“, Phil 3,12). In diesem Aneignen gelangt der Mensch immer wieder an Punkte, wo bestimmte Arten des Verhaltens für ihn einfach zur Pflicht werden. Das Richtungsgebot konkretisiert sich an einem solchen Punkt im Erfüllungsgebot.

Zur Bezeichnung dessen, was der Ausdruck Richtungsgebot meint, wurde vielfach der Ausdruck Zielgebot verwendet. Zur Vermeidung des Mißverständnisses, als ob ein solches Gebot nur auf ein Fernziel verweise, auf ein Wunschbild, das für die Gegenwart keine besondere Rolle spiele, empfiehlt sich der Ausdruck Richtungsgebot. Das grundlegende Gebot der Liebe verlangt vom Menschen, sehr ernsthaft sein Leben ständig und immer vollkommener auf die Verwirklichung der Liebe hin auszurichten. Die ganze christl. Sittlichkeit tut dasselbe in ihren Richtungsgeboten, die sich zu gegebener Zeit in Erfüllungsgeboten konkretisieren.

Die Unterscheidung von Richtungs- und Erfüllungsgebot darf auf keinen Fall so verstanden werden, als ob das Richtungsgebot weniger streng verpflichte als das Erfüllungsgebot. Den radikalen Forderungen der Bergpredigt (Neutestamentl. Gesetz) kann man nicht dadurch entrinnen, daß man sie zu weniger verpflichtenden Richtungs-(Ziel-)Geboten stempelt. Der Nachdruck, den Jesus gerade auf diese Forderungen legt, läßt eine solche Deutung nicht zu. Das Liebesgebot, das ihnen allen zugrunde liegt, ist als Richtungs-(Ziel-)Gebot nicht weniger verpflichtend als ein sog. Erfüllungsgebot; im Gegenteil, die Verpflichtungskraft des letzteren wird ja gerade durch die Verpflichtung auf das Liebesgebot begründet.

3. Im Ausdruck Richtungsgebot klingt an, daß der Mensch in eine Richtung gerufen wird und in ihr Fortschritte machen kann und soll.

Als sich Johannes beklagt, daß ein Mann, der nicht zur Gefolgschaft Jesu gehört, doch in seinem Namen Dämonen austreibt, besänftigt ihn Jesus: „Hindert ihn nicht! Denn wer nicht gegen euch ist, der ist für euch“ (Lk 9,49 f). Ein anderes Mal aber sagt Jesus: „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich, und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut“ (Lk 11,23). Wenn Jesus alle zu seiner Nachfolge ruft (Mt 8,34; Lk 9,23), anerkennt er, daß der eine in seiner Verfassung und seiner Situation schon durch eine lockere Verbundenheit, die sich im Fehlen der Gegnerschaft kundtut, eine Art Nachfolge Christi übt; von anderen jedoch in ihrer Verfassung und ihrer Situation verlangt er zur Erfüllung der Nachfolgeforderung ein entschiedeneres Stehen zu ihm. Das Richtungsgebot der Nachfolge ist also durch verschiedenes konkretes Verhalten zu erfüllen, je nachdem, wie weit ein Mensch in seiner Ausrichtung auf die Nachfolge gekommen ist und in welcher Situation er sich befindet.

Wenn die christl. Sittlichkeit den Charakter der Richtungssittlichkeit hat, wird man darauf achten müssen, daß verschiedene Menschen für sie verschieden reif sein können. Es kann dann vermutet werden, daß es so etwas gibt wie eine Altersstufenmoral, näml. daß den Altersstufen verschiedene Verwirklichungsformen der christl. Sittlichkeit entsprechen. Aber auch im selben Lebensalter unterscheiden sich verschiedene Personen in ihrem sittl. Verstehen und Können; zugemutet wird ihnen ein sittl. Verhalten, das ihrem Verstehen und Können entspricht, aber auch das Bemühen um weitere Ausrichtung im Sinn der christl. Sittlichkeit.

Ähnliches wie für die Einzelperson ist auch für ganze Kulturen zu beachten. Das AT ließ im Volk Israel manche Verhaltensweisen bestehen, die im Licht der christl. Sittlichkeit eindeutig abzulehnen sind (Bann, Entlassung der Frau). Der Grund dafür lag wohl darin, daß sich das Volk Israel in seiner sittl. Verfassung zwar in manchen Stücken vorteilhaft von den angrenzenden Heidenvölkern unterschied, aber doch nicht in allem zu der von Gott eigentl. gemeinten Sittlichkeit, wie sie Christus aufzeigte (vgl. Mt 19,8 f), herangereift war. Dasselbe Problem spüren die Verkünder des Evangeliums in der Begegnung mit nichtchristl. Kulturen (in Missionsländern); es stellt sich aber auch in sog. christl. Ländern in der Begegnung des Christentums mit einer mehr oder minder entchristlichten Gesellschaft.

Vorsicht ist daher gegenüber dem Versuch geboten, ein strittiges Verhalten mit dem Hinweis zu rechtfertigen, Christen hätten irgendwo irgendwann in der Vergangenheit auch so getan und sogar dieser oder jener Kirchenvater oder Theologe hätte ebenso gedacht und gelehrt. Wenn die Kirche etwa in den Anfängen nur gegen wenige sog. Kapitalsünden mit ihren Strafen vorging, bedeutet das nicht, daß sie nicht von anderen Fehlern wußte und sie als Todsünden ansah (schon der hl. Paulus sagt von einer Menge anderer Sünden, daß sie vom Himmelreich ausschließen).

Wenn sie später manche Verhaltensweisen deutlicher als sittl. Forderungen oder als sittl. Verfehlungen herausstellte, ist dies darauf zurückzuführen, daß auch die Kirche als gesamte im Erfassen und im Verwirklichen der christl. Sittlichkeit Fortschritte machen kann. „Was von den Aposteln überliefert wurde, umfaßt alles, was dem Volk Gottes hilft, ein heiliges Leben zu führen und den Glauben zu mehren“; mit dieser Überzeugung verbindet das 2. Vat. Konz. das Wissen darum, daß die Kirche im Verständnis der überlieferten Dinge und Worte fortschreiten kann und daß dazu das Nachsinnen und das Studium der Gläubigen beiträgt, ferner die geistl. Führung und die Verkündigung durch die Bischöfe; „denn die Kirche strebt im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttl. Wahrheit entgegen, bis an ihr sich Gottes Worte erfüllen“ (DV 8).


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