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Christliches Menschenbild und moderne Evolutionstheorien
Botschaft an die Mitglieder der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften anläßlich ihrer Vollversammlung (22. Oktober 1996)

Johannes Paul II.

Hinweis/Quelle: Die hier publizierte deutsche Übersetzung wurde entnommen aus: L`Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, 1. November 1996, Nummer 44, S. 1 f. Irrtümer vorbehalten.

Mit großer Freude richte ich einen herzlichen Gruß an Sie, Herr Präsident, und an alle Mitglieder der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften anläßlich ihrer Vollversammlung. Meine guten Wünsche gelten besonders den neuen Akademiemitgliedern, die zum ersten Mal an den Arbeiten dieser Versammlung teilnehmen. Außerdem möchte ich die im Laufe des vergangenen Jahres verstorbenen Mitglieder in Erinnerung rufen, die ich dem Herrn des Lebens anvertraue.

1. Zur Feier des sechzigsten Jahrestages der Neugründung der Akademie möchte ich an den Wunsch meines Vorgängers Pius XI. erinnern, der ein Gremium ausgewählter Wissenschaftler um sich versammeln wollte zu dem Zweck, daß sie den Hl. Stuhl in voller Freiheit über die Entwicklungen der wissenschaftlichen Forschung unterrichteten und ihn bei seinen Studien unterstützten.

Er wollte von denen, die er den „Senatus scientificus“ der Kirche zu nennen pflegte, daß sie der Wahrheit dienen. Dieses Anliegen möchte ich heute erneut an Sie herantragen in der Überzeugung, daß wir alle aus der „Fruchtbarkeit eines vertrauensvollen Dialogs zwischen Kirche und Wissenschaft“ Nutzen ziehen können (vgl. Ansprache an die Akademie der Wissenschaften am 28. Oktober 1996, Nr. 1; in: Der Apostolische Stuhl [1986], S. 1677).

2. Ich freue mich über das erste Thema, das Sie gewählt haben, nämlich: Der Ursprung des Lebens und die Evolution. Es handelt sich um ein außerordentlich wichtiges Thema, das für die Kirche von großem Interesse ist, da ihrerseits die Offenbarung Erklärungen über die Natur und den Ursprung des Menschen enthält. Wie kann man die Ergebnisse, zu denen die verschiedenen Disziplinen der Wissenschaft kommen, in Einklang bringen mit dem, was in der Botschaft der Offenbarung enthalten ist? Und wenn es auf den ersten Blick scheinen mag, daß Widersprüche auftreten, in welcher Richtung soll man nach einer Lösung suchen?

Wir wissen in der Tat, daß Wahrheit nicht der Wahrheit widersprechen kann (vgl. Leo XIII., Enzyklika Providentissimus Deus). Um die geschichtliche Wahrheit besser zu beleuchten, sind übrigens die von Ihnen durchgeführten Untersuchungen über das Verhältnis der Kirche zur Wissenschaft vom 16. bis zum 18. Jahrhundert von großer Bedeutung.

Bei dieser Vollversammlung nehmen Sie eine „Reflexion über die Wissenschaft am Anbruch des dritten Jahrtausends“ vor. Als erstes bestimmen Sie die hauptsächlichen von der Wissenschaft hervorgerufenen Probleme, die für die Zukunft der Menschheit Bedeutung haben. Durch dieses Vorgehen stecken Sie Lösungswege ab, die der ganzen Menschengemeinschaft zum Wohl gereichen können. Im Bereich der leblosen sowie der belebten Natur läßt die Entwicklung der Wissenschaft und ihrer Anwendungen neue Fragestellungen entstehen.

Deren Tragweite wird die Kirche umso besser erfassen, als sie deren Hauptaspekte kennt. So wird sie – gemäß der ihr eigenen Sendung – neue Kriterien anbieten können, um die sittlichen Verhaltensweisen zu erkennen, die jedem Menschen im Hinblick auf sein Gesamtheil aufgetragen sind.

3. Bevor ich zu einigen spezifischeren Betrachtungen über die Fragen des Ursprungs des Lebens und der Evolution übergehe, möchte ich daran erinnern, daß das Lehramt der Kirche sich im Rahmen seiner Zuständigkeit bereits zu diesen Themen geäußert hat. Ich möchte in diesem Zusammenhang zwei Dokumente zitieren.

In seiner Enzyklika Humani generis aus dem Jahr 1950 hatte schon mein Vorgänger Pius XII. dargelegt, daß die Evolution und das, was der Glaube über den Menschen und seine Berufung lehrt, nicht im Gegensatz zueinander stehen unter der Bedingung, daß man einige Fixpunkte nicht aus den Augen verliert (vgl. AAS 42 [1950], S. 575–576).

