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Der Bund Gottes mit Israel
(November 2005)

Avery Cardinal Dulles

Hinweis/Quelle: Avery Cardinal Dulles SJ (geb. 1918, Kardinal seit 2001) ist Inhaber des Laurence J. McGinley Lehrstuhls über Religion und Gesellschaft an der Fordham University der Jesuiten in New York City. Die englische Originalfassung des Beitrags erschien in: First Things, Nr. 157 (November 2005), p.16–21, online . Die deutsche Übersetzung sowie die Zwischentitel und die Quellennachweise in den Anmerkungen wurden von Dr. theol. habil. Josef Spindelböck erstellt. Die Publikation der deutschsprachigen Version erfolgt mit freundlicher Erlaubnis von „First Things“, wofür wir uns herzlich bedanken. Sie können den Beitrag auch als Word-Dokument und als PDF-Dokument lesen.

Zum „status quaestionis“

Die Frage des gegenwärtigen Status des Bundes Gottes mit Israel ist in den jüdisch-christlichen Dialogen seit der Shoah in aller Ausführlichkeit diskutiert worden. Die Katholiken halten Ausschau nach einer Auffassung, welche innerhalb des Rahmens der katholischen Lehre ihren Platz findet, wobei vieles durch das 2. Vatikanische Konzil zusammengefasst worden ist. Bei der Interpretation des Konzils sollte gemäß den nachkonziliaren Dokumenten den vier großen Konstitutionen die Priorität zukommen, dann den Dekreten und schließlich den Erklärungen. Die „Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ Nostra aetate[1] ist, auch wenn sie herausragend ist, dennoch nicht erschöpfend oder ausreichend. Sie muss im weiteren Zusammenhang der ganzen Lehre des Konzils verstanden werden.

Das 2. Vatikanische Konzil lehrte mit großem Nachdruck, es gebe einen einzigen Mittler zwischen Gott und den Menschen, den Menschen Jesus Christus. Jede Erlösung kommt durch Christus, und es gibt keine Rettung in irgendeinem anderen Namen. In Christus, dem fleischgewordenen Sohn Gottes, erreicht die Offenbarung ihre unübertreffliche Fülle. Für jeden ist es prinzipiell nötig, an Christus als den Weg, die Wahrheit und das Leben zu glauben, sowie an die Kirche, die er als Werkzeug für die Rettung aller eingesetzt hat. Ein jeder, der sich dessen bewusst ist und sich dennoch weigert, in die Kirche einzutreten oder in ihr auszuharren, kann nicht gerettet werden.[2] Andererseits können jene Personen, welche „das Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennen, Gott aber aus ehrlichem Herzen suchen und seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluss der Gnade in der Tat zu erfüllen trachten“, auf eine Weise, die Gott allein bekannt ist, zur ewigen Erlösung gelangen.[3]

Christus gab den Aposteln und durch sie der Kirche den feierlichen Auftrag, die rettende Wahrheit des Evangeliums sogar bis an die Grenzen der Erde zu verkünden: „Jedem Jünger Christi obliegt die Pflicht, nach seinem Teil den Glauben auszusäen“, wie es Lumen gentium formuliert. „So aber betet und arbeitet die Kirche zugleich, dass die Fülle der ganzen Welt in das Volk Gottes eingehe, in den Leib des Herrn und den Tempel des Heiligen Geistes, und dass in Christus, dem Haupte aller, jegliche Ehre und Herrlichkeit dem Schöpfer und Vater des Alls gegeben werde.“[4]

Im Bestreben, den Glauben auszubreiten, sollen sich die Christen daran erinnern, dass der Glaube seinem eigentlichen Wesen nach eine freie Antwort auf das Wort Gottes ist.[5] Moralischer oder physischer Zwang muss deshalb vermieden werden. Indem das Konzil dies lehrt, gibt es mit Bedauern zu, dass zu gewissen Zeiten und an bestimmten Orten der Glaube auf eine Art und Weise verbreitet wurde, die nicht im Einklang mit dem Geist des Evangeliums oder sogar im Gegensatz dazu war.[6]

Die christliche Offenbarung kam erst nach einer langen Vorbereitung, beginnend mit unseren Stammeltern Adam und Eva, in die Welt. Durch Abraham, Mose und die Propheten lehrte Gott Israel, „ihn allein als lebendigen und wahren Gott, als fürsorgenden Vater und gerechten Richter anzuerkennen und auf den versprochenen Erlöser zu harren“, wie die Dogmatische Konstitution des Konzils über die göttliche Offenbarung Dei Verbum erklärt.[7] „Er schloss mit Abraham und durch Mose mit dem Volk Israel einen Bund.“[8] „Gottes Geschichtsplan im Alten Bund zielte vor allem darauf, das Kommen Christi, des Erlösers des Alls, und das Kommen des messianischen Reiches vorzubereiten, prophetisch anzukündigen und in verschiedenen Vorbildern anzuzeigen.“[9] Ein- und derselbe Gott ist der Inspirator und Urheber sowohl des Alten als auch des Neuen Testaments. Er „wollte in Weisheit, dass das Neue im Alten verborgen und das Alte im Neuen erschlossen sei.“[10]

Das Volk des Neuen Bundes besitzt eine besondere geistliche Verbindung mit Abrahams Stamm: Darauf besteht das Konzil in Nostra aetate. Die Kirche erinnert sich dankbar daran, dass sie die Offenbarung des Alten Testaments durch das Volk Israel empfangen hat. Auch wenn Jerusalem die Zeit seiner Heimsuchung nicht erkannte und die Juden in großer Zahl das Evangelium nicht angenommen haben, ist sie sich dessen bewusst, dass nach Paulus die Juden von Gott wegen ihrer Väter immer noch überaus geliebt bleiben.[11]

Während das 2. Vatikanische Konzil einen soliden und der Tradition entsprechenden Rahmen für die Diskussion der jüdisch-christlichen Beziehungen bereit stellte, unternahm es nicht den Versuch, alle Fragen zu lösen. Insbesondere ließ es die Frage offen, ob der Alte Bund heute noch in Kraft ist. Gibt es zwei Bünde, einen für Juden und einen anderen für Christen? Wenn ja, stehen die beiden als Phasen eines einzigen sich entwickelnden Bundes, eines einzigen Heilsplans Gottes in Beziehung zueinander? Dürfen Juden, welche sich dem Christentum anschließen, damit fortfahren, den jüdischen Bundespraktiken anzuhangen?

