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Die Enzyklika "Humanae vitae" – ein Plädoyer für die Würde und Verantwortung des Menschen
(2005)

Prof. Dr. Giovanni B. Sala

Hinweis/Quelle: Der Beitrag erschien ursprünglich in zwei Teilen in: Forum katholische Theologie 21 (2005) 17–35 und 113–126 und wird mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers auf stjosef.at online dokumentiert.

Vorbemerkung von Dr. theol. habil. Josef Spindelböck:

Die von Papst Paul VI. am 25. Juli 1968 veröffentlichte Enzyklika „Humanae vitae“ brachte das hohe und anspruchsvolle, mit der Gnade Gottes zu verwirklichende Leitbild von Ehe und Familie zum Ausdruck, wie es die Kirche auf der Grundlage von Schrift und Tradition verkündet. Im Hinblick auf den human vollzogenen ehelichen Akt hielt der Papst daran fest, dass die beiden Sinngehalte dieses Aktes – nämlich liebende Vereinigung und Offenheit für die Weitergabe des Lebens – nicht willkürlich auseinander gerissen werden dürfen. Deshalb erklärte der Papst in Nr. 14: „Der direkte Abbruch einer begonnenen Zeugung, vor allem die direkte Abtreibung – auch wenn zu Heilzwecken vorgenommen –, sind kein rechtmäßiger Weg, die Zahl der Kinder zu beschränken, und daher absolut zu verwerfen. Gleicherweise muß, wie das kirchliche Lehramt des öfteren dargetan hat, die direkte, dauernde oder zeitlich begrenzte Sterilisierung des Mannes oder der Frau verurteilt werden. Ebenso ist jede Handlung verwerflich, die entweder in Voraussicht oder während des Vollzugs des ehelichen Aktes oder im Anschluß an ihn beim Ablauf seiner natürlichen Auswirkungen darauf abstellt, die Fortpflanzung zu verhindern, sei es als Ziel, sei es als Mittel zum Ziel.“

Der Jesuit Prof. Giovanni B. Sala SJ hat es vor einem Jahr unternommen, in einem umfangreichen Beitrag für die Zeitschrift „Forum katholische Theologie“ den bleibenden Wert und die hervorragende Bedeutung dieser Enzyklika „Humanae vitae“ als „Plädoyer für die Würde und Verantwortung des Menschen“ herauszustellen.

stjosef.at kann nun diesen wichtigen und grundlegenden Artikel mit freundlicher Erlaubnis des Verfassers online bereitstellen. Möge dies ein Beitrag sein, das Verständnis für den Sinngehalt der authentischen kirchlichen Lehre zu wecken und zu vertiefen!


1. Die lehrmäßige Tradition der Kirche vor einer neuen Frage

Der unmittelbare Anlaß zur Veröffentlichung der Enzyklika „Humanae vitae“ [= HV] war die Entdeckung ovulationshemmender Präparate, mit denen es möglich wurde, eine Empfängnis zu verhindern und damit den sexuellen Verkehr von seinen (möglichen) prokreativen Folgen prinzipiell zu trennen. Diese Entdeckung geschah zu einer Zeit, in der eine allgemeine Verschlechterung des Sexualverhaltens, näherhin des Eheverhaltens, und eine Aufweichung der einschlägigen staatlichen Gesetzgebung bereits im Gange waren.

Die Enzyklika „Casti Connubii“ von 1930 über die christliche Ehe hatte bereits den sog. „Ehe-Onanismus“, d.h. den Vollzug des ehelichen Aktes in einer Weise, die dessen prokreative Folge absichtlich vereitelt, verurteilt. Der Heilige Vater Pius XI. formulierte als Gebot des natürlichen Sittengesetzes, daß „jeder eheliche Akt“ von sich aus auf die Erzeugung menschlichen Lebens hingeordnet bleiben muß (DS 3717). Diese Lehre hat HV 11 in ihrem Anliegen, die Moraltradition der Kirche zu bewahren[1], wiederholt.

Die rasche Ausbreitung der „Pille“ machte es unumgänglich, daß sich das II. Vatikanische Konzil mit dieser Frage befaßte (GS 50–51). Schließlich fällte der Heilige Vater sein endgültiges Urteil über die sittliche Qualifikation der Anwendung des neuen Mittels hinsichtlich der vom Konzil unter bestimmten Bedingungen als moralisch zulässig anerkannten Geburtenregelung in der auf den 25. Juli 1968 datierten Enzyklika HV.

Es war deshalb zu erwarten, daß der Kern der Enzyklika im Urteil darin bestehen würde, wie eine verantwortliche Elternschaft in dem Falle sittlich zu verwirklichen sei, in dem die Ehegatten aus ernsten Gründen „zeitweise oder dauernd auf weitere Kinder“ (HV 10d) verzichten sollten. Die andere Seite der positiven Antwort auf die Frage nach einer prokreativen Verantwortung war, daß der Papst in Übereinstimmung mit der Tradition lehrte, daß die Empfängnisverhütung als Mittel dazu abzulehnen sei, weil sie „(ihrer) Natur nach die sittliche Ordnung verletzt“, d.h. daß sie ein in sich schlechter Akt („intrinsece inhonestus“) ist (HV 14d). Dabei darf aber nicht übersehen werden, daß der Papst seine Verurteilung dieser Art von Geburtenregelung im Kontext einer verhältnismäßig ausführlichen Behandlung von Wesen und Würde der Ehe ausspricht, näherhin der ehelichen Liebe, welche ihre spezifische, den Eheleute vorbehaltene (GS 50b) Erfüllung, im ehelichen Akt findet. Kurz gesagt: Die Offenheit auf die Weitergabe des Lebens bei einem jeden ehelichen Akt, in dem die Ehegatten frei und verantwortlich ihre Liebe ausdrücken, ist ein Erfordernis derselben spezifisch ehelichen Liebe.

In seinen Ausführungen schöpft der Heilige Vater aus der Lehrtradition der Kirche, in der die unlösbare Verknüpfung beider dem ehelichen Akt innewohnenden Sinngehalte beständig anerkannt wurde – freilich nicht notwendig in der Weise der gegenwärtigen Thematisierung. Denn die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen (Gen 1, 27), dem die Weitergabe des Lebens anvertraut ist (ebd. 28), bildet zugleich jene grundlegende Form menschlicher Gemeinschaft, in der der Mensch eine ihm entsprechende Lebens-“Hilfe“ (ebd. 2,18) findet, mit der er „ein Fleisch“ wird (ebd., 24), wobei diese Einheit eine Liebeseinheit ist (Eph. 5,25–32).

In der Enzyklika finden sich die Elemente, die die „Vernunftgemäßheit“ (HV 12d) der Lehre der Kirche begründen, der zufolge „der Mensch diese Verknüpfung nicht eigenmächtig auflösen darf“ (HV 12a). Aber sie arbeitet eine eigene systematische Klärung dieses Grundprinzips im Rahmen einer entsprechenden Anthropologie nicht aus, und sie weist auch nicht eigens nach, warum diese Verknüpfung für den einzelnen ehelichen Akt gilt, wie dies in der Moralverkündigung der Kirche gemeint ist. Eine solche rationale Klärung und ein solcher Beweis ist Aufgabe der Moraltheologie.

Dies stellt keinen Sonderfall dar. Man denke z.B. an die Erkennbarkeit der Existenz Gottes durch die menschliche Vernunft – eines der „praeambula fidei“. Die Kirche lehrt, im Anschluß an das Wort der Offenbarung (Röm 1,20), daß „Gott, Ursprung und Ziel aller Dinge, mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen gewiß erkannt werden kann“ (DS 3004). Sie überläßt es aber den Gelehrten, eine philosophische Argumentation zu entwickeln, die diese Erkennbarkeit beweist. Beweisen bedeutet hier, die einzelnen rationalen Schritte zu analysieren, die zum Urteil führen, daß es einen Gott gibt. Der „common sense“ vermag dieses Urteil durchaus gültig zu fällen, aber normalerweise ist er nicht imstande, seine eher intuitive Schlußfolgerung von der sichtbaren Welt her zu objektivieren und in ihrer Struktur zu durchschauen.

Ähnliches gilt in unserem Fall. Die Ehe als natürliche menschliche Institution – und damit auch ihre Offenheit für die Weitergabe des Lebens – gehört zu den natürlich erkennbaren Wahrheiten. Zugleich gehört sie zu den „göttlichen Dingen“ (DS 3005)[2], die zwar „der menschlichen Vernunft an sich nicht unzugänglich sind“, für die aber, „bei dem gegenwärtigen Zustand des Menschengeschlechtes“, nämlich seiner sündigen Verfaßtheit, die göttliche Offenbarung moralisch (also relativ) nötig ist, damit sie „von allen ohne Schwierigkeit, mit sicherer Gewißheit und ohne Beimischung eines Irrtums erkannt werden können“ (DS 3005). In diesem Sinne sagt die Enzyklika „Casti Connubii“, daß auch der Bereich der natürlichen Moral Gegenstand der Offenbarung sein kann und damit zum Lehrauftrag der Kirche gehört[3].

2. Mit seiner Enzyklika hat der Papst das ordentliche und universale Lehramt der Kirche zur Geltung gebracht

Der Heilige Vater hat in seiner Verantwortung als „oberster Lehrer der Gesamtkirche“ (LG 25c) die Entscheidung über einen wichtigen Punkt der Moral getroffen, indem er eine jahrhundertelange Lehre der Kirche bestätigt hat. Während die theologische Lehre vom Gebrauch der Ehe (usus matrimonii) sich im Laufe der Jahrhunderte in einer verwickelten Art und Weise entfaltet hat, ist die theologische Lehre von der Empfängnisverhütung vergleichsweise einfach – zumindest im Hinblick auf die zentrale Frage nach ihrer moraltheologischen Qualifikation als schwere Sünde. „In der Beantwortung dieser Frage hat es nie irgendeine Änderung und kaum eine Entwicklung der Lehre gegeben. Die Art der Formulierung und Darlegung dieser Lehre haben sich entwickelt, aber nicht die Lehre selbst“[4].

Deswegen muß man sagen, daß die Lehre von der inneren Schlechtigkeit der Kontrazeption zu jenem „ordinarium et universale magisterium“ der Kirche gehört, von dem das I. Vatikanische Konzil spricht (DS 3011)[5]. Die dogmatische Konstitution des II. Vatikanischen Konzils über die Kirche sagt ihrerseits zu dieser Lehrtätigkeit der Bischöfe als „mit der Autorität Christi ausgerüstete Lehrer“ (LG 25a), daß sie, „wenn sie in der Welt räumlich getrennt, jedoch in Wahrung des Gemeinschaftsbandes untereinander und mit dem Nachfolger Petri, authentisch in Glaubens- und Sittensachen lehren und eine bestimmte Lehre übereinstimmend als endgültig verpflichtend vortragen, so verkündigen sie auf unfehlbare Weise die Lehre Christi“ (LG 25b).

Hinsichtlich dieser Art des Lehramtes der Nachfolger der Apostel ist ein wichtiger Unterschied zur vorhin erwähnten Stelle des I. Vatikanischen Konzils zu beachten. Dieses sprach von einer „fides divina et catholica“, mit der „all das zu glauben ist, was im geschriebenen oder überlieferten Wort Gottes enthalten ist und von der Kirche ... durch ihr ordentliches und universales Lehramt als von Gott geoffenbart zu glauben vorgelegt wird“ (DS 3011). Das II. Vatikanische Konzil spricht ebenfalls von einer endgültigen und deshalb unfehlbaren Lehre des Gesamtepiskopats (diakronische Universalität), beschränkt aber die Unfehlbarkeit dieser Lehre nicht auf die (explizit oder implizit) formal geoffenbarten Wahrheiten, sondern bezieht sie auf sämtliche endgültigen Lehrentscheidungen, also auch auf das sog. „obiectum secundarium“ des Lehramtes[6]. Zum letzteren gehören auch die Wahrheiten der natürlichen Moral, die, „aufgrund des Bandes, das zwischen der Schöpfungs- und Erlösungsordnung besteht“, um des Heiles willen zu kennen und zu befolgen sind[7]. Demnach sagt das Konzil, daß die gemeinten Lehren „endgültig verpflichtend“ sind („definitive tenenda“ und nicht „credenda“).

In der seit dem 1. März 1989 in Kraft getretenen neuen Formel der „Professio fidei“[8] folgt dem nicäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis eine in drei Absätze gegliederte Schlußformel, die besser als die „Professio fidei“ von 1967 – so heißt es im offiziellen Vorspann – „die Art der Wahrheit und der entsprechenden Zustimmung unterscheidet“. Der zweite Absatz bezieht sich auf die hier oben besprochene Lehre von LG 25b über das ordentliche und universale Lehramt: „Firmiter etiam amplector ac retineo omnia et singula quae circa doctrinam de fide et moribus ab eadem [Ecclesia] definitive proponuntur“.

Am 18. Mai 1998 hat Papst Johannes Paul II. ein Schreiben („Motu proprio“) „Ad tuendam fidem“ herausgegeben, um die Normen des Kirchenrechtes an die drei Schlußabsätze (näherhin an den zweiten) anzupassen. Außer der Bekanntmachung der juridischen disziplinären und strafrechtlichen Bestimmung, die die zweite Kategorie betrifft, wird im Dokument auch der theologische Sinn des gelobten Festhaltens an den von der Kirche verkündeten Wahrheiten erläutert. Von besonderer Bedeutung ist in dieser Hinsicht der „lehrmäßige Kommentar“, den die Glaubenskongregation am 29. Juni desselben Jahres veröffentlicht hat. In ihm heißt es u.a. in Nr. 8: „Was die Art der Zustimmung betrifft, die den Wahrheiten geschuldet wird, welche von der Kirche als von Gott geoffenbart (erster Absatz) oder als endgültig zu halten vorgelegt werden (zweiter Absatz), ist wichtig zu unterstreichen, daß es hinsichtlich des vollen und unwiderruflichen Charakters der Zustimmung, die den entsprechenden Lehren entgegenzubringen ist, keinen Unterschied gibt. Der Unterschied bezüglich der Zustimmung bezieht sich auf die übernatürliche Tugend des Glaubens: bei Wahrheiten des ersten Absatzes beruht die Zustimmung direkt auf dem Glauben an die Autorität des Wortes Gottes (de fide credenda); bei Wahrheiten des zweiten Absatzes stützt sich die Zustimmung auf den Glauben an den Beistand, den der Heilige Geist dem Lehramt schenkt, und auf die katholische Lehre von der Unfehlbarkeit des Lehramtes (de fide tenenda).“

Indem sich Paul VI. in einer schwerwiegenden Situation von Unsicherheit des Kirchenvolkes auf eine Wahrheit berufen hat, die der Heilige Geist der Kirche jahrhundertelang geschenkt hat, und sie durch einen geeigneten Lehrspruch als eine solche und damit als eine definitive bestätigt hat, hat er eine ihm allein zustehende Aufgabe als Haupt des Gesamtepiskopats wahrgenommen. Damit hat er auch, gegen eine irreführende Tendenz, das unfehlbare Lehramt der Kirche mit der sog. außerordentlichen Ausübung desselben zu identifizieren, das ordentliche und universale Lehramt überhaupt als „die normale Form der kirchlichen Unfehlbarkeit“[9] zum Tragen gebracht.