Als ich am 31. Oktober 1992 die Teilnehmer der Vollversammlung Ihrer Akademie empfing, hatte ich meinerseits Gelegenheit, die Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit Galilei auf die Notwendigkeit einer strengen Hermeneutik im Hinblick auf eine korrekte Interpretation des inspirierten Wortes zu lenken. Es gilt den eigentlichen Sinn der Schrift gut abzugrenzen und unzutreffende Interpretationen wegzulassen, die Dinge in sie hineindeuten, die sie nicht zu sagen beabsichtigt.

Um den Bereich ihrer Zuständigkeit klar abzugrenzen, müssen Exegeten und Theologen sich über die Ergebnisse, zu denen die Naturwissenschaften gelangen, auf dem laufenden halten (vgl. AAS 85 [1993], S. 764–772; Ansprache an die Päpstliche Bibelkommission am 23. April 1993 [dt. in O.R. dt. v. 14.5.1993, S. 10 ff.] bei der Vorstellung des Dokuments Die Interpretation der Bibel in der Kirche: AAS 86 [1994], S. 232–243).

Zum Stand der Forschung

4. In Anbetracht des wissenschaftlichen Forschungsstandes der Zeit und der Erfordernisse der Theologie betrachtete die Enzyklika Humani generis die Lehre vom „Evolutionismus“ als ernstzunehmende Hypothese, die es ebenso wie die gegenteilige Annahme verdiente, genauer untersucht und bedacht zu werden. Pius XII. setzte zwei Bedingungen methodologischer Art hinzu: Man sollte diese Ansicht nicht so übernehmen, als ob es sich um eine gesicherte und bewiesene Lehre handelte und als ob man ganz von der Offenbarung absehen könnte, was die von ihr aufgeworfenen Fragen betrifft. Er nannte ebenfalls die Bedingung, unter der diese Ansicht mit dem christlichen Glauben vereinbar ist, worauf ich noch zurückkommen werde.

Heute, beinahe ein halbes Jahrhundert nach dem Erscheinen der Enzyklika, geben neue Erkenntnisse dazu Anlaß, in der Evolutionstheorie mehr als eine Hypothese zu sehen. Es ist in der Tat bemerkenswert, daß diese Theorie nach einer Reihe von Entdeckungen in unterschiedlichen Wissensgebieten immer mehr von der Forschung akzeptiert wurde. Ein solches unbeabsichtigtes und nicht gesteuertes Übereinstimmen von Forschungsergebnissen stellt schon an sich ein bedeutsames Argument zugunsten dieser Theorien dar.

Welche Tragweite hat eine derartige Theorie? Diese Frage zu erörtern heißt, sich auf das Gebiet der Epistemologie zu begeben. Eine Theorie ist eine meta-wissenschaftliche Erarbeitung, unterschieden von den Beobachtungsergebnissen, aber mit diesen homogen. Durch sie kann ein Komplex voneinander unabhängiger Daten und Fakten in einen Zusammenhang gebracht und interpretiert werden. Die Theorie beweist ihre Gültigkeit in dem Maß, wie sie nachprüfbar ist; sie wird fortwährend am Stand der Tatsachen gemessen. Dort, wo sie für diese nicht mehr Rechenschaft geben kann, beweist sie ihre Grenzen und ihre Unangemessenheit. Dann muß sie überdacht werden.

Die Erarbeitung einer Theorie wie der Evolutionstheorie greift ferner auf gewisse Vorstellungen aus der Naturphilosophie zurück, ohne dabei die Erfordernisse der Homogenität mit den Daten der Beobachtung außer acht zu lassen.

Genau genommen muß man eher von Evolutionstheorien sprechen als von der Theorie der Evolution. Diese Vielfalt entspricht einerseits den unterschiedlichen Ansätzen, die vorgeschlagen wurden, um den Mechanismus der Evolution zu erklären. Andererseits entspricht sie der Unterschiedlichkeit der Weltanschauungen, auf die man sich bezieht. So gibt es materialistisch-reduktionistische Lesarten und auch spiritualistische Lesarten der Evolutionstheorie. Das Urteil darüber gehört in die Kompetenz der Philosophie und darüber hinaus der Theologie.