In dem halben Jahrhundert seit dem 2. Vatikanum sind bedeutende Beiträge für die katholische Bundestheologie durch Papst Johannes Paul II., Joseph Kardinal Ratzinger (jetzt Papst Benedikt XVI.), Walter Kardinal Kasper, den Katechismus der Katholischen Kirche und die Päpstliche Bibelkommission erbracht worden. Mit diesen Beiträgen und auch mit einigen Schriften von geringerer Autorität können wir einen Weg durch das Dickicht der Kontroverse finden.

Der Bund Gottes als Zusage und als Vertrag

Ein Ausgangspunkt ist der Begriff “Alter Bund”, der manchmal deshalb Kritik erfährt, weil das Adjektiv “alt” die Vorstellung nahelegt, antiquiert oder gar überholt zu sein. Vielleicht weil ich nicht mehr der Jüngste bin, tue ich mich schwer damit, diese Kritik zu teilen. Wenn Menschen zum Beispiel vom „alten Land“ sprechen, meinen sie damit nicht, dass das alte nicht mehr länger existiert oder der Auflösung nahe ist. Jedenfalls ist der Begriff „Alter Bund“ fest verankert. Er taucht in den Schriften des Apostels Paulus auf und in vielen offiziellen Lehrdokumenten, einschließlich des 2. Vatikanums. Einige Autoren mögen es vorziehen, indem sie dem Brief an die Hebräer folgen, vom „ersten“ oder „früheren“ Bund zu sprechen.[12] All diese Begriffe lassen – wenn sie in sich selbst betrachtet werden – die Frage offen, ob der frühere Bund immer noch in Kraft ist oder nicht.

Dem Urteil der Schrift nach ist der Alte Bund selbst vielgestaltig. In der hebräischen Bibel lesen wir von einer ganzen Abfolge von Bünden, die vor dem Kommen Christi geschlossen wurden: Bemerkenswert sind jene, die mit Noach, Abraham, Mose und David geschlossen wurden. Im Römerbrief spricht Paulus davon, dass den Juden „Bünde“ in der Mehrzahl gewährt worden seien.[13] Das Vierte Eucharistische Hochgebet im Römischen Messbuch preist Gott dafür, dass er seinem Volk „immer wieder“ seine Bünde angeboten habe.[14] Der Begriff „Alter Bund“ könnte verwendet werden, um sich auf die ganze Abfolge zu beziehen, aber wenn Paulus den Begriff verwendet[15], bezieht er sich offensichtlich auf das Mosaische Gesetz. Und das ist, so glaube ich, die normale Praxis der Christen. Der Alte Bund par excellance ist jener vom Sinai.

Der Begriff „Bund“ ist die gebräuchliche Übersetzung des hebräischen „b’rith“ und des griechischen „diatheke“. Die Gelehrten unterscheiden im Allgemeinen zwischen zwei Typen des Bundes: der Bundeszusage und dem Bundesvertrag. Die Bundeszusage ist nach dem Vorbild des freien königlichen Dekrets ein göttliches Geschenk ohne jede Bedingung und wird für gewöhnlich als unwiderruflich verstanden. Ein Beispiel wäre der Bund Gottes mit Noach und seinen Nachkommen.[16] Gott macht ein immerwährendes Versprechen, alle lebenden Geschöpfe nicht mehr durch eine weitere Flut zu zerstören, jener gleich, die gerade nachgelassen hatte. Der Bund, welcher Abraham zum Vater vieler Völker machte[17], sowie die Verheißung an David, ihm in seinem Sohn ein immerwährendes Königtum zu verleihen[18], werden ohne vorheriges Verdienst und gleichsam einseitig gewährt. Sie sind ebenso ohne jede Bedingung und unwiderruflich, natürlich nur in ihrer tiefsten Bedeutung.

Das erste Beispiel eines unter Bedingungen gewährten Bundes ist jener vom Sinai, wie er in der deuteronimistischen Tradition interpretiert wird. Er verheißt Segnungen für jene, welche seine Bedingungen einhalten, und droht mit Fluch für jene, die sie verletzen.[19] Die Israeliten brachen fast unmittelbar darauf den Bund, indem sie das goldene Kalb anbeteten. Doch nach der Buße des Volkes errichtete Gott in seinem Erbarmen den Bund wieder neu. Jeremia lehrt, dass Israel den Sinaibund gebrochen hat, aber Gott ihnen einen „neuen Bund“ geben werde, indem er sein Gesetz in ihre Herzen legt und sie zu seinem Volk macht.[20]

Der Begriff “b’rith” wird für gewöhnlich mit “Bund” übersetzt; doch hat diese Übersetzung die Tendenz, den zweiseitigen und an Bedingungen geknüpften Charakter des Angebotes hervorzuheben. Dasselbe Wort kann auch mit „Testament“ übersetzt werden; es wurde auch in der altlateinischen Version so wiedergegeben, bevor Hieronymus seine Vulgata erstellte. Der Begriff „Testament“ vermittelt besser die Vorstellung, dass Gott in freier Weise handelt, also aus reiner Großzügigkeit, und dass sein Geschenk nicht mit Bedingungen verknüpft ist. Das paradoxe Ineinander des Einseitigen und des Gegenseitigen, des Bedingungsweisen und des Unbedingten, ist eines jener Elemente, welche die Frage verkomplizieren, ob denn der sogenannte „Alte Bund“ immer noch fortdauert.

Der Begriff “Neuer Bund” wirft eine zusätzliche Reihe von Fragen auf. Die neutestamentlichen Verfasser entlehnen den Begriff aus Jer 31,31 und interpretieren ihn als eine Voraussage der neuen Heilsordnung, welche mit Christus und der Kirche in Kraft treten sollte.[21] Gemäß den Berichten vom Letzten Abendmahl im Evangelium nach Lukas und im Ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther bezog sich Jesus auf den Kelch als „den neuen Bund in meinem Blut“.[22] Die Evangelien nach Matthäus und Markus berichten nur, dass Jesus vom „Blut des Bundes“ gesprochen hat.[23]

In beiden Versionen weist die Erwähnung des Blutes zurück auf die feierliche Vollziehung des Sinai-Bundes, als Mose das Volk mit dem Blut der geopferten Tiere besprengte und den Rest auf den Altar leerte.[24] Die Eucharistie ist daher das Bundesopfer, welches Gott und seine Kirche jeweils miteinander verbindet. Der „Neue Bund“ ist konstitutiv für das „Neue Volk Gottes“ oder das „Neue Israel“ – es handelt sich um Begriffe, welche das 2. Vatikanum als Bezeichnungen der Kirche Christi verwendet.