Diesen endgültigen und daher irreformablen Charakter der Lehre von HV hat Papst Johannes Paul II. dadurch bestätigt, daß er an jener Stelle der Enzyklika „Veritatis splendor“, 80, an der er von den Handlungen spricht, die „in sich“ schlecht sind, zunächst die Handlungen auflistet, die bereits das II. Vatikanische Konzil beispielsweise als solche gebrandmarkt hatte, dann aber die „kontrazeptiven Praktiken“ hinzufügt, die Papst Paul VI. bereits als in sich („intrinsece“) unsittlich bezeichnet hatte (HV 14d)[10]. Dieselbe Lehre ist von Johannes Paul II. wiederholte Male bekräftigt worden.

3. Die gespaltene Rezeption von „Humanae vitae“

Bekanntlich ist die Reaktion auf die Lehrentscheidung Papst Pauls VI. in der Kirche und besonders bei den Theologen von Anfang an gespalten gewesen. Viele von denjenigen, die bereits vor der Veröffentlichung der Enzyklika zugunsten der Kontrazeption als sittlich zulässigem Weg zur Geburtenregelung eingetreten waren, meinten angesichts der Lehre des Papstes das deutliche Zutagetreten der „mangelnden argumentativen Tragfähigkeit der bisherigen Position“ und damit das Sich-Aufdrängen „eines neuen Argumentationsmodelles“ sehen zu können[11]. Das neue Argumentationsmodell, an dem die Theologen arbeiteten, um die Falschheit von HV ans Licht zu bringen, ist kein anderes gewesen als die sog. „autonome Moral“. In ihr gilt die praktische Vernunft des Menschen als eine „schöpferische“ Instanz der sittlichen Normen.

Zugleich entwickelte das neue Modell den „Teleologismus“ als Methode zur Entdeckung der moralischen Normen. Ihm gemäß verleiht der intentionale Gegenstand der Wahl und der entsprechenden Handlung nicht ihre erste und fundamentale moralische Identität; es ist vielmehr die Abwägung der Resultate der Handlung – das Verhältnis nämlich der sich ergebenden vor-moralischen Güter und Übel –, die die Richtigkeit einer Verhaltensweise bestimmt und damit angibt, worauf sich die sittlich gute Absicht des Subjektes beziehen soll. Da nun die Umstände einer Handlung und die beteiligten und einander konkurrierenden „physischen“ Güter sehr verschieden sein können, so lassen sich keine absoluten, d.h. immer geltenden Verbotsnormen formulieren. Damit wurde die Lehre von HV, die die Kontrazeption wegen ihres intentionalen Gegenstandes zu den „in sich“ unsittlichen Akten zählt (HV 14d), als gegenstandslos hingestellt.

Es gab aber auch katholische Denker, für die die päpstliche Bestätigung einer in der Kirche geltenden Tradition zum Anlaß wurde, nach einer expliziten und dem gegenwärtigen kulturellen Kontext angemessenen rationalen Erklärung der von der Enzyklika vertretenen „natürlichen“ Wahrheit zu suchen. Die damit in Gang gebrachte philosophisch-ethische Untersuchung hat, durch „trial and error“ wie es zu erwarten war, Früchte gezeitigt.

Mit den nun folgenden Ausführungen beabsichtige ich nicht, einen weiteren, eigenen Beitrag zum Klärungsprozeß zu liefern. Mir geht es um das bescheidene Ziel, einen der bereits vorliegenden Versuche bekannt zu machen, die unternommen worden sind, um jene „Vernunftgemäßheit“ zu zeigen, die Papst Paul VI. für die Lehre von HV beansprucht hat (12b). Die Kritiker der Enzyklika haben in all den vorigen Jahren ständig die Behauptung wiederholt, HV sei ein Fall von „naturalistischem Trugschluß“, insofern ihre Norm für den Umgang mit der Sexualität in der Ehe nichts anderes sei als ein Pendant zu

den biologischen Gesetzen, oder, anders ausgedrückt, die Kirche lehne die Empfängnisverhütung ab, weil sie die natürliche Struktur der Sexualität künstlich manipuliert.

Professor Martin Rhonheimer hat mit einer streng philosophischen Argumentation gezeigt, daß die Empfängnisverhütung den ehelichen Akt als Vollendung und Ausdruck ehelicher Liebe objektiv unmöglich macht. Denn sie beraubt diesen Akt des ihm wesentlichen prokreativen Sinngehalts, so daß in ihm, objektiv, die personale Liebe zweier Menschen, die sich zu einer Lebensgemeinschaft im Dienst am Leben verbunden haben, nicht zum Ausdruck gelangen kann. Die prokreative Dimension des ehelichen Aktes wird ja in der Kontrazeption aufgehoben. Der Des-Integrierung der Sexualität, deren Regelung nicht durch eine handlungsmäßige Integrierung des Sexualtriebes in die Subjektivität und damit in das verantwortliche Verhalten der Ehegatten geschieht, entspricht die Des-Integrierung der ehelichen Liebe, die in einem sinnlichen Akt ausgedrückt wird, welchem nur noch die Eigendynamik eines auf sich selbst bezogenen Sexualtriebes übrigbleibt. Man muß deshalb sagen, daß die Enzyklika auf der Ebene der Moralität und nicht auf einer „physizistischen“ Ebene argumentiert.

Ich werde die scharfsinnige Analyse Rhonheimers, so gut ich kann, in ihren wesentlichen Schritten wiedergeben. Sie soll auch anderen helfen, deutlicher einzusehen, warum die Kontrazeption eine schwerwiegende Verletzung der Würde des Menschen darstellt. Rhonheimer ist in mehreren Anläufen auf dieses Thema eingegangen. Zunächst als Exkurs in seiner Studie über die „Natur als Grundlage der Moral. Die personale Struktur des Naturgesetzes bei Thomas von Aquin: Eine Auseinandersetzung mit autonomer und teleologischer Ethik“ (Innsbruck 1987, 113–139). Das Besondere an diesem Versuch war, daß er auf der Basis einer ausführlichen Handlungstheorie unternommen wurde. Das ethische Urteil über die Kontrazeption setzt nämlich voraus, daß man genau weiß, was eine menschliche Handlung überhaupt ist. Später hat Rhonheimer die erste Fassung vervollständigt und systematisch besser gegliedert für ein Referat auf dem Internationalen Kongreß für Moraltheologie, Rom 1988 (veröffentlicht in den Akten des Kongresses: „«Humanae vitae»: 20 anni dopo“, Milano 1989, 73–113). In einer nochmaligen Überarbeitung kam schließlich die Studie als eigene Monographie unter dem Titel: „Sexualität und Verantwortung. Empfängnisverhütung als ethisches Problem“, Wien 1995, heraus. Die nun folgenden Überlegungen beziehen sich zum großen Teil sinngemäß oder auch wörtlich auf dieses letzte Werk. Der Verweis auf die Stellen im einzelnen, die ich resümiere oder übernehme, wäre zu umständlich; der umfassende Verweis darf deshalb hier genügen.

Die philosophische Analyse Rhonheimers betrifft „nur“ einen Aspekt der Frage nach einer verantwortlichen Elternschaft. Vom Standpunkt des christlichen Glaubens, der weiß, daß die Würde der Menschennatur in der noch wunderbareren Ordnung der Übernatur umfangen ist, wäre noch dem sakramentalen Charakter der Ehe Rechnung zu tragen, sowie der heiligmachenden Gnade Christi, die zugleich auch heilende Kraft besitzt, damit wir den Erfordernissen des Naturgesetzes nachkommen können. Die christliche Moral überschreitet den Rahmen der natürlichen Ethik als Tugendethik; sie ist nicht mehr bloß Leistung des Menschen, sondern Antwort auf Gott, der ihm als sein Gut und Glück in Person entgegengekommen ist; sie ist dialogische Ethik[12]. Wenn nun Rhonheimer in seinem Aufsatz lediglich den „natürlichen“ Aspekt der Frage behandelt hat, so deshalb, um die Rationalität der Lehre von HV zu klären, die durch eine hartnäckige Wiederholung von Mißdeutungen bei vielen Gläubigen verdunkelt worden ist. Damit soll auch gezeigt werden, daß der Papst nicht ein katholisches Sondergut in der Moral verkündete, sondern noch vor der Frage nach der „lex nova“ des Evangeliums die Humanität des Menschen, seine Würde und seine Verantwortung, verteidigen wollte. Deshalb hat er sein autoritatives Wort „an die Christgläubigen des ganzen katholischen Erdkreises sowie an alle Menschen guten Willens“ gerichtet.

4. Der von „Humanae vitae“ direkt berücksichtigte Fall

Die Enzyklika spricht von der Kontrazeption in erster Linie im Rahmen der verantwortlichen Elternschaft. D.h. sie hat den Fall vor Augen, in dem die Eheleute ernste Gründe haben, „zeitweise oder dauernd auf weitere Kinder zu verzichten“ (HV 10d) und zu diesem erlaubten bzw. gesollten Ziel ein Mittel wählen, das die voraussichtlichen prokreativen Folgen ihres ehelichen Aktes verhindert (HV 14c). Obwohl vieles von dem, was die Enzyklika zu diesem Fall ausführt, allgemeine Geltung für das Sexualverhalten hat, soll hier um der Klarheit willen nur der soeben definierte Fall untersucht werden. Von diesem Fall von Empfängnisverhütung seien die relevanten Elemente eigens thematisiert:

a) Es handelt sich um eine menschliche Handlung (actus humanus), nicht um einen „actus hominis“ im strikten Sinne, wobei letzterer einen Akt bezeichnet, dessen Träger zwar der Mensch ist, der aber nicht wissend und wollend vollzogen wird (z.B. das Wachsen der Haare, der Stoffwechsel usw.). Eine menschliche Handlung ist eine solche, die von unserer Freiheit abhängt (und für die wir deshalb verantwortlich sind), insofern sie selbst ein Akt des Wollens ist oder ein Akt, der vom Wollen abhängt. Menschliche Handlungen sind eo ipso moralische Handlungen (vgl. I.II, q.1, aa. 1 und 3)[13]. In ihnen liegt der moralische Wert einer Person, der einzig absolute Wert bzw. Unwert, von dem, christlich gesprochen, das Heil bzw. Unheil des Menschen abhängt.

b) Eine menschliche Handlung ist eine intentionale Handlung, und zwar in einem doppelten Sinn: 1) Sie hängt vom freien Wollen ab. Nun aber sind die Handlungen (des Erkennens und) des Begehrens sowohl auf der geistigen wie auch auf der sinnlichen Ebene intentionale Handlungen, insofern sie Tätigkeiten sind, die ein Objekt intendieren, erstreben. 2) Sie erhält ihre erste und fundamentale moralische Spezies vom intendierten Objekt, d.h. vom Objekt, wie es erkannt und als solches gewollt wird. Infolgedessen ist das eigentliche Objekt des Willens niemals ein Ding als bloß „physische“ Realität, sondern das Ding, insofern es von der praktischen Vernunft auf der Suche nach dem für den Menschen Guten „durchformt“, d.h. verstanden und erstrebt wird. In diesem Sinne schreibt Thomas: „Sicut species rerum naturalium constituuntur ex naturalibus formis, ita species moralium actuum constituuntur ex formis prout sunt a ratione conceptis“ (I.II, q.18, a.10), und weiter: „Voluntas non fertur in hoc [in das, was sie will], nisi secundum quod a ratione proponitur“ (Ebd., q.19, a.5). Den sog. „vor-moralischen“ oder „nicht-sittlichen“ Gegenstand, von dem der Teleologismus spricht, der gewollt wird, ohne daß der Willensakt zunächst als moralisch qualifiziert wäre, gibt es nicht, bzw. er kann nicht gewollt werden.

Man kann zwar etwas zunächst rein „physisch“ oder „technisch“ betrachten und bewerten: Dieses Ding hat diese Eigenschaften, wirkt so und so, paßt zu gewissen Dingen usw. Man kann auch eine Wertskala unter den Dingen der Natur und den menschlichen Artefakten aufstellen, die unterschiedlich ausfällt, je nach dem Aspekt, der als Kriterium für die Bewertung verwendet wird. Sobald aber ein „physisches“ Gut als Gegenstand unseres freien und verantwortlichen Wollens betrachtet wird, kommt die Relevanz des Gewollten als Gewolltes für die Person hinsichtlich der wesentlichen Aspekte ihrer Natur zum Tragen. Denn das Gute ist per definitionem das Objekt eines Strebens; da es sich nun beim Menschen um ein freiwilliges Streben handelt, prägt das Objekt, das den Willensakt spezifiziert, das Wollen selbst und damit die Person. Schon deshalb, weil etwas nur wegen seiner Gutheit für das wollende Subjekt erstrebt werden kann (ansonsten würde es nicht erstrebt werden), ist das Gewollte ein sittliches Gut für den Willen, und der Wille erhält durch dieses seine erste und fundamentale moralische Qualifikation. Kurzum, aus dem intentionalen Charakter des menschlichen Wollens und Tuns ergibt sich, daß das, was man will und tut, eo ipso ein sittlich qualifiziertes Objekt ist, das durch einen sittlich qualifizierten Akt gewollt wird.

Was der Mensch will, ist immer etwas, das von der praktischen Vernunft erkannt und in seinem Gutsein bewertet wird. Ob nun diese Bewertung richtig ist oder nicht, ist eine andere Frage; aber in jedem Fall findet sich das Wollen und das Handeln bereits im Bereich der Moral und nicht mehr im Bereich der Natur mit ihren physischen Gütern. Damit ist gesagt, daß die Enzyklika HV, indem sie den ehelichen Akt unter der Perspektive untersucht, wie sich die Ehegatten intentional zu den diesem Akt innewohnenden Sinngehalten verhalten, durchgehend in einem „ethischen Kontext“ argumentiert. Ihre Argumentation kommt zu dem Ergebnis, daß die absichtliche Ausschaltung des prokreativen Sinngehalts objektiv die Verwirklichung des unitiven Sinngehaltes durch den ehelichen Verkehr unmöglich macht. Darin unterscheidet sie sich von ihren Kritikern, die, indem sie vom intentionalen Moment des Aktes, mit dem jemand den sexuellen Verkehr unfruchtbar macht, absehen, den Akt als in „genere naturae“ (in einem „physikalisch-biologischen“ Kontext) betrachten, um erst vom Resultat der Handlung her (dem ex hypothesi gerechtfertigten Verzicht auf weitere Kinder) die Kontrazeption moralisch zu qualifizieren[14].

c) Dadurch daß HV die Kontrazeption als eine intentionale Handlung berücksichtigt, die durch ihren intentionalen Gegenstand – den „finis operis“ nach der traditionellen Terminologie – moralisch spezifiziert wird, betrifft ihre Verurteilung nicht eine Handlung, welche auf der rein medizinisch-technischen Ebene Kontrazeption genannt werden könnte, die aber als eine solche gar nicht intendiert wird. So z.B. eine Sportlerin, die ein ovulationshemmendes Präparat einnimmt, das die Regelblutung und damit eine Beeinträchtigung ihrer sportlichen Leistung verhindert. Sie hat ja keine Absicht, einen Sexualverkehr zu vollziehen! Ähnliches gilt im Falle einer Frau, die wegen der Gefahr einer Vergewaltigung eine Maßnahme trifft, die sie vor den Folgen eines ungewollten Sexualverkehrs schützen würde. In beiden Fällen ist die Handlung von ihrem intentionalen Gegenstand her gar keine Kontrazeption. Im ersteren Falle hat das intendierte Objekt nichts mit der Fortpflanzung als Konsequenz eines Sexualverkehrs zu tun; im anderen Falle ist der aufgezwungene Sexualverkehr kein „actus humanus“[15]. Demnach bezieht HV ihre Norm auf eine Person, die den „ehelichen Akt“ vollziehen will, dabei aber beabsichtigt („intendat“), die Fortpflanzung zu verhindern (HV 14c).

