Predigt:
Über allem steht die Liebe
30. Sonntag im Jahreskreis A (29.10.2023)
L1: Ex 22,20-26; L2: 1 Thess 1,5c-10; Ev: Mt 22,34-40
Diese Homilie erschien in "Kirche bunt", 29.10.2023, S.9, unter dem Titel: "Nächstenliebe ist Prüfstein für Echtheit der Gottesliebe"
Josef Spindelböck
Liebe Brüder und Schwestern im Herrn!
Welches Gebot ist das Wichtigste? Als ein pharisäischer Gesetzeslehrer Jesus auf die Probe stellen wollte, da hatte er es sich gut überlegt, welche Frage er Jesus stellen würde. Denn das Ansehen Jesu aufgrund seiner von Gott kommenden Autorität war im Volk und bei den Jüngern Jesu sehr groß. Wie also konnte er Jesus einer theologischen Überprüfung unterwerfen?
Im Alten Testament gibt es außer den zehn Geboten Gottes (dem Dekalog) noch viele Einzelgebote, die sich nicht nur auf das sittliche Leben beziehen, sondern auch Vorschriften liturgisch-zeremonieller sowie staatlich-rechtlicher Natur umfassen. Wie leicht übersah man das Wesentliche und nahm falsche Gewichtungen vor! So kann schon die Frage des Pharisäers als Provokation aufgefasst werden, was Jesus sofort durchschaut.
Die Antwort Jesu, der als der menschgewordene Sohn Gottes größer als Mose ist, ist einfach und doch genial: Zuerst geht es um die Liebe zu Gott, und dies ist das wichtigste und erste Gebot: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken“ (Mt 22,37). Klarerweise war den frommen Juden dieses Gebot bekannt, ja allgegenwärtig. Im „Höre Israel!“ ist es enthalten (vgl. Dtn 6,4–9), und es sollte das ganze Leben des gläubigen Menschen durchdringen.
Dann fügt Jesus zur Überraschung seines Zuhörers hinzu, dass das zweite Gebot ebenso wichtig ist wie das erste, nämlich: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 22,39). Dieses Gebot kennt der Gesetzeslehrer aus dem Buch Leviticus (19,18). Sinngemäß finden sich die Gebote der Gottes- und Nächstenliebe immer wieder im Alten Testament.
Neu und einzigartig ist: Jesus verbindet diese beiden Gebote zu einem einzigen, indem er sie als gleichrangig und untrennbar darstellt. Es geht nicht an, nur fromm gegenüber Gott zu sein und den Nächsten zu vergessen. Die Nächstenliebe ist der Prüfstein für die Echtheit der Gottesliebe (vgl. 1 Joh 4,20). Umgekehrt kann die Nächstenliebe nicht für sich bestehen, sondern gewinnt ihre Kraft aus der Gottesliebe und führt zu dieser hin.
Jesus sagt klar: Diese beiden Gebote sind zentral, ja an ihnen „hängt das ganze Gesetz und die Propheten“ (Mt 22,40). Die übrigen Gebote sind von diesem Doppelgebot der Liebe abhängig und müssen im Sinnhorizont der Liebe verstanden werden. Jesus hebt die Einzelgebote nicht auf, insofern sie von Gott kommen, aber er zeigt ihren wahren Sinn und lässt sie als Verwirklichung der Gottes- und Nächstenliebe zur Geltung kommen.
In unserem christlichen Leben soll es zuerst und in allem um die Liebe gehen: Die Liebe zu Gott ist das erste Gebot, die Nächstenliebe das zweite; beide Gebote haben nach den Worten des Herrn in ihrer Bedeutsamkeit denselben Rang, weil sie untrennbar miteinander verbunden und aufeinander bezogen sind. Wir wollen dankbar anerkennen, dass Gott uns zuerst geliebt hat, indem er uns das Leben schenkt und uns in der Taufe zu seinen Kindern gemacht hat. Wer ein solches Übermaß an Liebe empfängt, „muss“ diese Liebe weitergeben an die Mitmenschen. Dann bringt sie reiche Frucht, und die Nähe des Himmelreiches wird erfahrbar. Bis zur Hingabe des eigenen Lebens für Gott und die Mitmenschen kann diese Liebe gehen, wie Jesus durch sein eigenes Beispiel aufzeigt. Wer aus der Liebe Gottes lebt und den Nächsten liebt wie sich selbst, hat teil am Leben in Fülle, das sich vollenden wird in der himmlischen Herrlichkeit. Amen.