Im Römischen Kanon der Messe wird der Bund, welcher durch das Vergießen des Blutes Christi begründet wurde, als „neu“ und „ewig“ beschrieben.[25] Das Wort „ewig“ kommt vom Brief an die Hebräer, welcher vom „Blut eines ewigen Bundes“ spricht[26], wodurch Jesus die Schafe befähigt, Gottes Willen zu erfüllen. Das 2. Vatikanum spricht in Dei Verbum von der christlichen Heilsordnung als „neuem und endgültigen Bund“.[27] Die Vorstellung scheint zu sein, das der frühere Bund bzw. diese Bünde nicht ewig oder endgültig waren, sondern zeitlich und vorbereitend.

Das Neue Testament weist in gewissen Abschnitten darauf hin, dass das Alte Gesetz oder der Alte Bund an ein Ende gekommen sind und ersetzt worden sind. Paulus zeichnet im Zweiten Brief an die Korinther einen Gegensatz zwischen dem Alten Bund, der auf Stein gemeißelt war und seinen früheren Glanz verloren hat, und dem Neuen Bund, welcher – durch den Geist auf menschliche Herzen geschrieben – bleibenden Bestand hat und strahlend leuchtet.[28] Im dritten und vierten Kapitel des Galaterbriefs zeichnet er einen scharfen Gegensatz zwischen den Bundesverheißungen, wie sie Abraham geschenkt wurden, und dem Gesetz, das in der Folge durch Mose gegeben wurde. Die zwei Bünde werden in diesem Abschnitt durch die beiden Söhne Abrahams, Ismael und Isaak, repräsentiert. Das Gesetz, so sagt er, war unser Zuchtmeister, bis Christus kam, aber es war nicht in der Lage, die Rechfertigung zu schenken, und verliert seine Kraft, sobald Christus gekommen ist. Indem Christus die Verheißungen erfüllt, welche an Abraham ergangen sind, setzt er dem Alten Gesetz ein Ende.

Bibeltheologische Unterscheidungen und Klärungen

Im Zweiten Korintherbrief bezieht sich Paulus auf den “alten Bund” als „Dienst, der zum Tod führt“ und der „verblasst“ ist.[29] Im Römerbrief spricht er von Christus als dem „Ende des Gesetzes“[30] und meint offensichtlich seine Beendigung, sein Ziel oder beides. Das mosaische Gesetz hört auf zu verpflichten, sobald sein Ziel erreicht worden ist. Die neue Ordnung kann das „Gesetz Christi“[31] oder das „Gesetz des Geistes“[32] genannt werden. Der Hebräerbrief enthält in Kapitel 7–10 eine ausführliche Diskussion der zwei Bünde, welche auf den zwei Priestertümern gründen, nämlich jenem des Levi und dem Christi, des Mittlers des Neuen Bundes. Das Alte Gesetz mit seinem Priestertum und Tempelopfern ist mit dem Kommen des Neuen verdrängt und von diesem abgelöst worden.

All diese Texte, welche die Kirche als Lehräußerungen der kanonischen Schrift annimmt, müssen mit anderen versöhnt werden, welche in eine davon verschiedene Richtung zu weisen scheinen. Jesus lehrt in der Bergpredigt, dass er nicht gekommen ist, das Gesetz und die Propheten aufzuheben, sondern sie zu erfüllen[33], sogar wenn er hier eine Reihe von Antithesen aufgreift, in denen er bestimmte Regelungen im Gesetz des Mose sowohl ergänzt als auch korrigiert. In einem sehr wichtigen Abschnitt bekräftigt Paulus im Römerbrief, dass die Juden nur „gestrauchelt“ sind.[34] Sie sind Zweige, welche vom guten Olivenbaum abgebrochen worden sind. Doch sie sind dazu fähig, wieder eingepfropft zu werden, da sie von Gott wegen ihrer Vorväter immer noch geliebt sind, dessen Geschenke und Berufung unwiderruflich sind.[35] Das scheint zu bedeuten, dass das jüdische Volk trotz des Versagens als Gruppe, Christus als Messias anzunehmen, immer noch in einer Art von Bundesbeziehung mit Gott verbleibt.

Die Achtung der Kirche für die Heilige Schrift ist derart, dass katholische Interpreten nicht frei sind, irgendeinen dieser neutestamentlichen Textabschnitte zu verwerfen, so als ob der eine einem anderen widersprechen könnte. Die systematische Theologie muss einen Weg suchen, diese miteinander zu versöhnen und in eine Synthese zu bringen. Die Aufgabe ist, so glaube ich, durchführbar, wenn wir gewisse notwendige Unterscheidungen vornehmen. Thomas von Aquin, der eine Vielzahl von patristischen und mittelalterlichen Autoritäten aufnahm, unterschied die sittlichen, zeremoniellen und rechtlichen Gebote des Alten Gesetzes.[36] Teilweise von seinen Reflexionen inspiriert, finde ich es nützlich, drei Aspekte des Alten Bundes zu unterscheiden: als Gesetz, als Verheißung und als interpersonale Beziehung mit Gott. Das Gesetz wiederum kann in das sittliche und in das zeremonielle unterschieden werden.

Das sittliche Gesetz des Alten Testaments ist in seinen Wesenszügen dauerhaft. Der Dekalog, der am Sinai gegeben wurde, ist in seinem Kern eine Neuverlautbarung des Gesetzes der Natur, das in alle menschlichen Herzen noch vor jeder positiven göttlichen Gesetzgebung eingeschrieben ist. Die Gebote, welche das natürliche Sittengesetz widerspiegeln und im Neuen Testament wieder bestätigt wurden, sind für Christen bindend. Aber, wie der heilige Thomas in der Summa Theologiae erklärt[37], enthält das mosaische Gesetz Hinzufügungen im Hinblick auf die besondere Berufung und Situation des jüdischen Volkes. Der Dekalog selbst, so wie er in den Büchern Exodus und Deuteronomium gegeben ist, enthält gemeinsam mit den sittlichen Vorschriften auch einige zeremonielle.