Moralisch unzulässig ist in dem von HV untersuchten Fall das Mittel – die Kontrazeption als gewollte Verhinderung der möglichen Entstehung eines neuen Lebens –, nicht das Ziel. Denn die Enzyklika setzt bei den Ehegatten eine „verantwortliche Elternschaft“ voraus, d.h. daß sie aus „ernsten Gründen“ eine Schwangerschaft vermeiden wollen bzw. sollen. Nun aber rechtfertigt ein gutes Ziel nicht jegliches Mittel!

d) Die kontrazeptive Absicht beinhaltet, zumindest implizit, den Willen, die periodische Enthaltung als Mittel zur intendierten Vermeidung einer Schwangerschaft nicht zu wählen.

5. Das Untrennbarkeitsprinzip von „Humanae vitae“ gründet auf der leib-geistigen Wesenseinheit des Menschen

Das Grundprinzip, worauf die Enzyklika HV ihre Lehre gründet, liegt darin, daß sie die zwei Sinngehalte des ehelichen Aktes – den unitiven und den prokreativen – für untrennbar hält: Ihre Verknüpfung darf nicht aufgelöst werden, weil dadurch beide Sinngehalte und damit der Sinngehalt des ehelichen Aktes als Akt ehelicher Liebe zerstört wird. Auf dieses Prinzip gründet dann die Enzyklika ihre Verurteilung der Kontrazeption, weil diese in einer absichtlichen Trennung beider Sinngehalte besteht. Im folgenden soll die Richtigkeit und Tragweite dieses Prinzips geklärt werden. Eine solche Abklärung verlangt eine anthropologische Untersuchung. Denn die Moral als Antwort auf die Frage nach dem freien und verantwortlichen Verhalten des Menschen setzt voraus, daß man weiß, was der Mensch ist. Das moralisch gute Verhalten ist ja das Verhalten, das dem Wesen des Menschen gemäß ist, so daß die Klärung dieses Wesens zur Klärung des zum Menschen passenden Verhaltens führt.

Der Mensch ist eine einzige Substanz, die aus Materie (dem durch Organe strukturierten Leib) und Form (der geistigen Seele als „unica forma corporis“) zusammengesetzt ist. Sein Leib ist deshalb wesenhaft in die Struktur des geistgeformten Lebens integriert. Infolgedessen ist der Träger oder das Subjekt aller Handlungen diese leib-geistige Einheit, in der Leib und Geist zusammenwirken („actiones sunt suppositorum et totorum“: II.II, q.58, a.2). Da wir uns hier mit einem moralischen Problem befassen, nämlich mit dem Akt, wodurch die Eheleute menschliches Leben weitergeben, richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die eigentlich menschlichen Handlungen, d.h. auf die Handlungen, die, seien sie solche, die wir gemeinhin geistige Akte nennen (Akte des intellektuellen Erkennens und des freien Begehrens), seien sie sinnliche Akte (Akte des sinnlichen Erkennens und Begehrens), in ihrem Vollzug unserem freien Wollen unterstehen. Von all diesen Akten sind wir nicht bloß ontologische Subjekte (dies gilt auch für die „actus hominis“), sondern auch psychologische Subjekte: Wir sind uns ihrer bewußt, und ihr Vollzug hängt, wenn auch auf verschiedene Weise, von unserer Freiheit ab, so daß wir für sie verantwortlich sind.

Wenn nun Leib und Geist im Menschen ein einziges substantielles Wesen, eine Person, bilden und wenn der Mensch ein einziges Prinzip all seiner Handlungen ist, so kann man in ihm nicht das Personale mit dem Geist gleichsetzen, um dann dieses Personale der Natur bzw. dem Leiblichen als etwas „Unterpersonalem“, bloß „Dinglichem“ entgegenzustellen. Der Mensch ist zwar Person kraft seiner Geistigkeit[16], aber die menschliche Person ist der ganze Mensch, auch wenn es wahr ist, daß die Handlungen des Menschen in verschiedenem Ausmaß an der Geistigkeit des Menschen teilhaben.

Vom „Geistigen“ als dem „Personalen“ und vom „Leiblichen“ als dem „Unterpersonalen“ (als bloßer „Natur“) zu sprechen, wie die Kritiker von HV oft tun, verrät einen „Spiritualismus“ und einen Dualismus, der dem Wesen des Menschen nicht gerecht wird. Denn der Mensch gehört nicht zur Gattung Geistwesen, sondern zur Gattung der sinnenbegabten Lebewesen, der „animalia“. Aus ihrer falschen Anthropologie neigen dieselben Autoren dazu, den Leib als Werkzeug des Geistes und damit die leiblichen Strukturen als etwas Dinghaftes aufzufassen, in das der Mensch als Person eingreifen kann, um sie in seine vernünftige Lebensgestaltung aufzunehmen und zu „humanisieren“[17].

Offenkundig sich auf eine solche dualistische Auffassung des Menschen stützend, behauptet z.B. Karl Rahner, daß die „Strukturen der Dinge“ – wobei er sich näherhin auf diejenigen bezieht, die das „geschlechtliche Verhalten“ betreffen –, „unter dem Menschen stehen“. Infolgedessen „mag der Mensch sie verändern, umbiegen, soweit er nur kann, er ist ihr Herr, nicht ihr Diener“[18]. Rahner will zwar zu recht auf die fundamentale Rolle der Liebe hinweisen, aber nach welchem Kriterium soll die personale Liebe etwa das sexuelle Verhalten gestalten, wenn das Geschlechtliche als wesentlicher Bestandteil der Person in sich selbst keinen eigenen Sinn hat?

Aufgrund der wesentlichen Einheit des menschlichen Kompositums ist dagegen zu sagen: Der Mensch ist weder Herr noch Diener seines Leibes; er ist Leib. Der Leib und die „leiblichen“ Handlungen gehören von vornherein und unabdingbar zum menschlichen Subjekt als Person. Wenn nun Grundnorm für unser freies und verantwortliches Leben die Liebe in umfassendem Sinn ist, so ist diese Liebe als Liebe eines leib-geistigen Subjekts zugleich ein geistiges und leibliches Phänomen und hat deshalb immer auch eine leibliche Dimension. Dies bedeutet, daß auch eine materielle, sinnliche Handlung, insofern sie ein verantwortlicher Vollzug des Subjekts ist, durch die geistige Liebe „informiert“ werden muß; sie muß selber (und nicht erst in dem durch sie erreichten Ziel) Ausdruck menschlicher Liebe sein –, aus sich selbst, in ihrer Eigenart, und nicht nur als Instrument der Liebe.

Gemäß der Einheit des menschlichen Seins lehnt die Kirche eine „reduktionistisch verstandene Natur“ ab, die „auf eine Spaltung im Menschen selbst hinausläuft“. Folge einer solchen Auffassung ist, daß man „den menschlichen Leib wie Rohmaterial behandelt, bar jeglichen Sinnes und moralischen Wertes, solange die Freiheit [als Wirkweise des Geistes] es nicht in ihr Projekt eingebracht hat. Die menschliche Natur und der Leib erscheinen folglich als für die Wahlakte der Freiheit notwendige, aber der Person äußerliche Voraussetzungen oder Bedingtheiten. Ihre Dynamismen könnten nicht Bezugspunkte für die sittliche Entscheidung darstellen, da der Endzweck dieser Neigungen nur ‚physische‘ Güter wären“ („Veritatis splendor“, 48). Im selben Sinne hatte bereits HV 10b darauf hingewiesen, daß „die biologischen Gesetze ... zur menschlichen Person gehören“, und sich dafür auf die Stelle des Traktats über die lex naturalis bei Thomas bezogen, wo dieser zeigt, daß die natürlichen Neigungen als menschliche Güter zum natürlichen Sittengesetz gehören, insofern sie „regulantur ratione“ (I.II, q.94, a.2).

Aus der substantiellen Komposition des Menschen aus zwei metaphysischen Prinzipien folgt, daß sein ganzes Leben in das Leben des Geistes – das Spezifikum des Menschen als in die materielle Welt eingebundenes Wesen – integriert werden soll. Was nun die Akte des rein vegetativ-biologischen Lebens anbelangt (actus hominis), können sie von uns nur als Objekt erfaßt und indirekt von der Liebe gestaltet und damit in das personale Leben einbezogen werden.

Was die Handlungen der Sinnlichkeit betrifft, so ist hervorzuheben, daß sie als bewußte Handlungen zu unserer Subjektivität gehören, wenn auch zunächst auf der sinnlichen Stufe dieser Subjektivität. Diese Handlungen unterstehen, was ihre Ausübung und Gestaltung betrifft, weitgehend unserer Freiheit. Insofern sie also bewußte Handlungen sind, haben wir einen direkten Zugang zu ihrer Erkenntnis dadurch, daß wir den Vollzug unserer Subjektivität thematisieren; insofern sie unter der Freiheit stehen, können und sollen wir sie in unser freies und verantwortliches Leben integrieren. Sie sind also nicht bloß „Objekte“, die wir erkennen und „behandeln“, so wie wir z.B. für unsere rein biologischen Prozesse Sorge tragen. Das sinnliche Verhalten als bewußtes und freies Verhalten gehört bereits zum Verhalten ein und desselben Subjektes, welches auf der Ebene der Freiheit zum vollen „Besitz“ seiner Subjektivität gelangt und als verantwortliches Subjekt seiner Lebensführung wirkt.

Die Konsequenz aus dieser einheitlichen Sicht des Menschen für unsere Frage nach dem ehelichen Akt ist: Der eheliche Akt als actus humanus ist nur dann sittlich gut, wenn er genau als sexueller Akt Vollzug und Ausdruck der Liebe als Grundnorm der Person ist. Negativ gesagt: Das Sexualverhalten kann nicht für das Wirken auf ein Objekt (das Organ der Sexualität und seine biologischen Prozesse) gehalten werden, das wir eben „behandeln“, so wie wir die biologischen Prozesse der Leber (actus hominis) behandeln, damit sie zum Wohl der Person gereichen. Die Handlungen der Sexualität sind als actus humani zu vollziehen, als Momente der Person, die als ihr ontologisches und zugleich psychologisches Subjekt wirkt. Wenn nun das Wirken der Sexualität Vollzug und Ausdruck personaler Liebe sein soll, so muß die Sexualität handlungsmäßig in die Subjektivität des Menschen (durch die Tugend der ehelichen Keuschheit, wie wir sehen werden) integriert werden, da der Leib als ganzes bereits seinsmäßig Bestandteil des „Ich“ ist.

6. Liebe und eheliche Liebe

Immer wieder wird gesagt, daß der Sexualverkehr zwischen Ehegatten, der an sich ein sinnlicher Akt ist, Ausdruck ihrer personalen Liebe ist, und daß er gerade als solcher seine moralische Qualifikation und seine Würde erhält. Diese Aussage wird von niemandem bestritten; sie braucht dennoch eine sorgfältige Analyse, um zu ermitteln, warum und unter welchen Bedingungen es so ist. Es muß nämlich geklärt werden, was die Liebe überhaupt und was das Spezifikum der ehelichen Liebe ist. Erst auf der Grundlage dieser Klärung wird es möglich sein, die Kontroverse um HV zu lösen, ob nämlich der Sexualverkehr zwischen Eheleuten, die diesen Akt absichtlich unfruchtbar machen, echter Ausdruck ehelicher Liebe und damit moralisch gut sein kann.

6.1 Die zwischenmenschliche Liebe

Die Liebe im strengen Sinne des Terminus ist der geistige Willensakt, mit dem ein Mensch einen anderen Menschen um seiner selbst willen bejaht, d.h. ihn in dessen Eigenwert anerkennt, dessen Gut will (bene-volentia) und dieses Gut, soweit er kann, fördert. Wenn wir zunächst von der Liebe zu Gott absehen, so müssen wir sagen, daß es Liebe nur unter Menschen geben kann. Der Mensch ist Zweck in sich selbst, der niemals bloß als Mittel zu etwas anderem „gebraucht“ werden darf. Dazu schreibt die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“, 24, daß der Mensch „auf Erden die einzige von Gott um ihrer selbst willen gewollte Kreatur ist“. Gerade als ein solcher Eigenwert kann nur der Mensch geliebt, d.h. um seiner selbst willen bejaht werden.

Eine solche Bejahung eines anderen Menschen hat zunächst einmal nichts mit Sexualverkehr zu tun. In der Tat denken wir in den meisten Fällen von Liebe, von gelebter „benevolentia“ zwischen Menschen, gar nicht an Sexualität und leibliche Vereinigung: Liebe zu den Eltern, Geschwistern, Freunden, Kameraden, Liebe zu den Menschen überhaupt. Dies ist auch dann wahr, wenn es sich um Liebe zwischen Personen verschiedenen Geschlechts handelt: Vater und Tochter, Bruder und Schwester, Freund und Freundin. Die Liebe als Bejahung eines Menschen in seiner Ganzheit hat eigene Ausdrucksformen auf der Ebene der Leiblichkeit. Kuß und Umarmung sind die am meisten typischen, aber nicht die einzigen; denn im ganzen äußeren Verhalten kann sich die Liebe zu einem Menschen äußern und konkretisieren.

Zu den Ausdrucksformen von Liebe zwischen den Menschen als leib-geistigen Wesen gehört der „bloße“ Sexualverkehr nicht. Es ist deshalb eine reine Äquivokation, wenn man den Vollzug des Sexualtriebs mit seiner Dynamik auf sinnlichen Genuß schon als solchen, ohne daß zu diesem Akt eine andere, für die Liebe wesentliche Dimension hinzukommen würde, Liebe nennt. Es ist eigentlich nur Erotik. In der Tat kann es einen Sexualverkehr geben, der mit der Liebe als Akt, in dem sich das Wollen auf einen anderen Menschen in dessen Eigenwert hin transzendiert, nichts zu tun hat: Er und sie beabsichtigen lediglich die eigene sexuelle Befriedigung, nach der ihr Sexualtrieb strebt, ohne den leisesten Eindruck zu haben, sich gegenseitig zu täuschen, indem sie eine Geste setzen würden, die durch die Realität dessen, was diese Geste meint, nicht gedeckt ist. Sie kommen nicht einmal auf den Gedanken, daß der Sexualverkehr, den sie erstreben und tun, eigentlich Ausdruck eines Wohl-Wollens zugunsten des anderen und um des anderen willen ist. Der Sexualtrieb begehrt von seiner Natur her als sinnliches Streben nur das „für sich selbst Gute“ – also das Gegenteil von Liebe als Selbsthingabe an den anderen. Die Dynamik des sinnlichen Triebes ist an sich vom Willen des Menschen unabhängig, auch wenn sie, wie wir sehen werden, in den Kontext der leib-geistigen Person integriert, auf ein fundamentales menschliches Gut zielt – die Entstehung menschlichen Lebens – und damit Ausdruck der Bejahung einer Person werden kann.