5. Das Lehramt der Kirche ist unmittelbar von der Frage der Evolution betroffen, denn sie betrifft das Menschenbild. Die Offenbarung lehrt uns, daß der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen wurde (vgl. Gen 1,27). Die Konzilskonstitution Gaudium et spes hat diese Lehre, die zum Zentrum des christlichen Denkens gehört, auf großartige Weise ausgeführt. Sie hat daran erinnert, daß der Mensch „auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur ist“ (Nr. 24). Mit anderen Worten: Der Mensch kann weder seiner Spezies noch der Gesellschaft als einfaches Mittel oder bloßes Werkzeug untergeordnet werden; er hat einen Wert an sich. Er ist Person. Durch seine Intelligenz und seinen Willen ist der Mensch in der Lage, in eine Beziehung der Gemeinschaft, der Solidarität und der Selbsthingabe mit seinem Mitmenschen zu treten. Der hl. Thomas stellt fest, daß die Ähnlichkeit des Menschen mit Gott vor allem in seiner spekulativen Intelligenz begründet ist, denn seine Beziehung zum Gegenstand seiner Erkenntnis ähnelt der Beziehung Gottes zu seinem Werk (vgl. Summa theologica, I-II, q.3, a.5, ad 1). Aber mehr noch ist der Mensch aufgefordert, eine Beziehung der Kenntnis von Gott und der Liebe zu Gott selbst aufzubauen. Diese Beziehung wird nach der Zeit in der Ewigkeit ihre volle Entfaltung finden. Im Geheimnis des auferstandenen Christus werden uns die ganze Tiefe und die ganze Größe dieser Berufung offenbart (vgl. Gaudium et spes, 22). Eben weil sie eine Geistseele hat, besitzt die gesamte menschliche Person einschließlich des Körpers eine solche Würde. Pius XII. hat diesen wesentlichen Punkt betont: Der menschliche Körper hat seinen Ursprung in der belebten Materie, die vor ihm existiert. Die Geistseele hingegen ist unmittelbar von Gott geschaffen: „animas enim a Deo immediate creari catholica fides nos retinere iubet“ (Enzyklika Humani generis, AAS 42 [1950], S. 575).

Folglich sind diejenigen Evolutionstheorien nicht mit der Wahrheit über den Menschen vereinbar, die – angeleitet von der dahinter stehenden Weltanschauung – den Geist für eine Ausformung der Kräfte der belebten Materie oder für ein bloßes Epiphänomen dieser Materie halten. Diese Theorien sind im übrigen nicht imstande, die personale Würde des Menschen zu begründen.

6. Mit dem Menschen befinden wir uns also vor einer Differenzierung ontologischer Art, vor einem ontologischen Sprung, könnte man sagen. Aber bedeutet der Ansatz einer solchen ontologischen Diskontinuität nicht auch ein Zugehen auf diese physische Kontinuität, die als roter Faden der Forschungen über die Evolution erscheint, und das schon begonnen auf der Ebene der Physik und der Chemie? Die Berücksichtigung der in den verschiedenen Ordnungen des Wissens verwendeten Methode erlaubt uns, zwei Standpunkte, die unvereinbar scheinen, miteinander in Einklang zu bringen. Die empirischen Wissenschaften beschreiben und messen mit immer größerer Genauigkeit die vielfältigen Ausdrucksformen des Lebens und schreiben sie auf der Zeitachse fest. Der Moment des Übergangs ins Geistige ist nicht Gegenstand einer solchen Beobachtung, die aber dennoch auf experimenteller Ebene einer Reihe wertvoller Hinweise über das Besondere am Wesen des Menschen zutage fördern kann. Aber die Erfahrung des metaphysischen Wissens, des Bewußtseins seiner selbst und der eigenen Fähigkeit zur Reflexion, die Erfahrung des sittlichen Gewissens und der Freiheit oder auch die ästhetische und religiöse Erfahrung gehören in den Bereich der philosophischen Überlegungen, während die Theologie deren letztendlichen Sinn nach dem Plan des Schöpfers herausstellt.

Die Bibel – Buch des Lebens

7. Zum Abschluß möchte ich eine Wahrheit des Evangeliums erwähnen, die ein höheres Licht auf den Horizont Ihrer Forschungen über die Ursprünge und die Entwicklung der belebten Materie werfen könnte. Die Bibel ist in der Tat die Trägerin einer außerordentlichen Botschaft vom Leben. Sie gibt uns dadurch, daß sie die höchsten Formen des Seins bestimmt, eine Anschauung der Weisheit vom Leben. Diese Vision hat mich bei der Abfassung der Enzyklika geleitet, die ich der Achtung vor dem menschlichen Leben gewidmet und deshalb Evangelium vitae betitelt habe.

Es ist bedeutsam, daß im Evangelium nach Johannes das Leben das göttliche Licht bezeichnet, das Christus uns eröffnet. Wir sind aufgerufen, in das ewige Leben einzugehen, das heißt in die Ewigkeit der göttlichen Seligkeit.

Um vor größeren Versuchungen zu warnen, die auf uns zukommen, zitiert unser Herr das große Wort aus dem Buch Deuteronomium: „[...] daß der Mensch nicht nur von Brot lebt, sondern daß der Mensch von allem lebt, was der Mund des Herrn spricht“ (Dtn 8,3; vgl. Mt 4,4).

Ja mehr noch: Das Leben ist einer der schönsten Titel, den die Bibel Gott zuerkannt hat: Er ist der lebendige Gott. Von ganzem Herzen rufe ich auf Sie und alle, die Ihnen nahestehen, den Segen Gottes in Fülle herab.

Aus dem Vatikan am 22. Oktober 1996.

JOHANNES PAUL II.