Jene Anordnungen, welche über das natürliche Sittengesetz hinausgingen, konnten modifiziert werden. Indem die Kirche das Gesetz einem neuen Stadium in der Heilsgeschichte anpasste, war sie befähigt, das Sabbatgebot vom letzten Tag der Woche auf den ersten zu übertragen und das mosaische Bilderverbot aufzuheben. Das Neue Gesetz[38] ist in seinen sittlichen Weisungen noch viel mehr als eine Wiederverlautbarung des Alten. Das Gesetz wird insofern ausgeweitet, als es nun auf alle Völker und Zeiten ausgedehnt ist und diese einlädt, in eine Bundesbeziehung mit Gott einzutreten. Es ist insofern vertieft, als Christus es verinnerlicht und radikalisiert, indem er Einstellungen und Absichten vorschreibt, welche zuvor keine Angelegenheiten der Gesetzgebung waren.

Und am wichtigsten: Christus schenkt den Heiligen Geist, der das Neue Gesetz in die Herzen aller einschreibt, die ihn empfangen. Das „Gesetz des Geistes und des Lebens“[39] verdient gemäß dem heiligen Thomas ein Gesetz genannt zu werden, da der ins menschliche Herz eingegossene Heilige Geist sowohl den Geist erleuchtet als auch die Gemütsbewegungen in Beständigkeit auf Akte der Tugend hinlenkt. Obwohl das Gesetz des Geistes besonders für jene charakteristisch ist, welche in die Kirche eingetreten sind, fügt der heilige Thomas die Bestimmung hinzu, dass zu allen Zeiten einige zum Neuen Bund gehört haben. Es wäre ein Fehler anzunehmen, dass das Gebot der Liebe nur mit dem Kommen Jesu erschienen sei. Sogar im Alten Testament wird die Liebe zu Gott und zum Nächsten als eine grundlegende Verpflichtung angesehen.[40]

Jene, welche den Alten Bund als tot und überholt betrachten, denken im Allgemeinen an seine gesetzmäßigen Vorschriften, besonders an solche, die mit dem Kult zu tun haben, wie dies in den Paulusbriefen und im Brief an die Hebräer behandelt wird. Die Einengungen des Paulus bezüglich des mosaischen Gesetzes finden sich besonders im Zweiten Brief an die Korinther[41] und im Brief an die Galater[42], wo er die Position einiger Judenchristen heftig zurückweist, die danach trachteten, Mitgliedern der Kirche die Beschneidung aufzuerlegen. Paulus besteht darauf, dass Christen nicht verpflichtet sind, die Riten des Alten Gesetzes zu halten. Der Brief an die Hebräer, welcher wesentlich eine Abhandlung über das Priestertum darstellt, lehrt, dass mit dem Aufhören des levitischen Priestertums und der Tempelopfer der Alte Bund bis zu jenem Umfang ersetzt wurde: „Denn sobald das Priestertum geändert wird, ändert sich notwendig auch das Gesetz.“[43] Das frühere Gebot wurde beiseite gestellt, da eine „bessere Hoffnung“[44] und ein „besserer Bund“[45] eingeführt worden sind. „So hebt Christus das erste auf, um das zweite in Kraft zu setzen.“[46]

Fortdauer göttlicher Verheißung

Die Päpstliche Bibelkommission legt im Dokument „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“[47] eine tiefschürfende Diskussion des Bundes vor und schließt damit, dass Paulus das Bundesgesetz des Sinai für vorläufig und als nicht ausreichend ansieht.[48] Es erklärt, dass der Hebräerbrief verkündet, die kultischen Einrichtungen des „ersten Bundes“ seien nun „deshalb abgeschafft worden, um dem Opfer und Priestertum Christi Platz zu machen.“[49]

Erst nach einigen Jahrzehnten der erhitzten Kontroverse erreichte die Kirche einen Konsens darüber, dass Christen, besonders jene heidnischer Abstammung nicht an die Beschneidung und die jüdischen Speisegesetze gebunden waren. Jesus selbst war natürlich beschnitten worden und hatte das Gesetz „in vollem Umfang, selbst die geringsten Gebote“, gehalten, wie dies der Katechismus der Katholischen Kirche formuliert[50], obwohl die Pharisäer ihn als nicht ausreichend gesetzestreu ansahen. Mit der Hilfe der weiteren Offenbarung entschieden die Leiter der Kirche, dass bekehrte Heiden nicht durch jüdische Speisegesetze gebunden seien.[51] Aber sogar nach jener Entscheidung erlaubte Paulus dem Timotheus, sich beschneiden zu lassen, da er aus jüdischem Elternhaus stammte.[52]

Sogar im Hinblick auf die zeremoniellen Gesetze und Institutionen ist der Neue Bund nicht einfach eine Abschaffung des Alten, sondern vielmehr seine Erfüllung. Gemäß der christlichen Theologie ist Christus der neue Mose, der neue Aaron, der neue David und der neue Tempel. Thomas von Aquin erklärt im Detail, wie die Sakramente des neuen Gesetzes das erfüllen, was in jenen des Alten Gesetzes im Schatten vorausgebildet war. Die Taufe als das Sakrament des Glaubens folgt der Beschneidung.[53] Die Eucharistie, so sagt er, wird unter verschiedenen Aspekten durch verschiedene Einrichtungen des Alten Gesetzes vorausgebildet: durch das Opfer des Melchisedek, den Versöhnungstag, das Manna und besonders durch das Paschalamm.[54] In einem anderen Abschnitt zeigt der heilige Thomas die verschiedenen hohen Feste des Alten Gesetzes und ihre Anti-Typen im Neuen auf.[55] Das Pascha zum Beispiel wird zum österlichen Triduum. Das jüdische Pfingsten, welches das Geschenk des Alten Gesetzes feierte, gibt dem christlichen Pfingsten Raum, welches das Geschenk des Heiligen Geistes in Erinnerung ruft. Das Neumondfest stellt die Feste der seligen Jungfrau Maria im Voraus dar und gibt ihnen Raum, da Maria das Licht jener Sonne widerspiegelt, welche Christus ist.

Im Hinblick auf das zeremonielle Gesetz können wir darum sagen, dass der Alte Bund in einem gewissen Sinn aufgehoben ist, während er zugleich erfüllt ist. Das Gesetz Christi gibt der Tora des Mose ihre endgültige Interpretation. Doch behalten die alten Riten ihren Wert als Zeichen dessen, was kommen sollte. Das Priestertum, der Tempel und die Opfer sind nicht ausgelöscht; sie leben in Christus und der Kirche auf eine noch vortrefflichere Art und Weise fort.