Aus dem über die leib-geistige Wesenseinheit des Menschen Gesagten und aus dem Umstand, daß diese eine Substanz Träger all ihrer Akte ist, so daß in ihnen Leib und Geist zusammenwirken, ergibt sich, daß in der Liebe als geistigem Akt auch der Leib mitbeteiligt ist, nämlich mit Gefühlen und Affekten, die sowohl Vorwegnahme als auch Wirkung oder Resonanz der transzendenten Komponente der Liebe auf der sinnlichen Ebene sind. Die ganze liebende Person ist in der Bejahung des Geliebten mitbeteiligt, und dies äußert sich in ihrer Haltung, Geste und Sprache. Aber eine solche leiblich-affektive Dimension der Liebe sagt (noch) nichts über Sexualität. Die spontane Tendenz der Sexualität zu einer Person anderen Geschlechtes hat eine andere Quelle, Qualität und Finalität, die zunächst nichts mit Liebe zur Person als Bejahung derselben um ihretwillen zu tun hat.

6.2 Die eheliche Liebe

Um das Eigentümliche der ehelichen Liebe zu ermitteln, muß man zuerst wissen, was Ehe ist. Die Ehe, als Vereinigung von Mann und Frau, ist jene Urzelle der menschlichen Gesellschaft, deren Spezifikum in der Weitergabe menschlichen Lebens, dem fundamentalen menschlichen Gut, besteht. Dieses Gut bringt die Ehe durch die sexuelle Vereinigung zweier Menschen verschiedenen Geschlechts hervor. In diesem Sinne (und dies ist ihr eigentlicher Sinn!) ist die herkömmliche Lehre von der Zeugung (und Erziehung!) der Nachkommenschaft als „finis (primarius) matrimonii“ eine Selbstverständlichkeit. Die prokreative Finalität und sie allein unterscheidet die Ehe von allen anderen Gemeinschaftsformen[19]. Aus der Eigenart des zu erzeugenden Menschen in seiner leiblichen und geistigen Entwicklung sowie aus der Eigenart der Liebe zwischen den Ehegatten als gegenseitiger Selbsthingabe in der Ganzheit des eigenen leib-geistigen Seins ergibt sich, daß diese Lebensgemeinschaft auf Ausschließlichkeit ohne Vorbehalte bis zum Ende des Lebens angelegt ist (vgl. auch HV 9).

Das „bonum coniugum“ (CIC, can. 1055) bzw. das „mutuum adiutorium“ (nach dem früheren CIC, can. 1013), von dem in der Definition der Ehe die Rede ist, besagt zwar einen wesentlichen Zweck der Ehe, gehört aber zu ihr nicht als Spezifikum. Denn die „gegenseitige Hilfe“ unter den Menschen hat viele Formen und kann auch außerhalb der Ehe geleistet werden, wie es tatsächlich der Fall ist. So ist z.B. das gemeinschaftliche Leben der Ordensleute auch eine solche gegenseitige Hilfe, oder der nicht seltene Fall zweier alleinstehender Frauen, die einen gemeinsamen Haushalt führen.

Aus diesem Grund ist die traditionelle Lehre von der gegenseitigen Lebenshilfe als „finis secundarius“ (so im früheren CIC)[20] der Ehe völlig richtig und durch die Lehre des II. Vatikanischen Konzils (vgl. GS 47–52) mitnichten überholt, wie oft diese Lehre auch mißverstanden wurde und wird. Denn sie besagt keineswegs, daß die Liebe zwischen Eheleuten in dem Sinne zweitrangig sei, daß sie primär auf Fortpflanzung angelegt sei, so daß jeder Partner den anderen nur als Mittel im Hinblick auf das Kind lieben solle. Jegliche menschliche Liebe gilt vielmehr einer konkreten Person, die – wenn auch in verschiedenem Grad – um ihrer selbst willen geliebt wird. Die Rede von den Ehezwecken betrifft direkt die Ehe als Sozialinstitution und setzt die personale Liebe der Ehegatten, aus der die Ehe entsteht, voraus – eine Liebe, die im ehelichen Akt ihre Vollendung findet. Andererseits aber muß man auch sagen, daß das neue Leben, das aus dieser Liebe hervorgeht, die primäre Frucht dieser Liebe ist, die sie von allen anderen Arten von Liebe unterscheidet.

Die Lehre von den zwei Zwecken der Ehe und die Lehre von den zwei Sinngehalten des ehelichen Aktes hängen zwar zusammen, sind aber nicht identisch. Im ehelichen Akt ist der Aspekt der „Liebesvereinigung“ der fundamentale, wobei mit dieser Liebesvereinigung als eheliche Liebe der prokreative Sinngehalt unzertrennlich verbunden ist. In diesem Sinne hat die Lehre von der untrennbaren Verknüpfung zweier gleichberechtigter (!) Sinngehalte des ehelichen Aktes keineswegs die Lehre von den zwei hierarchisch (!) geordneten Ehezwecken abgelöst.

Die sexuelle Begegnung, aus der ein neues Leben hervorgeht, findet sich nicht erst bei Menschen, sondern schon bei den Tieren, näherhin bei den Säugetieren, zu denen der Mensch als „animal“ gehört. Nun tendiert der Sexualtrieb als sinnlicher Trieb aufgrund der eigenen Natur ausschließlich auf aktuelle Erfüllung, d.h. auf eine Befriedigung des eigenen Begehrens, die mit einem intensiven Lusterlebnis verbunden ist. Er ist also selbstbezogen. Bei den Tieren wird diese Selbstbezogenheit durch den Instinkt kompensiert, der die Tiere in einer Weise zur Paarung drängt, daß der natürlichen Hinordnung der Sexualität auf die Erhaltung der Spezies Genüge getan wird. Bei den Menschen macht sich der Sexualtrieb ebenfalls stark bemerkbar, es fehlt ihm aber ein Instinkt, der den Vollzug so steuert, daß das Gut der Weitergabe des Lebens schon dadurch gesichert ist. Anstatt eines Instinkts ist der Mensch mit Vernunft und freiem Willen ausgestattet.

Auf der personalen Ebene des Menschen als „animal rationale“ entsteht nun die „geistige“ Liebe, also überhaupt menschliche Liebe, welche zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechtes zur Gründung einer Lebensgemeinschaft führt, die durch eine ganz bestimmte Art von Liebe spezifiziert ist: Die eheliche Liebe, die sexuell geprägt ist. Innerhalb der Ehe findet die personal-geistige Liebe zwischen den Ehegatten im ehelichen Akt ihre intimste Vollendung und ihren eigentümlichen Ausdruck. In derselben Lebensgemeinschaft erhält der Sexualtrieb eine neue Dimension (oder besser eine Dimension, auf die er immer schon angelegt war), die die leibliche Vereinigung zu einem „actus humanus“ macht, der der menschlichen Natur als objektiver Norm der Moralität angemessen ist. Denn die komplementäre Sexualität der Ehegatten wird zu einem Prinzip der Selbsttranszendierung auf der Ebene der Sinnlichkeit selbst, insofern ihre Betätigung der Weitergabe menschlichen Lebens dient.

Im Sexualakt, der vom vernunftgeleiteten Willen gewählt und vollzogen wird, ist das, was die Eheleute wollen und tun (der intentionale Gehalt ihrer Handlung) die gegenseitige, liebende Selbsthingabe an den anderen, und zwar in der Ganzheit der eigenen leib-geistigen Personalität. Man kann von einer doppelten, zusammenhängenden Selbsttranszendenz sprechen, die die eheliche Liebe kennzeichnet. Erstens, insofern diese Liebe Selbsthingabe an den Ehepartner ist. Zweitens, insofern dieselbe Selbsthingabe, wegen der Natur und Komplementarität beider Geschlechter, auf die Erzeugung menschlichen Lebens hingeordnet ist, also auf Selbsttranszendenz zu der Person hin, die Frucht der gegenseitigen Selbsthingabe der Ehegatten ist. Deshalb kann diese liebende Selbsthingabe eine selbsttranszendierende Dimension – ohne die es keine Liebe gibt – auch auf der Ebene der Sinnlichkeit verwirklichen und zum Ausdruck bringen (denn nur auf der Ebene der Sinnlichkeit findet die Fortpflanzung statt). Der Ehemann liebt die Ehefrau und schenkt sich an sie als diejenige, die sie im ehelichen Akt ist, nämlich als potentielle Mutter; umgekehrt liebt die Ehefrau den Ehemann und schenkt sich an ihn als potentiellen Vater. Und beide, insofern sie „ein Fleisch“ (vg. Gen 2,24 und Mt 19,6) und in diesem Sinne ein handelndes Subjekt sind, transzendieren sich selbst auf ihr potentielles Kind hin. Eine solche eheliche Liebe kann nur dann im Sexualakt adäquat zum Ausdruck gebracht werden, wenn dieser Akt seines prokreativen Sinngehaltes nicht beraubt wurde. Anders gesagt: Weil der prokreative Sinngehalt des ehelichen Aktes eine Dynamik der Transzendenz ist, verleiht er der leiblichen Vereinigung von Mann und Frau die Möglichkeit, menschliche Liebe auszudrücken.

Nicht im Sexualtrieb als solchem kommt die personale Liebe zum Ausdruck. Denn die Dynamik des sinnlichen Begehrens läuft derjenigen personaler Liebe als Selbsthingabe entgegen. Für das sexuelle Begehren wird der andere in dem Maße als „uninteressant“ erfahren, in dem es befriedigt wird. In diesem Sinne wurde weiter oben gesagt, daß der Sexualtrieb an sich nichts mit Liebe zu tun hat. Aber innerhalb des ehelichen Aktes als Vollendung und Ausdruck der Liebe, die zwischen den Ehegatten besteht, stellt die sinnliche Befriedigung und ihr Lusterlebnis die affektiv-emotionale Erfüllung derselben Liebe als eheliche Liebe dar und ist deshalb ein menschliches Gut. Die (allgemeine) Liebe zwischen Mann und Frau wird zu einer spezifisch ehelichen Liebe erst in einer Handlung, nämlich im ehelichen Akt, in der die Komplementarität von unitivem und prokreativem Sinngehalt zum Tragen kommt. Ohne die bereits bestehende Liebe zwischen den Ehegatten gäbe es keine Liebe, die in dem Sinne zu ihrer Vollendung kommt, daß sie im ehelichen Akt auch die leibliche Dimension der Ehegatten umfaßt. Ohne die Offenheit auf die Weitergabe des Lebens hin könnte dieselbe Liebe sich nicht als eheliche Liebe vollziehen; vielmehr würden die vermeintliche personale Liebe zwischen den Ehegatten und der sexuelle Akt mit seiner auf sich selbst zurückfallenden Tendenz objektiv auseinander liegen. Von Vollendung und Ausdruck ehelicher Liebe könnte keine Rede sein.

6.3 Funktion und Sinngehalt des ehelichen Aktes

6.3.1 Die Untrennbarkeit der zwei Komponenten des Sinngehalts

HV besteht mit Nachdruck darauf, daß dem ehelichen Akt zwei Sinngehalte innewohnen – ein unitiver (liebender) und ein prokreativer – und daß sie unlösbar verknüpft sind (12a). Der Grund dafür ist, daß die spezifisch menschliche Bedeutung eines jeden von ihnen durch die Verknüpfung mit dem anderen mitkonstituiert ist[21]. Denn der unitive Sinngehalt ist eine eheliche Liebe, weil er Liebe zwischen zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts ist, die sich zum Dienst am Leben verbunden haben; der prokreative Sinngehalt bezieht sich nicht auf ein bloß biologisches Geschehen, sondern auf den ehelichen Akt, insofern aus ihm als Liebeseinheit von Mann und Frau per se neues Leben entspringt. Nur in einer Liebesgemeinschaft geschieht die Fortpflanzung auf eine menschenwürdige Weise.

Der Umstand, daß nicht ein jeder Sexualakt fruchtbar ist, stellt kein Argument gegen die von der Enzyklika behauptete Untrennbarkeit dar. Denn sie spricht von zwei Sinngehalten („significatio“), nicht von zwei Funktionen des ehelichen Aktes. Nur einem fruchtbaren Sexualakt kann eine prokreative Funktion zukommen; diese aber hängt von physiologischen Faktoren ab, die nicht immer gegeben sind. Der Grund der gemeinten Untrennbarkeit ist, wie schon gesagt, daß jeder der beiden Sinngehalte seine volle, spezifische Bedeutung gerade durch die Verbindung mit dem anderen erhält. Ihre absichtlich herbeigeführte Abkoppelung würde deshalb mit sich bringen, daß beide Sinngehalte und damit der Sinngehalt des ganzen Aktes als Akt ehelicher Liebe zerstört werden[22]. Das heißt: Ein willentlich unfruchtbar gemachter Sexualakt kann, objektiv, die eheliche Liebe nicht zum Ausdruck bringen. Denn eheliche Liebe ist eine Liebe zwischen zwei Personen, die sich zum Dienst an der Weitergabe menschlichen Lebens in einer Lebensgemeinschaft verbunden haben[23]. Dementsprechend heißt es in HV 12b: Nur „wenn beide wesentlichen Gesichtspunkte ... beachtet werden, behält der Verkehr in der Ehe voll und ganz den Sinngehalt gegenseitiger und wahrer Liebe und seine Hinordnung auf die erhabene Aufgabe der Elternschaft“.

Aus dem Gesagten ergibt sich, daß das so verstandene Untrennbarkeitsprinzip zur Begründung jener Norm gehört, die die Enzyklika hinsichtlich einer verantwortlichen Elternschaft bekräftigen will: Die Bewahrung beider Sinngehalte ist an ihre Verknüpfung gebunden. Es geht also nicht um die Untrennbarkeit der prokreativen mit der unitiven Funktion, sondern um den intentionalen Gehalt jener menschlichen Handlung, die der eheliche Akt ist: Der Akt soll intentional auf die Zeugung neuen Lebens hin offen sein. Die Enzyklika argumentiert nicht physizistisch, sondern moralisch; denn entscheidend für die moralische Qualifikation einer Handlung ist das, was der Handelnde will (vgl. oben 4b). Nun aber besteht die Kontrazeption genau darin, daß man die natürliche Hinordnung des Sexualaktes auf die Weitergabe des Lebens willentlich aufhebt. Andererseits aber ist es immer möglich, was immer der physiologische Status der Zeugungspotenz sein mag, den ehelichen Akt so zu vollziehen, daß er „per se“ auf ein neues Leben hingeordnet ist. Es geht um die Offenheit des Willens. Denn das, was man will, spezifiziert eine menschliche Handlung, nicht eine Naturgegebenheit (die aktuell gegebene physiologische Fruchtbarkeit), die nicht unserem Willen untersteht.

Das Anliegen der Enzyklika ist die Verteidigung ehelicher Sexualität als Ausdruck personaler Liebe in ihrem eigentümlichen Charakter von ehelicher Liebe. Kriterium und Rechtfertigung der von der Kirche gelehrten Norm ist das „bonum humanum“ der ehelichen Liebe, nicht die Befolgung von Naturgesetzen. Die biologischen Gesetze sind aber insofern für die Norm relevant, als es bei der ehelichen Liebe um einen Akt geht, der genau wegen seiner naturalen Hinordnung auf die Fortpflanzung als ehelich zu qualifizieren ist.

6.3.2 Die Untrennbarkeit hat Gültigkeit auch auf der Ebene einzelner sexueller Akte

Wie bereits erwähnt, kann der sexuelle Verkehr zwischen den Ehegatten nur dann Vollendung und Ausdruck wahrer Liebe sein, wenn er für die Weitergabe des Lebens offen bleibt. Damit allein aber ist noch nicht bewiesen, daß die Empfängnisverhütung in dem Falle, der das direkte Thema der Enzyklika darstellt, ein sittlich unzulässiges Mittel zur Vermeidung einer Empfängnis ist. Denn, wie oben (Nr.4) gesagt wurde, behandelt die Enzyklika die Kontrazeption im Rahmen der verantwortlichen Elternschaft. Sie hat deshalb den Fall vor Augen, in dem die Ehegatten aus angemessenen Gründen auf (weitere) Kinder verzichten sollen bzw. dürfen. Es wird also vorausgesetzt, daß sie grundsätzlich für die Weitergabe des Lebens offen sind („Ganzheitsprinzip“. Vgl. HV 3b, 14d, 17c). Wenn sie nun, um der Weitergabe des Lebens auf verantwortliche Weise zu dienen, die prokreative Funktion einzelner Sexualakte ausschalten (Kontrazeption), stellt sich die Frage, warum dadurch – wie HV meint – auch der prokreative Sinngehalt (als intentionaler Gehalt) ausgeschaltet wird, so daß der Sexualakt objektiv kein Vollzug und Ausdruck wahrer ehelicher Liebe sein kann. Sie rekurrieren doch auf die Kontrazeption gerade aus Verantwortung für das Leben. Warum ist nur die Enthaltung von jenen Akten, die voraussichtlich Zeugungsfolgen haben (= periodische Enthaltsamkeit), das sittlich vertretbare Verhalten, um prokreative Verantwortung zu leben (vgl. HV 16b–c)? Es scheint naheliegend zu vermuten, daß die Enzyklika den Rekurs auf das Ganzheitsprinzip deshalb ablehnt, weil sie einfach die Moralität des ehelichen Aktes von der Respektierung der biologischen Strukturen der Sexualität abhängig macht.

Zur Antwort auf diese Frage und damit zur Widerlegung des Vorwurfs von Physizismus gegen HV soll im folgenden eigens bewiesen werden, daß die Untrennbarkeit der Komponenten des Sinngehalts des ehelichen Aktes Gültigkeit auch auf der Ebene der einzelnen sexuellen Akte hat. Dafür ist es nötig, die menschliche Handlung unter dem Gesichtspunkt der Ethik weiter zu analysieren (Handlungstheorie) – wobei dies von selbst zum Thema „natürliches Sittengesetz“ führt. Dies soll im Anschluß an die Klärung des Begriffs „prokreative Verantwortung“ geschehen. Es soll geklärt werden, daß in dem zur Debatte stehenden Fall das sittlich durchaus zulässige Ziel der Vermeidung einer (weiteren) Empfängnis nicht durch ein Mittel – die Empfängnisverhütung – erreicht werden darf, das gegen das natürliche Sittengesetz verstößt.

7. Prokreative Verantwortung

Im Abschnitt 10 gibt die Enzyklika die Erfordernisse an, denen die verantwortliche Elternschaft Genüge leisten soll: Die verantwortliche Elternschaft hat einen inneren Bezug zur „objektiven sittlichen Ordnung“ und verlangt deshalb in erster Linie die Beherrschung von Trieb und Leidenschaft durch Vernunft und Willen. Damit ist gesagt, daß der Schlüssel zu einer verantwortlichen Elternschaft in der Übung der Tugend der Keuschheit besteht. Schon das II. Vatikanische Konzil hatte in seinen Richtlinien zur Frage nach der Geburtenregelung gesagt, daß ein „der wahren menschlichen Würde“ entsprechender Ausgleich zwischen ehelicher Liebe und verantwortlicher Weitergabe des Lebens ... ohne den aufrichtigen Willen zur Übung der Tugend ehelicher Keuschheit nicht möglich ist „ (GS 51c)[24].

Die Tugend der Keuschheit bedeutet nicht Unterdrückung des Sexualtriebes als etwas in sich Schlechtem und auch nicht einfach Enthaltsamkeit, sondern Herrschaft über den Trieb, um ihn in die Ordnung personaler Liebe zu stellen. Denn, wie schon gesagt, der Trieb, der die Sexualität in besonderer Weise kennzeichnet, hat von sich aus nichts mit menschlicher Liebe zu tun. Zudem sind die moralischen Tugenden als solche habituelle Vollkommenheiten („habitus operativi boni“. Cfr. I.II, q.55, a.3) unserer natürlichen Strebungen. Indem die Tugend die Handlungen der sinnlichen Strebungen in die Ordnung der Vernunft bringt, werden die „fines proprii“ der Strebungen zu „fines debiti“ d.h. sie streben nach dem, was zum Menschen als Menschen paßt und deshalb ein wahres menschliches Gut ist[25]. Die Ordnung der Vernunft ist die Ordnung der Liebe als Wohlwollen, Fürsorge, Verantwortung und Dienstbereitschaft.

Es gilt also, die Sexualität in die Subjektivität des Menschen zu integrieren im Sinne dessen, was über den Menschen als leib-geistige Wesenseinheit dargelegt wurde. Die Sexualität und überhaupt die Leiblichkeit ist nicht „Natur“ im selben Sinne wie die Umwelt; sie gehört bereits seinsmäßig zum Menschen als Person und damit zur Subjektivität des Menschen, weil der Leib wesentlicher Bestandteil des Menschen ist, der aufgrund seiner Geistigkeit Person ist. Die Sexualität muß deshalb auch operativ, d.h. handlungsmäßig in die Subjektivität des Menschen integriert, d.h. zu einem Bestandteil von ihr werden. Dies ist deshalb möglich, weil der Sexualtrieb, wie überhaupt das konkupiszible und iraszible Strebevermögen „von ihrer Natur aus angelegt sind, der Leitung der Vernunft zu gehorchen“ und so „an der Vernunft teilzuhaben“. Und gerade in dem Maße, in dem unsere natürlichen Strebungen an der Vernunft teilhaben, sind sie „Prinzip menschlichen Handelns“ (I.II, q.56, a.4). Die Tugend der ehelichen Keuschheit ist die habituelle Bereitschaft des Menschen, dem spontanen sexuellen Trieb und der affektiven Zuneigung auf vernünftige und damit verantwortliche Weise zu folgen; sie ist also eine Modifizierung des sexuellen Begehrens nach dem Maßstab der Vernunft. In dem Maße, in dem der Sexualtrieb vom Geist (von Vernunft und Wille) durchformt ist, wird er selbst Subjekt des moralischen Lebens als Leben nach den Tugenden (vgl. I.II, q.56, a.5 ad 1). In diesem Sinne ist die Sexualität nicht einfach Objekt prokreativ verantwortlichen Handelns, sondern selbst Subjekt eines solchen Handelns.

Die so verstandene prokreative Verantwortung als moralische Tugend ermöglicht die Anwendung des Prinzip der Untrennbarkeit, wonach in jeder menschlichen Handlung Geist und Leib zusammenwirken, auf der Ebene des konkreten Sexualverhaltens. Denn wenn die Offenheit auf die Fortpflanzung hin wesentlich zum Sinngehalt des ehelichen Aktes gehört, so bedeutet die prokreative Verantwortung als tugendhaftes Verhalten im Bereich der Sexualität die Gültigkeit des Untrennbarkeitsprinzips nicht nur auf der Ebene einer Intention, die die Gesamtheit des ehelichen Lebens umfaßt, sondern ebenfalls auf der Ebene der einzelnen ehelichen Akte. Der Sexualakt der Eheleute kann ja nicht als ehelicher Akt gelten, wenn die darin wirkende Sexualität ihres ehelichen Sinngehalts beraubt worden ist. Es wurde oben gezeigt, daß menschliche Sexualität eine eheliche Bedeutung besitzt. Es hat keinen Sinn zu behaupten, daß in der ehelichen Gemeinschaft, deren Spezifikum und Konstitutivum der Dienst an der Weitergabe des Lebens ist, einige Sexualakte intentional ehelich sind, andere aber nicht. Es geht schließlich um den konstitutiven Sinngehalt dieser Akte als menschliche Akte, nicht um die biologische Funktion derselben. Nun aber erhält ein Akt seinen intentionalen Sinngehalt (Objekt) und damit seine moralische Qualifikation von dem, was man mit diesem Akt will, nicht von dem, was man bei anderen physisch ähnlichen Akten gewollt hat oder wollen wird[26].

Wenn nun im Sexualakt lediglich der unitive Sinngehalt, also die geistige Liebe der Ehegatten, zum Tragen kommt[27], so wirkt die Sexualität mit ihrer Hinordnung auf Fortpflanzung nicht als Prinzip des ehelichen Aktes und ist damit kein Teil des objektiven Sinngehalts dieses Aktes. Denn während in der periodischen Enthaltsamkeit der prokreative Sinngehalt des ehelichen Aktes intentional bleibt (wobei „intentional“ keinen bloßen Gedanken meint, sondern sich in ein konkretes Sexualverhalten umsetzt, wie wir sehen werden), wird er in der Kontrazeption geradezu willentlich ausgeschaltet. Eine solche Ausschaltung kann beileibe nicht für eine Integration der Sinnlichkeit in die Subjektivität des handelnden Menschen gehalten werden! Das sexuelle Streben bleibt zwar als Streben nach lustvoller Befriedigung bestehen, aber nachdem es seiner Hinordnung auf die Weitergabe des Lebens absichtlich beraubt worden ist, kann diese Hinordnung nicht in das Subjekt als Prinzip des konkreten Sexualverhaltens aufgenommen werden. Dagegen hilft die gemeinte Offenheit auf die Weitergabe des Lebens hin als Gesamtintention nicht. Denn ein Akt wird moralisch durch den jeweils tatsächlichen intentionalen Gehalt der Wahl spezifiziert, der er entspringt.

8. Kontrazeptives Sexualverhalten und periodische Enthaltsamkeit

In diesem Abschnitt soll näher gezeigt werden, daß die Empfängnisverhütung die zwei Sinngehalte des ehelichen Aktes voneinander trennt, wobei auch auf die moralische Bedeutung dieser Trennung eingegangen wird. Dies kann am besten erreicht werden, indem wir zuerst die periodische Enthaltsamkeit analysieren, weil in ihr positiv enthalten ist, was im kontrazeptiven Sexualverhalten fehlt und weshalb es zu einem sittlich unzulässigen Verhalten wird.

8.1 Periodische Enthaltsamkeit

In der „aus berechtigten Gründen“ (HV 16c) wahrgenommenen periodischen Enthaltsamkeit sind zwei verschiedene, wenn auch aufeinander bezogene Akte des Sexualverhaltens eingeschlossen: der Vollzug des Sexualverkehrs während der unfruchtbaren Zeit und der willentliche Verzicht auf Sexualverkehr während der fruchtbaren Zeit. Letzterer bedeutet nicht einfach „etwas nicht tun“, sondern ist ein dem vernunftgeleiteten Willen entspringender Akt des Sexualverhaltens, ein in diesem Sinne leiblicher Akt, und zwar ein solcher, der aus Verantwortung gegenüber den schon geborenen und den möglichen künftigen Kindern gewählt und vollzogen wird, d.h. aus prokreativer Verantwortung. Gerade die Schwierigkeit, die die Enthaltsamkeit nicht selten begleitet, beweist, wie sehr die Sexualität durch diesen freiwilligen Verzicht in Anspruch genommen wird.

Außerdem ist dieser Akt der Enthaltung ein (auf seine Weise!) ehelicher Akt, weil in ihm beide Sinngehalte der ehelichen Sexualität und Liebe enthalten sind: a) Er ist ein Akt mit einem prokreativen Sinngehalt, weil er genau aus Gründen prokreativer Verantwortung vollzogen wird (gemeint ist die absichtliche Enthaltung); b) diesem Akt liegt eine gemeinsame Entscheidung der Ehegatten zugrunde, die sich gerade in ihrem gemeinsamen Verzicht ihre gegenseitige eheliche Liebe erweisen und sie vertiefen. In einem anderen Sinn als der Sexualverkehr selbst sind die Akte verantwortlicher Enthaltung Ausdruck des prokreativen und des unitiven Sinngehaltes der Sexualität.

Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die Respektierung des natürlichen Fruchtbarkeitsrhythmus weder Norm noch Begründung der Norm ist[28], deren Einhaltung (d.h. die Respektierung des Fruchtbarkeitsrhythmus) den Ehegatten ein sittlich gutes Sexualverhalten ermöglicht, so daß das Vermeiden einer Schwangerschaft sich in die verantwortliche Elternschaft einfügen würde. Dies wäre eine naturalistische oder physizistische Normbegründung! Die Respektierung des Rhythmus als moralisches Erfordernis ergibt sich vielmehr aus der sittlichen Norm, der zufolge der eheliche Akt nur dann sittlich gut ist, wenn er als leib-geistiger Akt beide ihm innewohnenden Sinngehalte verwirklicht und so ein „bonum humanum“ realisiert, nämlich das bonum der ehelichen Liebe. Denn einen Akt der Liebe gibt es ohne eine das Subjekt transzendierende Dimension des Wollens (und damit des Gewollten) nicht. Diese Dimension ist die Offenheit des ehelichen Aktes auf die Weitergabe des Lebens.

Dies ist aber nur dann der Fall, wenn die Eheleute aus berechtigten Gründen die periodische Enthaltsamkeit praktizieren. In keinem ihrer Sexualakte – weder im ehelichen Verkehr noch im Verzicht auf Verkehr – wollen sie die prokreativen Folgen ihres Sexualverhaltens verhindern. Deshalb bleibt ein jeder ihrer ehelichen Akte „per se“ auf Erzeugung hingeordnet (HV 11). Denn Objekt einer menschlichen Handlung ist nicht das Objekt (Ding, biologischer Prozeß), wie es in sich ist, sondern was man wählt und de facto tut. Der prokreative Sinngehalt des ehelichen Aktes, anders als die prokreative Funktion, ist nicht an die effektive physiologische Fruchtbarkeit dieses Aktes gebunden; er beruht allein auf seinem intentionalen („per se“) Hingeordnetsein auf die Erzeugung neuen menschlichen Lebens.

Der Rekurs auf den Fruchtbarkeitsrhythmus ist „nur“ der Weg, um das Gesollte (die Vermeidung einer Empfängnis) in einer sittlich zulässigen Weise verwirklichen zu können. Um eine Pflicht im Bereich der Sexualität erfüllen zu können, muß man den biologischen Gesetzen Rechnung tragen! Dies ist kein Physizismus, ebensowenig wie die Kenntnis und Respektierung der biologischen Prozesse und ihrer Gesetze für die Krankenpflege des Physizismus bezichtigt werden kann. Andererseits gehören die Schwierigkeiten, die die Praktizierung periodischer Enthaltung mit sich bringt, zur aufforderungsreichen Aufgabe des ehelichen Lebens. Sie sind an sich kein Hindernis für eine wahre eheliche Liebe. Wenn sie von den Eheleuten gemeinsam gemeistert werden, werden sie vielmehr zu einer Quelle der Reifung dieser Liebe (vgl. HV 21).

8.2 Kontrazeptives Sexualverhalten

Während im vorigen Fall die Ehegatten eine Schwangerschaft durch leibliche Akte verantwortlicher Enthaltung (also durch menschliche Akte) vermeiden, verfolgen die Ehegatten, die die Kontrazeption wählen, dasselbe Ziel dadurch, daß sie die mögliche prokreative Folge ihres Sexualverkehrs verhindern. Deshalb brauchen sie ihr Sexualverhalten gar nicht zu modifizieren. Der kontrazeptive Akt (eine Pille schlucken) als Mittel für eine verantwortliche Elternschaft ist zwar ein menschlicher Akt, der Sexualität und Leib als reines Objekt behandelt[29]; dieser selbst aber ist, im Gegensatz zur verantwortlichen Enthaltung, kein sexueller Akt.