Der heilige Augustinus und in der Folge Thomas von Aquin und viele mittelalterliche Lehrer stellten in Abrede, dass die jüdischen Riten irgendeine rettende Wirksamkeit besaßen, auch nicht für die Juden.[56] Das Konzil von Florenz lehrte in seinem Dekret für die Kopten, dass die gesetzlichen Richtlinien des alten Israel, einschließlich der Beschneidung und des Sabbats, nach der Verkündigung des Evangeliums nicht mehr länger beobachtet werden sollten und dass Konvertiten aus dem Judentum ihre jüdischen rituellen Praktiken aufgeben müssten.[57]

In einem Brief an Jean-Marie Cardinal Lustiger, den damaligen Erzbischof von Paris, fragte Michael Wyschogrod in pointierter Weise, was der Kardinal damit meinte, als er geschrieben hatte: Als er ein Christ geworden sei, habe er nicht aufgehört, ein Jude zu sein und sei der jüdischen Tradition nicht entflohen. Für Wyschogrod scheint es, die jüdische Identität würde die Beobachtung der Tora und der jüdischen Tradition verlangen. Indem die Kirche bekehrten Juden die Beobachtung der Tora verboten hat, erklärt er, verfiel die Kirche einem Supersessionismus[58], von welchem sie sich heute selbst zu lösen sucht.[59] In einer möglichen Antwort hätte Lustiger aufzeigen können, dass gemäß der Lehre des heiligen Paulus, welche für die Christen normativ ist, die Beschneidung und das mosaische Gesetz zumindest für Christen ihren heilbringenden Wert verloren haben und in diesem Sinn „abgelöst“ worden sind. Aber ich möchte nicht leugnen, dass die Beobachtung einiger dieser Vorschriften durch Juden, welche Christen geworden sind, erlaubt oder sogar empfehlenswert sein könnte als Weg, sich die Verwurzelung des Christentums im Alten Bund in Erinnerung zu rufen.

Unter der zweiten Rücksicht ist der Alte Bund eine Verheißung. In sich selbst ist dies ein Aspekt der Gemeinsamkeit zwischen Christen und Juden, da beide Gruppen sich dessen bewusst sind, die geschichtliche Erfüllung des messianischen Zeitalters zu erwarten. Während die Juden immer noch auf die Ankunft jenes Zeitalters hoffen, verstehen es die Christen als bereits im Gange, obwohl sie die Vollendung in der Endzeit erwarten.

Die Verheißung des Landes an Abraham[60] bezieht sich wörtlich auf das Territorium von Kanaan, wo er und seine Nachkommen sich ansiedeln sollten, und erfüllte sich geschichtlich in den späteren Jahrhunderten. Das Königtum, welches dem Sohn Davids verheißen wurde[61], ist teilweise im Königtum des Salomo erfüllt, wurde aber in seinen konditionalen Aspekten wegen der Sünden des Königs und des Volkes außer kraft gesetzt.

Die Verheißungen haben jedoch eine tiefere geistliche Bedeutung, welche unversehrt bleibt. In den Seligpreisungen deutet Jesus das „Land“, welches dem Abraham verheißen wurde, in einem geistigen Sinn als das Königreich des Himmels, das heißt, als die neue Erde, welche von den Heiligen im ewigen Leben bewohnt werden soll.[62] Paulus versteht unter der „Nachkommenschaft Abrahams“ all jene, welche am Glauben Abrahams teilhaben.[63] Das davidische Königtum wird im Neuen Testament zur glorreichen Herrschaft des auferstandenen Christus, des Sohnes David. Und die neutestamentlichen Verfasser sehen das Geschenk des Heiligen Geistes an die Kirche als Verwirklichung des „Neuen Bundes“, welcher von Jeremia vorhergesagt worden war.[64]

Die Päpstliche Bibelkommission zieht daraus die richtige Schlussfolgerung, „dass die ersten Christen das Bewusstsein besaßen, sich in einer tiefen geschichtlichen Übereinstimmung mit dem Plan eines Bundes zu befinden, den der Gott Israels im Alten Testament geoffenbart und verwirklicht hat. Israel steht weiter zu Gott in einer Bundesbeziehung, denn der Verheißungsbund ist endgültig und kann nicht außer Kraft gesetzt werden. Doch hatten die ersten Christen das Bewusstsein, in einer neuen Phase dieses Planes zu leben, die durch die Propheten angekündigt worden war und durch das Blut Christi heraufgeführt wurde, das ‚Bundesblut’, das seinen Namen dadurch verdiente, dass es aus Liebe vergossen war.“[65]

Definitive Erfüllung des Bundes in Christus

Man könnte fragen, ob es irgendwelche Verheißungen an Israel gibt, welche noch nicht in Christus erfüllt sind und die darauf harren, auf irgendeine andere Art und Weise erfüllt zu werden. Braucht es immer noch das Judentum, um auf diese weiteren Möglichkeiten hinzuweisen? Paulus antwortet: Jesus Christus „ist das Ja zu allem, was Gott verheißen hat.“[66] Nichts ist unvollständig in der Erfüllung durch Christus von dem, was im Alten Testament verheißen und vorausgebildet wurde. Es ist natürlich wahr, dass die Menschen immer noch auf volle Weise in jene Erfüllung eintreten müssen. Gott leitet die Auserwählten immer noch hin zur Fülle der Wahrheit und des Lebens in Christus. Die Christen selbst wachsen immer noch auf ihn hin, der das Haupt des Leibes ist[67], und werden einverleibt in Gottes heiligen Tempel.[68]

In dieser Sichtweise verweist das Judentum nicht auf Möglichkeiten hin, welche Christus nicht zu erfüllen vermochte. Aber das Zeugnis der Juden für ihre Tradition hilft den Christen dabei, die Grundlagen ihres eigenen Glaubens zu verstehen. Indem sie ein lebendiges Zeugnis für die Hoffnung Israels und die alten Verheißungen abgeben, können die gläubigen Juden die Christen inspirieren und stärken, welche Anteil an derselben Hoffnung und denselben Verheißungen haben, allerdings auf neue Art und Weise.