Wir sahen, daß im Falle der periodischen Enthaltsamkeit die Tugend der Keuschheit den Sexualtrieb in die Verantwortung des Subjektes integriert, so daß der Trieb zu einem geistgeleiteten Prinzip des ehelichen Aktes wird. In der Kontrazeption dagegen wird der Sexualtrieb völlig aus der Verantwortung, zusammen mit dem Geist (Vernunft und Willen) Ursache neuen Lebens zu sein, herausgelöst; er wird einfach als ein Objekt behandelt und seiner prokreativen Dimension beraubt. Die Erfüllung der Pflicht, eine Empfängnis zu vermeiden, wird aus dem Einsatz der eigenen Subjektivität, d.h. aus dem Wirken der eigenen Freiheit und Verantwortung, herausgenommen und einem „technischen“ Verfahren übertragen. Mit dem damit bewirkten Verschwinden der prokreativen Dimension der ehelichen Liebe wird diese Liebe in ihrer Eigenart als Liebe zweier Personen, die sich zum Dienst am Leben verbunden haben (Ehe), zerstört: Ihre Liebe kann sich nicht mehr im Sexualakt verwirklichen und ausdrücken, weil ihr auf der Ebene der Sexualität nur noch der Sexualtrieb als Trieb zum sinnlichen Genuß übrigbleibt.

Einen sinnlichen Akt vollziehen, der nur sinnlichen Genuß bringt, und einen sinnlichen Akt vollziehen, der auf die Weitergabe des Lebens hin offen ist, womit er eine Dynamik der Transzendenz besitzt und zugleich von einem sinnlichen Genuß begleitet ist, sind zwei grundverschiedene Akte. Nur im zweiten ist die sinnliche Befriedigung ein echt menschliches Gut, nämlich die sinnliche Resonanz eines Liebesaktes, in dem die Sexualität als Quelle des Lebens (die Zeugung eines Menschen kann direkt nur das Werk des Leibes sein) beteiligt ist. Im Genuß des Sexualaktes wird die andere Person als Ehegatte erfahren und geliebt, mit der sich der Ehemann bzw. die Ehefrau in einer gemeinsamen prokreativen Aufgabe verbunden weiß. Eine solche Aufgabe wird wahrgenommen in den Sexualakten sowohl des ehelichen Verkehrs wie auch der Enthaltung, die im Kontext einer aus Verantwortung praktizierten periodischen Enthaltung vollzogen werden, aber nicht in kontrazeptiven ehelichen Akten.

Die Unterdrückung des prokreativen Sinngehaltes des ehelichen Aktes bedeutet einen grundsätzlichen Angriff sowohl auf die Integrität der menschlichen Person als leib-geistiger Einheit wie auch auf die eheliche Liebe als Ausdruck dieser Einheit. Durch das kontrazeptive Verhalten wird die leib-geistige Einheit auf der Ebene der Handlung zerstört, und gerade deshalb ist dieses Verhalten mit der Wahrheit des Menschen unvereinbar. Die Kontrazeption ist also ein in sich schlechter Akt, weil sie das bonum humanum des ehelichen Aktes als Vollzug ehelicher Liebe und als Dienst am Leben unmöglich macht.

In der Kontrazeption wird die eigene Leiblichkeit nicht in den Kontext verantwortlichen Verhaltens integriert; sie macht vielmehr die Wahrnehmung einer prokreativen Verantwortung, die der leib-geistigen Konstitution des Menschen entspricht, nämlich die Formung der eigenen Sexualität durch die Tugend der Keuschheit, überflüssig[30]. Im wichtigen Text 16c behauptet die Enzyklika, daß periodische Enthaltung und Empfängnisverhütung „zwei ganz unterschiedliche Verhaltensweisen“ sind. Um dies zu beweisen, beschreibt (!) sie zunächst beide Verhaltensweisen: „Bei der ersten machen die Eheleute von einer naturgegebenen Möglichkeit rechtmäßig Gebrauch; bei der anderen dagegen hindern sie den Zeugungsvorgang bei seinem natürlichen Ablauf.“ Mit dieser Aussage ist noch kein sittliches Urteil gefällt, wie die Kritiker meinen, indem sie die Enzyklika des Naturalismus bezichtigen. Denn aus ihrer Sicht heißt die Enzyklika die Zeitwahl gut und lehnt die Empfängnisverhütung ab, was sie damit begründen, daß die erstere vorgegebene biologische Strukturen angeblich respektiert, die andere aber nicht.

In der Tat aber folgt die Begründung des sittlichen Urteils erst dort, wo die Enzyklika auf den intentionalen Gehalt hinweist und damit auf den Gegenstand der zuvor biologisch beschriebenen Verhaltensweisen (jetzt aber als menschliche Handlungen betrachtet). Dem gemäß gründet das Urteil darauf, daß nur im ersten Fall die Eheleute während der fruchtbaren Perioden Akte der Enthaltung aus prokreativer Verantwortung vollziehen. Der sittlich relevante Unterschied liegt also nicht darin, daß nur die Zeitwahl mit den naturgegebenen biologischen Rhythmen übereinstimmt, sondern darin, daß nur in ihr „die Gatten sich in fruchtbaren Zeiten des ehelichen Verkehrs enthalten können“. D.h. sie können dies tun und tun es. Es handelt sich um eine im Hinblick auf die gesollte Vermeidung einer Empfängnis relevante Möglichkeit, die sich daraus ergibt, daß die Ehegatten sich für die periodische Enthaltsamkeit entschieden haben. Diese Möglichkeit gibt es im Falle der Kontrazeption insofern nicht, weil es sinnlos wäre, sich des ehelichen Verkehrs zu enthalten, um eine Empfängnis zu vermeiden, nachdem die prokreative Funktion ausgeschaltet worden ist.

Anders gesagt, die Kontrazeption ist sittlich falsch, nicht weil sie „den Zeugungsvorgang bei seinem natürlichen Ablauf“ hindert, sondern weil sie die Wahrnehmung prokreativer Verantwortung durch eine tugendhafte Modifizierung des eigenen Sexualverhaltens überflüssig macht. Die Kontrazeption behandelt den Leib einfach als ein „zu regulierendes Objekt“, anstatt ihn in die Struktur menschlicher Handlung als Teil des „regulierenden Handlungssubjekts“ zu integrieren und ihn damit zum Prinzip menschlicher Handlungen werden zu lassen. Man kann zu Recht behaupten, daß die Kontrazeption eine Entscheidung gegen die tugendgemäße „Selbstregulierung“ des Triebes durch Enthaltung impliziert und so gegen eine Integration der eigenen Leiblichkeit in den Kontext verantwortlichen Verhaltens gerichtet ist. Damit sind wir nochmals beim Untrennbarkeitsprinzip: Die sittliche Verkehrtheit der Kontrazeption liegt (direkt) nicht in einem Verstoß gegen biologische Strukturen und auch nicht in ihrem „künstlichen“ Charakter; sie liegt vielmehr darin, daß sie den Leib und seine prokreativen Akte aus dem Kontext der Verantwortung herauslöst.

Freilich kann auch die periodische Enthaltsamkeit mißbraucht werden; dann nämlich, wenn man damit eine Empfängnis vermeiden will, wo es keinen zureichenden Grund dafür gibt. Aber dies hängt nicht mit der periodischen Enthaltsamkeit als solcher zusammen, sondern mit der weiteren Absicht (dem finis operantis), die man durch die an sich sittlich zulässige Enthaltung verfolgt.

9. Implikationen und Konsequenzen der Empfängnisverhütung

Nachdem gezeigt worden ist, daß zum ehelichen Akt als Vollendung und Ausdruck ehelicher Liebe der prokreative Sinngehalt gehört, sollen jetzt die Implikationen und Konsequenzen der Empfängnisverhütung bedacht werden (vgl. dazu die weitsichtigen Darlegungen von HV 17). Durch die Empfängnisverhütung als Mittel für eine verantwortliche Elternschaft wird die Sexualität der Ehegatten des-integriert, d.h. sie wird handlungsmäßig nicht in deren verantwortliches Verhalten integriert. Denn anstatt den Sexualtrieb durch die Tugend der ehelichen Keuschheit zu „formen“ und so ins handelnde Subjekt zu integrieren, eliminiert die Kontrazeption seine prokreative Dimension. Als Folge davon konzentrieren die Ehegatten die leibliche Dimension ihres ehelichen Lebens zunehmend auf die Sexualität, um ihre Liebe auszudrücken.

Nun aber ist dies objektiv nicht möglich, weil einem Sexualakt, der gerade als leiblicher Akt seiner das Subjekt transzendierenden Dimension (der Offenheit auf die Weitergabe des Lebens) beraubt worden ist, nur noch die Eigendynamik eines Triebes übrig bleibt, der auf die eigene Befriedigung tendiert. Das seiner Funktion beraubte Triebgeschehen ist selbstbezogen[31], weil „der andere“, nämlich die von der Natur intendierte Nachkommenschaft, kein Gut für den Sexualtrieb darstellt. In der Tat, wie oben (6.1) bemerkt, hat die Sexualität zunächst einmal nichts mit zwischenmenschlicher Liebe zu tun. Wäre nicht der Fortpflanzungsakt mit Lust verbunden, so wäre wohl die Menschheit schon längst ausgestorben, weil uns ja jener Instinkt fehlt, der bei den Tieren den Sexualtrieb so steuert, daß die Nachkommenschaft gesichert wird. Wir würden auch nicht den sexuellen Verkehr vollziehen, um unsere zwischenmenschliche Liebe auszudrücken, weil wir nicht einmal auf den Gedanken kommen würden, der Sexualakt könne irgend etwas mit Liebe (Bejahung des anderen um seiner selbst willen, Wohlwollen) zu tun haben.

Erst innerhalb jener auf gegenseitiger Liebe gründenden Lebensgemeinschaft von Mann und Frau, die der Mensch wegen seiner sozialen Natur verbunden mit seiner natürlichen sinnlichen Neigung zum anderen Geschlecht eingeht, vermag er einzusehen, daß der Trieb der Sexualität nach Lusterlebnis eine fundamentale Aufgabe für den Menschen signalisiert, nämlich die Weitergabe des Lebens. Im ehelichen Akt erfährt die Sexualität ihre eigene menschliche Wahrheit: Dieser Akt ist Vollendung und zugleich Ausdruck der gegenseitigen liebenden Selbsthingabe der Ehegatten, wobei das Lusterlebnis auf der sinnlichen Ebene das Echo der Transzendenz ihrer Liebe auf die Weitergabe des Lebens ist. Die Weitergabe des Lebens kann ja nur durch die Sexualität stattfinden. Wenn aber der Sexualtrieb seiner humanen Aufgabe beraubt wird, so bleibt ihm objektiv nur die Eigendynamik nach Selbstbefriedigung. Die an sich ehrlich gemeinte Absicht der Ehegatten, den Sexualverkehr als Ausdruck personaler Liebe zu vollziehen, ist objektiv eine Selbsttäuschung. Diese Intention bleibt dem Sexualakt äußerlich; denn in der Befriedigung des Begehrens verschwindet der Bezug zur Person des anderen (des Ehepartners als potentiellen Vaters bzw. potentieller Mutter); dieser wird erlebt bloß noch als „Sexualerreger“ erlebt. Der Desintegrierung der Sexualität folgt die Desintegrierung der ehelichen Liebe, der infolge der Eliminierung der prokreativen Dimension die Transzendenz auf die andere Person hin objektiv fehlt.

Mit dem Hinweis auf den Zusammenhang von ehelicher Liebe und Dienst am Leben wird nicht behauptet, daß die Ehegatten ihre sinnliche Befriedigung dadurch rechtfertigen sollen, daß sie beabsichtigen, einem anderen Menschen das Leben zu schenken. Der zur leiblichen Komponente ihres Liebesaktes gehörende Genuß ist etwas Menschliches und Gutes; er ist die affektive Erfüllung ihrer Liebe. Es wird vielmehr behauptet, daß das reale Verbindungsglied zwischen personal-geistiger Liebe und Sexualität die den Ehegatten gemeinsame Aufgabe ist, dem menschlichen Leben zu dienen.

Wo aber diese Aufgabe durch die Kontrazeption negiert wurde, kann sie nicht durch die „bloße“ Absicht der Eheleute ersetzt werden, im unfruchtbar gemachten ehelichen Akt ihre gegenseitige Liebe auszudrücken. Denn der Sexualakt ist von sich aus keine reine „Ausdruckshandlung“, die (wie etwa ein Kuß, eine Umarmung, ein Handschlag) das und nur das ist, was ein Mensch mit ihr auszudrücken intendiert. Als sinnlicher Akt ist er von sich aus auf sinnliche Befriedigung ausgerichtet. Dieser Trieb hat nun eine naturale Funktion – die Weitergabe des Lebens –, welche sich nicht durch etwas anderes ersetzen läßt. Diese Funktion, die einen selbsttranszendierenden Charakter besitzt, wirkt als Verbindungsglied, wodurch der sinnliche Trieb sich in die Logik des Geistes, die eine Logik der Liebe ist, integrieren läßt. Infolgedessen drückt die sinnliche Lustbefriedigung des sexuellen Verkehrs auf der Ebene der sinnlichen Erfahrung die personale Liebe zweier Personen aus, die in der für die Ehe konstitutiven gemeinsamen Aufgabe engagiert sind. Wo aber diese Aufgabe negiert wird, wo also das handlungsmäßige Verbindungsglied zwischen der Logik eines auf sich selbst gerichteten sinnlichen Strebens und der Logik der sich selbst transzendierenden geistigen Liebe fehlt, läßt sich der sinnliche Trieb allein durch den Willen der die Kontrazeption praktizierenden Eheleute nicht zu einer Ausdruckshandlung personaler Liebe funktionalisieren. Denn ein geistiger Sinn läßt sich nicht mit etwas ausdrücken, das weder in sich selbst noch in dem, was mit ihm in realer Verbindung steht, einen solchen Sinn besitzt. In unserem Fall tritt vielmehr die reale, allein gebliebene selbstbezogene Dynamik des verhütenden Verkehrs in Konkurrenz mit der gemeinten Ausdruckshandlung, welcher die auszudrückende Realität, die eheliche Liebe, fehlt.

Es ist deshalb kein Zufall, daß das kontrazeptive Verhalten aufgrund der ihm allein gebliebenen, auf sich selbst bezogenen Dynamik zu einer massenhaften Verbreitung der Empfängnisverhütung weit über die Grenzen des Falles einer sittlich gesollten Vermeidung der Empfängnis hinaus geführt hat. Aus demselben Grund hat sich die Verhütungspraxis als ein ungehemmter Trieb nach sinnlichem Genuß innerhalb und außerhalb der Ehe durchgesetzt. Es ist z. B. recht schwierig für eine Mutter, die Empfängnisverhütung praktiziert, ihre Tochter zu überzeugen, mit ihrem Freund nicht sexuell zu verkehren. Der Umstand, daß die Mutter – anders als die Tochter – doch in der Ehe lebt, kann die Tochter kaum dahin bringen, die sittliche Verkehrtheit ihrer vorehelichen Beziehung einzusehen. Denn der kontrazeptive Verkehr ihrer Eltern ist kein Ausdruck ehelicher Liebe, weil er objektiv kein ehelicher Akt ist, sondern eine Variante der breiten Palette möglicher sexueller Stimulierungen.