Der Alte Bund wurde vorherrschend im Begriff des Gesetzes und der Verheißungen, die es enthält, verstanden. Aber im Licht des modernen Personalismus wird eine andere Dimension noch mehr offenkundig: Der Bund ist eine interpersonale Beziehung zwischen Gott und seinem auserwählten Volk. In seinem Buch „Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund“ bemerkte Kardinal Ratzinger: „Denn nach dem Bund fragen, bedeutet ja, fragen, ob und welche Beziehung es denn zwischen Gott und Mensch geben könne.“[69] All den Gesetzen und Verheißungen liegt eine Liebesbeziehung zugrunde, welche die Heilige Schrift ohne Zögern ganz einfach als eine „Ehe“ beschreibt.[70] In dieser Ehe bleibt Gott seinem Partner auch angesichts menschlicher Untreue treu.

Dem Bund liegt die Verheißung zugrunde: „Ihr werdet mein Volk sein, und ich werde euer Gott sein.“[71] Im Christentum versteht sich die Kirche selbst in ihrem Sein als das neue Volk Gottes.[72] Aber dieser Anspruch legt den Streit über den Status des Alten Israel nicht bei, des Volkes des ersten Bundes. Hört Israel auf, das Volk Gottes zu sein?

Der Schlüsseltext für eine Antwort auf diese Frage scheint für Christen in Kapitel 9 bis 11 des Römerbriefs zu finden zu sein. Der Gedankengang des Paulus in diesen Kapiteln ist außergewöhnlich komplex and hat eine Vielzahl von Interpretationen hervorgerufen. Vielleicht hatte Paulus selber die Absicht, manche Fragen offen zu lassen. Er lässt den Abschnitt mit einem Ausruf ehrfurchterfüllter Demut vor den unbegreiflichen Wegen Gottes enden: „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege!“[73]

Ohne vorzutäuschen, eine endgültige Lösung geben zu wollen, werde ich versuchen, einige Elemente einer vertretbaren katholischen Position aufzuzeigen. Paulus lehrt in diesem Abschnitt klar, dass Gott sein Volk nicht verworfen hat, denn seine Gaben und Berufung sind unwiderruflich. Was die Erwählung betrifft, so sind sie unaufhörlich geliebt um ihrer Vorväter willen. Ebenso, sagt er, werden die Kinder Israels, „wenn sie nicht am Unglauben festhalten, wieder eingepfropft werden“ in den Ölbaum, von dem sie abgeschnitten worden sind.[74] Er sagt voraus, dass am Ende „ganz Israel gerettet werden wird“[75] und dass ihre Versöhnung und ihr voller Einschluss „Leben aus dem Tod“ bedeuten wird.[76] Gottes fortwährende Liebe und Treue zu seinen Verheißungen zeigen an, dass der Alte Bund in einem seiner wichtigsten Aspekte immer noch in Kraft ist: nämlich in Gottes gnadenhafter erster Liebe für sein erwähltes Volk.

Papst Johannes Paul II., dessen Theologie zutiefst vom Personalismus geprägt war, sprach von den Juden als einem Bundesvolk. In einer Ansprache in Rom erörterte er am 31. Oktober 1997 die Tat der göttlichen Erwählung, welche jenes Volk ins Dasein rief:

„Dieses Volk wird von Gott, dem Schöpfers des Himmels und der Erde, zusammengerufen und geführt. Seine Existenz ist also nicht eine rein von der Natur oder Kultur bedingte Tatsache in dem Sinne, dass der Mensch die Ressourcen seiner eigenen Natur durch die Kultur entfaltet. Es handelt sich vielmehr um einen übernatürlichen Sachverhalt. Dieses Volk hält gegenüber allem und gegen alles stand, weil es das Volk des Bundes ist und weil Gott – trotz der Untreue der Menschen – seinem Bund treu ist. Diesen Grundsatz zu missachten bedeutet, den Weg des Markionismus einzuschlagen, dem sich die Kirche schon seinerzeit scharf widersetzt hatte im Bewusstsein ihrer lebensnotwendigen Verbindung mit dem Alten Testament, denn ohne es ist das Neue Testament selbst seines Sinnes entleert.“[77]

Das 2. Vatikanische Konzil stellte die tiefe Wahrheit heraus, dass das Mysterium Israels und das Mysterium der Kirche auf Dauer miteinander verbunden sind: „Bei ihrer Besinnung auf das Geheimnis der Kirche gedenkt die Heilige Synode des Bandes, wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist.“[78] Die Kirche ist sich dessen bewusst, dass sie ein Zweig ist, welcher dem Ölbaum Israels eingepfropft ist. Papst Johannes Paul II. war sich dieser Verwandtschaft tief bewusst. In seiner Ansprache in der Synagoge von Rom stellte er am 13. April 1986 klar heraus: „Die jüdische Religion ist für uns nicht etwas ‚Äußerliches’, sondern gehört in gewisser Weise zum ‚Inneren’ unserer Religion. Zu ihr haben wir somit Beziehungen wie zu keiner anderen Religion. Ihr seid unsere bevorzugten Brüder und, so könnte man gewissermaßen sagen, unsere älteren Brüder.“[79]

In Kontinuität mit dem 2. Vatikanum und der früheren katholischen Tradition sah Johannes Paul II. die beiden Bundesschlüsse als innerlich aufeinander bezogen an. Der alte ist eine Vorausschau und Verheißung des neuen; der neue ist die Enthüllung und Erfüllung des alten. Der Neue Bund dient „der Vollendung dessen …, was seine Wurzeln in der Berufung Abrahams, in dem mit Israel geschlossenen Bund vom Sinai und in all dem reichen Erbe der durch Gott inspirierten Propheten hat. Bereits Hunderte von Jahren vor der Vollendung wurde in den Heiligen Schriften der gegenwärtig gemacht, den Gott senden würde, sobald die Zeit dafür reif sei: ‚Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn …’ (Gal 4,4)“[80]

Ein einziger Heilsweg in Jesus Christus

Einige Christen sprechen in ihrem Eifer, einen unausgegorenen Supersessionismus zu überwinden, dem Alten Testament eine unabhängige Gültigkeit zu. Sie beschreiben den alten und neuen Bund als zwei „voneinander getrennte, aber gleichwertige“ Wege zur Erlösung; der eine sei für Juden vorgesehen, der andere für Heiden. Der Kommentator Roy H. Schoeman merkt richtigerweise an, diese These sei so präsentiert worden, als ob sie die einzige logische Alternative gegenüber einem Supersessionismus wäre, obwohl sie völlig unvereinbar ist mit den wesentlichen Glaubensüberzeugungen der Christenheit und mit den Worten Jesu selbst im Neuen Testament.[81] Auch Joseph Fitzmyer tritt in seinem wissenschaftlichen Kommentar zum Römerbrief der Theorie von zwei getrennten Heilswegen entgegen: Es sei schwerlich einzusehen, wie Paulus sich zwei unterschiedliche Heilswege vorstellen könnte – einen getrennt von Christus durch Gott für die Juden verwirklichten und einen anderen durch Christus für die Heiden und die gläubigen Juden. Das würde seiner ganzen These der Rechtfertigung und Errettung durch die Gnade für all jene, welche an das Evangelium von Jesus dem Christus glauben, widersprechen. Die einzige Grundlage der Mitgliedschaft im neuen Volk Gottes sei für Paulus der Glaube an Christus Jesus.[82]

Es ist undenkbar, dass Paulus in diesen Kapiteln des Römerbriefs das Heil für die Juden getrennt von Christus vorlegen wollte. Er widmete einen Großteil seines Dienstes dem Bestreben, seine jüdischen Mitgenossen zu evangelisieren. Gerade im Abschnitt, worin er von Gottes bleibender Liebe für Israel spricht, bekennt er seine große Betrübnis und Qual über den Unglauben Israels. Er wäre, wie er sagt, bereit, verflucht zu werden und von Christus abgeschnitten zu werden um seiner Brüder willen, seiner Angehörigen dem Blute nach, die Jesus nicht als Messias angenommen haben.[83]

Die katholische Kirche lehrt klar, dass niemand wegen Unglaubens oder unvollständigen Glaubens verdammt werden wird, wenn er nicht gegen das Licht gesündigt hat. Jene, die in ihrem eigenen Leben mit gutem Willen den Regungen der Gnade Gottes folgen, sind auf dem Weg zur Erlösung.[84] Für sie ist es nicht verlangt, den Glauben an Christus zu bekennen, wenn sie nicht oder bis sie nicht in einer Lage sind, ihn als Messias und Herrn anzuerkennen. Die Tatsache, dass Juden und Christen ehrliche Differenzen über diesen Punkt haben, ist ein machtvoller Anreiz für den Dialog zwischen ihnen.

Johannes Paul II. gab sich nicht damit zufrieden, das Judentum und die Christenheit ihre jeweils voneinander getrennten Wege gehen zu lassen. In einer Ansprache in Mainz rief er zum fortwährenden Dialog „zwischen dem Gottesvolk des von Gott niemals gekündigten Alten Bundes und dem des Neuen Bundes“ auf.[85] Er drückte Hoffung für eine schließliche Versöhnung in der Fülle der Wahrheit aus. Im Buch „Die Schwelle der Hoffnung überschreiten“ schrieb er 1994 über das Judentum: „Dieses außergewöhnliche Volk trägt weiterhin die Zeichen der göttlichen Erwählung in sich. … Ich freue mich, dass mein Dienst auf dem Stuhl Petri in die nachkonziliare Zeit fällt, da die Inspiration, durch welche die Konstitution ‚Nostra aetate’ angeleitet wurde, konkrete Formen annimmt. Auf diese Weise findet eine Annäherung zwischen diesen beiden großen Teilen der göttlichen Erwählung, zwischen dem Alten und dem Neuen Bund, statt. … Wann sich das Volk des Alten Bundes in dem des Neuen zu erkennen vermag, bleibt natürlich dem Heiligen Geist überlassen. Wir Menschen sind nur darum bemüht, ‚keine Hindernisse in den Weg zu legen.’“[86]

Das letzte Wort sollte vielleicht Papst Benedikt XVI. überlassen werden. In einer Reihe von Interviews aus den 1990er Jahren, veröffentlicht unter dem Titel „Gott und die Welt“[87], anerkennt er, dass es „die vielfältigsten Theorien“ über das Ausmaß gibt, in welchem das Judentum seit dem Kommen Christi ein gültiger Lebensweg geblieben ist. „Als Christen sind wir davon überzeugt, dass das Alte Testament inwendig auf Christus hin ausgerichtet ist“ und dass das Christentum, anstatt eine neue Religion zu sein, einfach „das mit Christus neu gelesene Alte Testament“ ist. Wir können sicher sein, dass Israel einen besonderen Platz in Gottes Plänen hat und heute eine besondere Sendung zu erfüllen hat. Die Juden stehen „weiterhin in der Treue Gottes“, und – so glauben wir – sie werden „am Ende mit uns in Christus zusammenfinden“. Wir erwarten „den Augenblick, an dem auch Israel zu Christus Ja sagen wird“, aber bis zu jenem Augenblick müssen wir alle, Juden und Christen, „an der Geduld Gottes teilhaben“, dessen Treue wir versichert sein können.

Weil die Christen daran glauben, dass der Sohn Gottes unter uns gelebt hat, möchten sie ihn bekannt machen, ihn geliebt, gepriesen und bezeugt sehen sowie im Gehorsam von so vielen Menschen wie möglich anerkannt wissen. Sie möchten, dass die ganze Welt aus der Lehre Christi Nutzen zieht und sich der Fülle des sakramentalen Lebens erfreut. Aber sie werden sich auch bemühen, geduldig zu sein in der Erwartung der vorbestimmten Zeit. Alles von uns, Juden und Christen gleicherweise, sind von Gottes Geduld abhängig, wenn wir danach streben, dem Bund treu zu sein und in seine tiefste Bedeutung einzutreten.

 

 


 

[1] 2. Vatikanisches Konzil, Dekret über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate“ (= NA), in: AAS 58 (1966) 740–744.

[2] Vgl. 2. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ (= LG), in: AAS 57 (1965) 5–75, hier Nr. 14.

[3] Vgl. LG 16.

[4] LG 17.

[5] Vgl. 2. Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“ (= DH), in: AAS 58 (1966) 929–946, hier Nr. 10 und 11.

[6] Vgl. DH 12.

[7] 2. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei Verbum“ (= DV), in: AAS 58 (1966) 817–836, hier Nr. 3.

[8] DV 14; vgl. Gen 15,8; Ex 24,8.

[9] DV 15; vgl. Lk 24,44; Joh 5,39; 1 Petr 1,10; 1 Kor 10,11.

[10] DV 16.

[11] Vgl. NA 4.

[12] Vgl. Hebr 8,7; 9,1.18

[13] Vgl. Röm 9,4.