Noch zwei Konsequenzen der kontrazeptiven Praxis sind zu erwähnen. Der Wahl, eine Empfängnis zu „verhüten“ (sei es auch aus ernsten Gründen), liegt die Absicht zugrunde, einen sexuellen Akt zu vollziehen, aber ohne bereit zu sein, für die möglicherweise eintretende prokreative Folge die Verantwortung zu tragen. Genau diese Einstellung ist es auch, welche eine Abtreibungsmentalität fördert. Denn sie leistet einer Einstellung Vorschub, welche die Konsequenzen des eigenen Sexualverhaltens nicht verantworten will, so daß man im Falle des Eintretens der unerwünschten Folge von vornherein geneigt ist, durch eine Abtreibung das Geschehene nachträglich ungeschehen zu machen. Das statistisch erwiesene Faktum, daß dort, wo sich die Kontrazeption verbreitet, auch die Zahl der Abtreibungen zunimmt, ist wohl kein Zufall.

Eine weitere Konsequenz ist, daß auf die Kontrazeption als „Sexualität ohne Fortpflanzung“ mit dem Fortschritt der Medizin die „Fortpflanzung ohne Sexualität“ gefolgt ist. So wie man den sexuellen Liebesakt, der von seiner Natur her auf eine menschenwürdige Weitergabe des Lebens orientiert ist, durch die Unterdrückung seiner prokreativen Dimension verunstaltet hat, so ist die neue Reproduktionsmedizin dazu übergegangen, das menschliche Leben nicht mehr als Ergebnis einer „natürlichen“, in Liebe vollzogenen Begegnung von Mann und Frau, sondern als Produkt menschlicher Technik zu betrachten und herzustellen. Damit ist das menschliche Leben buchstäblich zu einem Artefakt geworden. Als solches gilt es nicht mehr als „Gabe der Natur“ und schließlich Geschenk Gottes, sondern als Werk menschlicher Verfügungsmacht und Entscheidung. Dieser Macht untersteht die Bestimmung der Qualität dieses Lebens (eines Leben nach menschlichem „design“) sowie dessen Beginn und Ende[32].

10. Die Empfängnisverhütung verstößt gegen das natürliche Sittengesetz

In diesem abschließenden Abschnitt soll gezeigt werden, daß der kontrazeptive Sexualverkehr einen Verstoß gegen das natürliche Sittengesetz („lex naturalis“) darstellt und zugleich, daß die der bisherigen Analyse zugrundeliegende Auffassung dieses Gesetzes derjenigen des Thomas von Aquin entspricht.

Die wichtigsten Texte, in denen der mittelalterliche Meister seine Lehre von der lex naturalis dargelegt hat, finden sich in seinem Traktat über das Gesetz in der Summa theol. I.II, q 90 ff, näherhin in q.90, a.1 (lex est aliquid pertinens ad rationem); q.91, a.2 (in uns liegt eine „lex naturalis“ vor); q.93, a.6 (wie die Geschöpfe an der göttlichen „lex aeterna“ teilhaben); q.94, a.2 (die natürlichen Neigungen als Inhalt des natürlichen Gesetzes).

Das Gesetz ist die Regel der menschlichen Handlungen. Als solches gehört es zur Vernunft, insofern es von der Vernunft festgesetzt wird. Diese vernunftgemäße Regelung liegt zuerst in Gott (lex aeterna), der als höchste Weisheit in seiner Vorsehung das Wirken aller Geschöpfe regelt. Während aber die bloß sinnenbegabten Lebewesen der göttlichen Vorsehung durch ihre Instinkte „quasi ab alio ducta vel acta“ (I.II, q.1, a.2) unterstehen, nimmt der Mensch, als mit Vernunft und freiem Willen ausgestattet, an der Vorsehung Gottes „quasi se agens vel ducens ad finem“ (ebd.), also als „sibi ipsi et aliis providens“ (q.91, a.2), teil.

Thomas unterscheidet eine zweifache Art, wie der Mensch an der „lex aeterna“ teilhat: a) inhaltlich, durch seine geistigen und sinnlichen Dynamismen („naturales inclinationes“: I.II, q.94, a.2), die nach je eigenen Gütern streben, b) formal, durch seine Vernunft, die imstande ist, das für den Menschen als leib-geistige Wesenseinheit Gute zu erfassen. Es ist nun Aufgabe der Vernunft, die verschiedenen Dynamismen so zu ordnen, daß sie ihre eigenen Ziele („fines proprii“) auf eine menschenwürdige (also in der Totalität des leib-geistigen Wesens des Menschen) Weise verfolgen können (als menschliche Güter im eigentlichen Sinne, „fines debiti“: q.91, a.2). Die einzelnen natürlichen Neigungen so zu ordnen und zum Wirken zu bringen, daß sie das für den Menschen Gute erreichen, ist Aufgabe der den Neigungen entsprechenden Tugenden. Das sittlich gute Handeln ist also nach Thomas, wie schon nach Aristoteles, ein Handeln nach den Tugenden, was mit einem Handeln nach der Vernunft identisch ist. Deswegen kommt das „agere secundum rationem“ dem „agere secundum virtutem“ gleich (I.II, q.94, a.3).

Damit liegt die Lösung der Frage nach einer verantwortlichen Elternschaft, auf die bereits das II. Vatikanische Konzil hingewiesen hat, in der Regelung des ehelichen Aktes gemäß der Tugend der Keuschheit. Dies bedeutet konkret ein Sexualverhalten nach dem natürlichen Fruchtbarkeitsrhythmus der Frau, in dem sowohl der Vollzug des ehelichen Aktes als auch die Enthaltung Akte prokreativer Verantwortung sind.

Nach Thomas ist die „lex naturalis“ das Gesetz, das die Vernunft selbst gemäß ihrem Wesen erstellt. Direkt in bezug auf unsere natürlichen Neigungen schreibt er im Sinne seines immer wieder angeführten Prinzips „rationis est ordinare“: „ideo homini data est ratio, ut ea ad quae natura inclinat non passim, sed secundum rationis ordinem, exequantur“ (II.II, q.69, a.4 ad 1). Die natürlichen Neigungen werden beim Menschen nicht aufgrund instinktiver Triebsteuerung, sondern aufgrund vernünftiger, den freien Willen leitender Einsicht in entsprechende Handlungen, in das für den Menschen Gute, umgesetzt. Damit wird die in die Ordnung des Subjekts integrierte Sexualität selbst Prinzip der sexuellen Praxis, in unserem Falle der Praxis einer verantwortlichen Elternschaft. Die ehelichen Akte werden im Kontext von Selbstbeherrschung und Verantwortung vollzogen.

Das Gegenteil geschieht im Falle der Empfängnisverhütung. Die Neigung zur Verbindung von Mann und Frau wird aus dem Kontext ihrer Hinordnung auf Fortpflanzung herausgelöst und damit aus dem Erfordernis, aus Gründen prokreativer Verantwortung durch Vernunft und vernunftgeleiteten Willen beherrscht zu werden. Vernunft und freier Wille werden zwar auch bei der Empfängnisverhütung in Anspruch genommen, aber nicht um die eigenen sexuellen Akte so zu gestalten, daß die aus angemessenen Gründen zu vermeidende Empfängnis tatsächlich vermieden wird, sondern um die biologischen Prozesse dieser Akte in den Griff zu bekommen und dadurch das eigene sexuelles Verhalten nicht modifizieren zu müssen.

Es handelt sich also um eine „technische“ (HV 18c) Herrschaft über die mögliche biologische Ursache neuen Lebens, nicht um eine durch Vernunft und Willen „menschliche“ Herrschaft über den Trieb selbst. Eine solche Herrschaft ist sittlich falsch, nicht weil sie „künstlich“, sondern weil sie „inhuman“ ist. Sie negiert ja den Subjektscharakter des Leibes, insofern dieser handlungsmäßig nicht in die Struktur des vernünftigen und verantwortlichen Subjekts integriert wird. Dieses „technische“ Verhalten ist abzulehnen, nicht zwar nicht aufgrund seines Gegensatzes zu einem „natürlichen“ (wobei „natürlich“ hier die „naturalistische“ Auffassung implizieren würde, daß die Sittlichkeit in der Respektierung einer angeblichen Normativität der biologischen Gesetze besteht[33]), sondern zu einem tugendhaften Verhalten. Das moralische Naturgesetz gebietet nichts anderes, als nach den Tugenden zu leben.

“Der Mensch ist nie und nimmer berechtigt, zur Lösung menschlicher Probleme darauf zu verzichten, Mensch zu sein – selbst wenn die Wahrung menschlicher Würde Opfer und Verzicht bedeutet“[34]. Ein kontrazeptives Verhalten ist demjenigen eines Menschen ähnlich, der Schwierigkeiten hat, keusch zu leben und sich deshalb kastrieren läßt – abgesehen vom Fall pathologischer Ursachen solcher Schwierigkeiten, die eine medizinische Behandlung erfordern würden. In der Tat entzieht die Kontrazeption „einen ganzen Bereich des menschlichen Handelns der Regelung durch das moralische Gesetz“[35].

Dieser Aspekt der Würde und Verantwortung, die den Menschen auszeichnen, prägt sämtliche Überlegungen, mit denen der Heilige Vater seine autoritative Antwort auf eine drängende Frage der modernen Menschheit vorgelegt hat. „Indem die Kirche das eheliche Sittengesetz unverkürzt wahrt, weiß sie sehr wohl, daß sie zum Aufbau echter menschlicher Kultur beiträgt; darüber hinaus spornt sie den Menschen an, sich nicht seiner Verantwortung dadurch zu entziehen, daß er sich auf technische Mittel verläßt; damit sichert sie die Würde der Eheleute“ (HV 18c).

Die schwerwiegende „Inhumanität“ der Empfängnisverhütung läßt sich anhand der oben besprochenen Konsequenzen demonstrieren: die Desintegrierung der ehelichen Liebe, aber auch die heutzutage unübersehbaren sozialen Konsequenzen wie die zunehmenden Ehescheidungen, die dadurch beeinträchtigte Erziehung der Kinder, das Ausmaß der demographischen Falle, vor allem in den „westlichen Nationen“, in denen die Kontrazeption massiv zur Etablierung einer Kultur des „Sex for fun“ beigetragen hat.

Anhang: Die „Königsteiner Erklärung“ der Deutschen Bischofskonferenz

Im Schreiben der deutschen Bischöfe vom 30. August 1968 zu HV, der „Königsteiner Erklärung“ (= KE)[36], fällt auf, daß es mit Nachdruck und wiederholte Male eine Reihe von Bedenken und Einwänden gegen die von HV bekräftigte Norm kommentarlos vorträgt. Eine auch nur ansatzweise versuchte Erklärung der kontrazeptiven Handlung unter einem moralischen Gesichtspunkt fehlt fast völlig. Es wird lediglich gesagt, daß es nach der Enzyklika „dem Gesetz Gottes nicht entspricht, durch künstliches (!) Eingreifen die Möglichkeit der Weckung neuen Lebens bewußt auszuschalten“ (2).

Wie sollen sich die Gläubigen zur Anweisung des Papstes hinsichtlich einer verantwortlichen Elternschaft verhalten? Dafür verweisen die Bischöfe auf ihr Schreiben des Jahres zuvor „an alle, die von der Kirche mit der Glaubensverkündigung beauftragt sind“. In ihm heißt es zunächst, daß „ernsthafte Bemühung, auch eine nicht unfehlbare Lehräußerung der Kirche positiv zu würdigen und sich anzueignen, zur richtigen Glaubenshaltung eines Katholiken gehört“ (3). Da aber, „viele der Meinung sind, sie könnten die Aussage der Enzyklika über die Methoden (!) der Geburtenregelung nicht annehmen“, berufen sich die Bischöfe sowie die Betroffenen selbst auf den „Ausnahmefall“, der im selben früheren Schreiben besprochen wurde. Demnach muß der Gläubige „sich gewissenhaft prüfen, ob er [...] vor Gottes Gericht seinen Standpunkt verantworten kann“[37]; in diesem Falle und unter Berücksichtigung der „Gesetze des innerkirchlichen Dialogs“ darf er seiner Meinung folgen. Denn „nur wer so handelt, widerspricht nicht der recht verstandenen Autorität und Gehorsamspflicht“ (12). Die so getroffene „verantwortungsbewußte Gewissensentscheidung“ sollen die Seelsorger „achten“ (16). Seitdem ist die eigene Gewissensentscheidung bei vielen Katholiken die leicht bei der Hand zu habende Alternative zur authentischen Lehre der Kirche geworden.[38]

Das Schreiben der Bischöfe zählt, wenn auch indirekt, HV den Lehranweisungen zu, die die Kirche „selbst auf die Gefahr des Irrtums im einzelnen hin“ ausspricht (3). Auf einen solchen möglichen Irrtum weist auch der mehrmals hervorgehobene (angebliche) nicht-unfehlbare Charakter des päpstlichen Dokuments hin[39]. Außerdem wird gesagt, daß HV „der Ergänzung bedarf“ (9); deswegen wollen die Bischöfe das Gespräch mit dem Heiligen Vater „fortsetzen“ (15).

Angesichts des Gesamtduktus der KE, den die hie und da verstreuten anders lautenden „salvatorischen Klauseln“ nicht zu entkräften vermögen, wundert es nicht, daß durch diese Erklärung, wie sich der Kölner Kardinal Meisner in einem Interview mit dem „Rheinischen Merkur“ vom 12. Januar 2001 äußerte, „der Gebrauch von empfängnisverhütenden Mitteln für die deutschen Katholiken gewissermaßen legitimiert wurde“. Aus Fakten, Veröffentlichungen und Äußerungen während der vergangenen Jahrzehnte geht unbezweifelbar hervor, daß Laien, Priester und sogar Bischöfe die KE genau so verstanden haben. Wer behaupten möchte, dies sei ein Mißverständnis des Schreibens, soll erklären, wieso jahrzehntelang die damaligen Bischöfe und ihre Nachfolger ein solches Mißverständnis seitens der Kirche hierzulande fast einmütig wort- und tatenlos hingenommen haben.

Es gibt sogar einen schlagenden Beweis, daß die KE tatsächlich grünes Licht zur Kontrazeption geben wollte. Der Kreis der Moraltheologen, die nachweislich den Text der Erklärung vorbereitet haben, hat in seiner Stellungnahme dazu vom 26.9.1968 erklärt, daß die Wahl einer Kontrazeption „auf objektiven [d.h. objektiv richtigen] Gründen beruhen kann“. Moraltheologen aus diesem Kreis haben in den darauffolgenden Jahren in mehr oder weniger verschlüsselten Äußerungen vorehelichen Verkehr und homosexuelle Praktiken als verantwortbare Handlungen zum Ausdruck personaler Liebe gut geheißen. Nicht ohne Logik, nachdem sie die zwei Sinngehalte des ehelichen Aktes voneinander getrennt hatten.

Auf dem Weg, den die KE gewiesen hatte, sind dann katholische Laienverbände und Publizisten weiter gegangen, während auf der „wissenschaftlichen“ Ebene der Vorwurf eines „biologistischen Trugschlusses“ gegen die Enzyklika stereotyp wiederholt wurde. Dabei wurden sowohl die Bemühungen des Heiligen Vaters Johannes Pauls II., die Lehre von HV zu vertiefen und autoritativ zu bekräftigen, als auch die wissenschaftlichen Beiträge zur Klärung des rational-ethischen Fundaments von HV fast zur Gänze ignoriert.

Es sollen auch die wiederholten Aufforderungen des Papstes an den gegenwärtigen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz zu einer Richtigstellung der KE nicht verschwiegen werden[40]. Diese Aufforderungen vermochte Kardinal Lehmann bis auf den heutigen Tag erfolgreich ins Leere laufen zu lassen.

 

 


 

[1]Vgl. auch die Ansprache von Papst Paul VI. in Castel Gandolfo am 31. Juli 1968, in der er sich auf „eine Tradition aus Jahrhunderten, aber auch aus neuester Zeit“ beruft; dasselbe in HV 6a.

[2]Zu den göttlichen Dingen gehören auch die moralischen Wahrheiten, da ja „die treue Befolgung des natürlichen Sittengesetzes allen Menschen zum ewigen Heil notwendig ist“ (HV 4b). Vgl. auch die Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre „Über die kirchliche Berufung des Theologen“, 16.

[3]AAS 22 (1930) 580; dasselbe in HV 4b: „die Auslegung des natürlichen Sittengesetzes gehört zur Aufgabe des kirchlichen Lehramtes“.

[4]Vgl. das sog. „Minderheitsgutachten“ der päpstlichen Kommission für Geburtenregelung, in: Herder Korrespondenz 21 (1967) 422–443; hierzu S. 430.

[5]Zu den folgenden Ausführungen über diese Art des Lehramtes der Kirche verweise ich auf meinen Aufsatz „Die Neufassung der ‚Professio fidei‘ und die Frage nach den von der Kirche ‚definitiv‘ vorgelegten Lehren“, in: Forum Katholische Theologie 15 (1999) 203–227.

[6]Gemeint sind die Lehrstücke, die zwar selber nicht im „divinae revelationis depositum“ enthalten sind, die aber mit der „Hinterlage“ so verbunden sind, daß diese nicht „rein bewahrt und getreulich ausgelegt werden kann“ (LG 25c), ohne daß auch über die genannten, mit ihr verbundenen Lehren unfehlbare Entscheidungen getroffen werden können.

[7]Vgl. die Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über „Die kirchliche Berufung des Theologen“, 16.

[8]AAS 81 (1989) 104–106.

[9]J. Ratzinger, Das neue Volk Gottes, Düsseldorf 1969, 165.

[10]Der Umstand, daß VS an dieser Stelle die Kontrazeption a) zum „intrinsece malum“ zählt und b) für unzulässig auch als Mittel zur Förderung von Gütern „der Person, der Familie oder der Gesellschaft“ hält, bedeutet, daß die Kontrazeption auch nicht als Mittel für eine verantwortliche Elternschaft erlaubt ist.

[11]So urteilte Alfons Auer, einer der damals führenden Moraltheologen in Deutschland, der auch bei der Erstellung des Gutachtens der Mehrheit der päpstlichen Expertenkommission für Geburtenregelung mitgewirkt hatte. Die zitierte Aussage findet sich in seinem Buch Autonome Moral und christlicher Glaube, 1971, 21984, 209, das für den neuen Kurs der Moraltheologie wegweisend gewirkt hat.

[12]Vgl. Josef Ratzinger, „Steht der Katechismus der Katholischen Kirche auf der Höhe der Zeit?“, in: Ders., Unterwegs zu Jesus Christus, Augsburg 2003, 162 f.

[13]Sämtliche Zitate ohne Angabe des Werkes beziehen sich auf die Summa theologiae des hl. Thomas von Aquin.

[14]Für den Unterschied zwischen einer Handlung „secundum speciem naturae“ und derselben „secundum speciem moris“ vgl. I.II, q.1, a.3 ad 3; und auch q.18, aa 10 und 11.

[15]Der „künstliche“, „unnatürliche“ Charakter beider Handlungen bezüglich der Natur der Sexualität macht sie nicht zu sittlich unzulässigen Handlungen!

[16]Die Geistigkeit im Menschen zeigt sich durch seine Rationalität, nämlich durch sein verstandes- und willensmäßiges Wirken, das sich auf die Realität auch jenseits der raumzeitlichen Grenzen der Materie erstreckt.

[17]Ein solches „Eingreifen“ ist nicht mit der in diesem Aufsatz vertretenen willentlichen Integrierung des Leibes, zusammen mit seinen Dynamismen, in eine vom Geist entworfene und gewählte Lebensführung zu verwechseln. Denn im ersten Fall wird der Leib als etwas zunächst Fremdes für die einseitig als Geist aufgefaßte Person angesehen und entsprechend behandelt. Im zweiten Fall wird der Geist als formales Prinzip der einen menschlichen Substanz verstanden, wobei die Form ihrem Wesen nach auf die Materie (den Leib) angewiesen ist. Diese einheitliche Auffassung vom Menschen als Person bildet die Grundlage für das natürliche Sittengesetz bei Thomas von Aquin, wie wir weiter unten sehen werden.

[18]K. Rahner, „Das Gebot der Liebe unter den anderen Geboten“, in: Schriften zur Theologie, Bd. V, 507 f, 513 f.

[19]Dies bedeutet, daß beim Menschen die Sexualität einen ehelichen Sinnngehalt besitzt. Damit ist auch gesagt, daß der Sexualverkehr außerhalb der Ehe sittlich unzulässig ist, weil er dort seine volle anthropologische Wahrheit nicht erreicht.

[20]Der CIC von 1918 sprach von „finis primarius“ und „finis secundarius“, während das CIC von 1983 den Ehebund als „ad bonum coniugum atque ad prolis generationem et educationem ordinatum“ definiert, ohne diese Ziele als sekundäre bzw. primäre Finalität zu bezeichnen.

[21] Damit ist auf einen Einwand der Gegner von HV geantwortet. Diese anerkennen nämlich, daß im ehelichen Akt zwei Sinngehalte innewohnen, halten aber die Aussage der Enzyklika von ihrer unlösbaren Verknüpfung für nicht bewiesen, also für eine willkürliche, rein nominale Definition, die das voraussetzt, was zu beweisen wäre (vgl. L.M. Weber. „Exkurs über Humanae vitae“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 14 Ergänzung 14, Freiburg 21968, 608.

[22]Es handelt sich also um eine anthropologische Untrennbarkeit der zwei Aspekte des ehelichen Aktes. Physisch sind die zwei „Funktionen“ offenkundig trennbar.

[23]Der Dienst an der Weitergabe des Lebens ist die Finalität, die jene Gemeinschaft definiert, die Ehe genannt wird, und sie spezifisch von allen anderen Sozialgebilden unterscheidet.

[24]Vgl. auch HV 21, wo von der „Beherrschung ihrer selbst [d.h. der Ehegatten] und ihres Trieblebens“ und von „Selbstzucht [...] als Ausdruck ehelicher Keuschheit“ die Rede ist. Bei diesen Aussagen handelt es sich nicht um fromme Sprüche, die nichts Präzises über die ethischen Erfordernisse einer verantwortlichen Elternschaft sagen. Sie verweisen vielmehr auf das moralische Gesetz hinsichtlich von Handlungen, bei denen unsere sinnlichen Strebungen mitbeteiligt sind. Kein Wunder, daß die Kritiker von HV, für die der Unterschied von Empfängnisverhütung und periodischer Enthaltsamkeit lediglich eine Methodenfrage darstellt, kaum auf diese Hinweise des Konzils und der Enzyklika (wo sie wiederholte Male vorgebracht werden), eingehen.

[25]Damit ist schon das moralische Sittengesetz ins Spiel gebracht (vgl. I.II, q.91, a.2; auch q.94, a.2), von dem weiter unten nochmals die Rede sein wird.

[26]Die hier unten durchzuführende Analyse wird zeigen, daß bei den Eheleuten, die aus prokreativer Verantwortung die periodische Enthaltsamkeit praktizieren, sowohl der Verkehr an den unfruchtbaren Tagen wie auch die Enthaltung an den fruchtbaren Tagen intentional (und damit real in moralischem Sinn) eheliche Akte sind, Akte nämlich der Sexualität, in denen beide Sinngehalte des ehelichen Aktes vorhanden sind. Daß das Untrennbarkeitsprinzip, das unabdingbare Bedingung jeglicher menschlichen Handlung ist, tatsächlich im ganzen Sexualverhalten der Ehegatten respektiert wird, verdankt sich der Tugend der Keuschheit, die ihr Verhalten prägt.

[27]In dem Sinne „zum Tragen kommt“, daß die Ehegatten mit dem Akt ihre eheliche Liebe vollziehen und ausdrücken wollen. Ob dies in diesem Falle objektiv möglich ist, ist damit nicht gesagt. Denn der konstitutive Sinn eines solchen Aktes hängt nicht allein vom Willen der handelnden Personen ab.

[28]Die Norm im Hinblick auf das Ziel einer verantwortlichen Elternschaft in dem Falle, in dem aus schwerwiegenden Gründen eine (weitere) Empfängnis vermieden werden soll, darf nicht auf die Trennung des prokreativen vom unitiven Sinngehalt abzielen. Diese Norm nämlich auf dem Untrennbarkeitsprinzip, das, wie bereits bewiesen, auch auf der Ebene einzelner ehelicher Akte Gültigkeit besitzt. Das Untrennbarkeitsprinzip seinerseits gründet auf der leib-geistigen Wesenseinheit des Menschen.

[29]So wie wir eine Lungenentzündung mit Antibiotika kurieren. Die pathologischen Prozesse dieser Krankheit sind keine actus humani, keine Akte, die der freien Willensentscheidung unterstehen. Sie können aber durch die medizinische Kunst beherrscht werden, um das „bonum humanum“ der Genesung zu erreichen.

[30]Man kann nur mit Verwunderung im „Gutachten der Mehrheit“ der päpstlichen Kommission für Geburtenregelung lesen, daß die Autoren, nachdem sie die Anwendung kontrazeptiver Mittel gut geheißen haben, behaupten, daß damit „die Tugend der Keuschheit, mit der ein Paar in entschiedener Weise die Praxis der geschlechtlichen Beziehungen regelt, um so mehr gefordert wird“. Dazu bemerken die Verfasser des Minderheitsvotums: „Es ist nicht ersichtlich, welches denn nun die größeren Anforderungen an die Tugend sein sollen, die in dieser neuen Richtung oft behauptet werden“. Die Gutachten der Kommission sind in Herder Korrespondenz 21 (1967) 422–443 abgedruckt. Hierzu 426 und 436.

[31]Mit dieser Behauptung hinsichtlich der desintegrierten Sexualität wird doch nicht jene dualistische Sicht des Menschen heraufbeschworen, die vorher kritisiert wurde. Leib und Geist als komplementäre Prinzipien (Materie und Form) bilden zwar jene Wesenseinheit, die der Mensch ist und die als Prinzip und Träger all seiner Handlungen wirkt. Dies aber schließt nicht aus, daß ihre Dynamismen in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Gemeint ist, allgemein gesagt, die begrenzte bzw. unbegrenzte Tragweite der sinnlichen bzw. geistigen Dynamismen sowohl im Bereich der erkenntnismäßigen als auch im Bereich der begehrenden Tätigkeit. Was die letztere betrifft, so bringt das Versagen der Freiheit im Bereich des geistigen Strebens (Wollens) mit sich, daß die bestehende wesensmäßige humane Dimension der sinnlichen Triebe auf der Ebene der Person im handlungsmäßigen Bereich derselben beeinträchtigt oder sogar zerstört wird. Im letzteren Fall wirkt der nicht integrierte Trieb als selbstbezogen und inhuman.

[32]Vgl. M. Rhonheimer, Abtreibung und Lebensschutz. Tötungsverbot und Recht auf Leben in der politischen und medizinischen Ethik, Paderborn 2004, 22.

[33]Die biologischen Gesetze als Gesetze der Person (HV 10b) können durchaus sittlich relevant sein, aber nicht direkt normativ.

[34]M. Rhonheimer, Natur als Grundlage der Moral, 139.

[35]Ebd., 137.

[36]Vgl. dazu meinen Aufsatz „Die Königsteiner Erklärung 25 Jahre danach“ über das Referat Bischof Lehmanns anläßlich der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 20. September 1993, in: Forum Katholische Theologie 10 (1994) 97–123, sowie auch „Zur Zulassung wiederverheirateter Geschiedener und die Königsteiner Erklärung im ‚Katholischen Erwachsenen Katechismus‘“, Ebd., 12 (1996) 16–35.

[37]Der Berliner Kardinal Bengsch konnte wegen der damaligen Teilung Deutschlands an der Versammlung in Königstein nicht teilnehmen. Die Tendenz des geplanten Schreibens seiner Mitbrüder konnte er aber aus den an die Teilnehmer übersandten Unterlagen – „Zur Würdigung von HV“ und „Entwurf einer Erklärung der deutschen Bischöfe“ – voraussehen. Deswegen verfaßte er zwei Schriftstücke, die an die Teilnehmer der Vollversammlung ausgeteilt werden sollten (was aber nicht geschah!). Zu der hier zitierten Stelle bemerkte er: „Die gewissenhafte Prüfung, die dem Andersdenkenden empfohlen wird, braucht wohl noch andere Kriterien als das hier genannte, ob einer vor Gottes Gericht seinen Standpunkt verantworten kann. Ich fürchte, die Vorstellungen vom Gericht Gottes sind zur Zeit so reparaturbedürftig, daß man fast alles, außer Mord, davor verantworten kann.“ Der Kardinal selbst verfaßte ein eigenes Schreiben „Zur pastoralen Besinnung nach der Enzyklika HV“, das am 9. September 1968 von den Mitgliedern der Berliner Ordinarienkonferenz verabschiedet wurde. Der Text bot den Katholiken in Ostdeutschland eine echte Hilfe, um die Enzyklika zu verstehen und in religiösem Gehorsam anzunehmen. Vgl. Theodor Schmitz, „Kardinal Bengsch und die ‚Königsteiner Erklärung‘“, in: Elmar Güthoff und Karl-Heinz Selge (Hrsg.) Adnotationes in Iure Canonico (Festgabe Franz X. Walter), Fredersdorf, 1994, hierzu S. 45.

[38] Bei der 16. Internationalen Theologischen Sommerakademie in Aigen (Oberösterreich) zum Thema Ehe und Familie hat der Salzburger Weihbischof Andreas Laun zu den „Erklärungen“, die die deutsche und die österreichische Bischofskonferenz nach dem Erscheinen der Enzyklika HV an ihre Gläubigen gerichtet haben, folgendes gesagt: Beide Erklärungen verdienen wegen ihrer „inneren Widersprüchlichkeiten“ die Bezeichnung „Erklärung“ nicht, „zumal sie weniger die Enzyklika erklären als vielmehr andeuten, warum und wie man ihr nicht wirklich gehorchen müsse“ („Die Tagespost“ vom 4. September 2004, S. 5).

[39]Damit leisten die Bischöfe der weitverbreiteten Tendenz Vorschub, den Begriff der Autorität der Kirche als Garantie für die Wahrheit ihrer Verkündigung durch den Begriff der Unfehlbarkeit zu ersetzen – wobei ein formal unfehlbarer Ausspruch des außerordentlichen Lehramts gemeint ist, unter Verkennung der Unfehlbarkeit des magisterium ordinarium et universale, auf das die Enzyklika verweist, indem sie sich auf die Tradition beruft.

[40]Davon sprach Kardinal Meisner in dem bereits zitierten Interview. Der Papst hat dieselbe Bitte in seinem Brief vom 22. Februar 2001 an die neu ernannten deutschen Kardinäle nochmals wiederholt.