[14] „Sed et foedera pluries hominibus obtulisti …“, Prex Eucharistica IV, in: Missale Romanum, Editio typica tertia, Città del Vaticano 2002, p.592. In der geltenden deutschen Fassung des 4. Hochgebets wird der Singular verwendet („Immer wieder hast du den Menschen deinen Bund angeboten“).

[15] Vgl. 2 Kor 3,14; Gal 4,24–25.

[16] Vgl. Gen 9,8–17.

[17] Vgl. Gen 15,5–6 und 17,4–8.

[18] Vgl. 2 Sam 7,8–16.

[19] Siehe z.B. Dtn 30,15–20.

[20] Vgl. Jer 31,31–34.

[21] Vgl. Hebr 8,8–13; 10,16; siehe auch 2 Kor 3,3.

[22] Lk 22,20; 1 Kor 11,25.

[23] Vgl. Mt 26,28; Mk 14,24.

[24] Vgl. Ex 24,5–8.

[25] Vgl. die Wandlungsworte über den Kelch mit Wein: „Hic est enim calix sanguinis mei, novi et aeterni testamenti …“ – Prex Eucharistica I seu Canon Romanus, in: Missale Romanum, a.a.O., p.575.

[26] Vgl. Hebr 13,20.

[27] Vgl. DV 4.

[28] Vgl. 2 Kor 3,3.

[29] Vgl. 2 Kor 3,7–10.

[30] Röm 10,4.

[31] 1 Kor 9,21; Gal 6,2.

[32] Röm 8,2.

[33] Vgl. Mt 5,17.

[34] Röm 11,11.

[35] Vgl. Röm 11,13–24.

[36] Vgl. Thomas von Aquin, STh I-II q.98–105, insbesondere q.99 a.2–4.

[37] Vgl. STh I-II q.98 a.5.

[38] Vgl. STh I-II q.106–108.

[39] Röm 8,2.

[40] Vgl. Dtn 6,5; Lev 19,18.34.

[41] Vgl. 2 Kor 3,4–18.

[42] Vgl. Gal 5,1–12.

[43] Hebr 7,12.

[44] Vgl. Hebr 7,18.

[45] Vgl. Hebr 7,22.

[46] Hebr 10,9.

[47] Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel, 24. Mai 2001, dt. als Nr. 152 der Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz.

[48] Vgl. ebd., Nr. 41.

[49] Vgl. ebd., Nr. 42; vgl. Hebr 7,18–19; 10,9.

[50] Katechismus der Katholischen Kirche. Neuübersetzung aufgrund der Editio typica Latina, München-Vatikan 2003, Nr. 578.

[51] Vgl. Apg 15.

[52] Vgl. Apg 16,1–3.

[53] Vgl. STh III q.66 a.2.

[54] Vgl. STh III q.73 a.6.

[55] Vgl. STh I-II q.103 a.3 ad 4.

[56] Vgl. z.B. Augustinus, De mendacio 5,8, in: PL 40,494; Thomas von Aquin, STh I-II q.103 a.2–4.

[57] Konzil von Florenz, Bulle über die Union mit den Kopten und Äthiopiern „Cantate Domino“, 4. Februar 1442, in: DH 1330–1353, hier: 1348.

[58] Damit ist offenbar die Auffassung gemeint, der Neue Bund hätte den Alten nicht im Sinne einer Erfüllung und des Bewahrens von Wesentlichem „abgelöst“, sondern im Sinne einer Aufhebung und Negation, was in die Nähe des Markionismus käme.

[59] Vgl. Michael Wyschogrod, Brief an Jean-Marie Cardinal Lustiger, 28. Juli 1989, in: ders., Abraham’s Promise. Judaism and Jewish-Christian Relations, Grand Rapids/Michigan – Cambridge 2004, 203–210.

[60] Vgl. Gen 13,14–18.

[61] Vgl. 2 Sam 7,21–29.

[62] Vgl. Mt 5,5.

[63] Vgl. Röm 9,8; Gal 3,15–18.29;

[64] Jer 31,31–34; vgl. Hebr 8,8–12.

[65] Päpstliche Bibelkommission, Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel, a.a.O., Nr. 42; vgl. Offb 1,5b-6.

[66] 2 Kor 1,20.

[67] Vgl. Eph 4,15.

[68] Vgl. Eph 2,21–22.

[69] Joseph Kardinal Ratzinger, Der Neue Bund. Zur Theologie des Bundes im Neuen Testament, in: Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund, Bad Tölz 20054, 47–79, hier 77.

[70] Vgl. Hos 2 und 11; Ez 16.

[71] Vgl. u.a. Ez 36,28; Lev 26,12; Jer 7,23.

[72] 1 Petr 2,9–10; Offb 21,3.

[73] Röm 11,33.

[74] Röm 11,23.

[75] Röm 11,26; vgl. 11,12.

[76] Vgl. Röm 11,15.

[77] Johannes Paul II., Ansprache beim Kolloquium über „Die Wurzeln des Antijudaismus im christlichen Bereich“ vom 31. Oktober 1997, in: L’Osservatore Romano. Wochenausgabe in deutscher Sprache, 28. November 1997, S. 7; orig. franz. in: L’Osservatore Romano, 1. November 1997.

[78] NA 4.

[79] Deutsch in: L‘Osservatore Romano. Wochenausgabe in deutscher Sprache, 18. April 1986, S. 9f; italienischer Wortlaut in: AAS 78 (1986) 1117–1123.

[80] Johannes Paul II., Die Schwelle der Hoffnung überschreiten, hg. von Vittorio Messori, Hamburg 1994, 128.

[81] Vgl. Roy H. Schoeman, Salvation is From the Jews. The Role of Judaism in Salvation History, San Francisco 2003, 352f.

[82] Vgl. Joseph A. Fitzmyer, Romans. A New Translation with Introduction and Commentary, New York 1993, 620; vgl. Röm 1,16.

[83] Vgl. Röm 9,3.

[84] Vgl. LG 16.

[85] Johannes Paul II., Ansprache im Rahmen seines Pastoralbesuchs in Deutschland beim Treffen mit Vertretern der jüdischen Gemeinde in Mainz, 17. November 1980, Nr. 3, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 104; vgl. Röm 11,29.

[86] Johannes Paul II., Die Schwelle der Hoffnung überschreiten, a.a.O., 127.

[87] Vgl. im folgenden: Joseph Kardinal Ratzinger, Gott und die Welt. Glauben und Leben in unserer Zeit. Ein Gespräch mit Peter Seewald, München 2000, 127–128.