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Schmerzliches Mißverständnis im »Fall Galilei« überwunden
Ansprache über Galileo Galilei (31. Oktober 1992)

Johannes Paul II.

Hinweis/Quelle: Original französisch in: L‘Osservatore Romano, 1.11.1992; deutsche Fassung entnommen aus: deutscher L‘Osservatore Romano, 13.11.1992, S. 9–10; Mehr Informationen über Galileo Galilei: The Galileo Project

Meine Herren Kardinäle, Exzellenzen, meine Damen und Herren!

1. Der Abschluß der Vollversammlung der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften bietet mir die willkommene Gelegenheit, ihre ehrenwerten Mitglieder zu treffen in Anwesenheit meiner wichtigsten Mitarbeiter und der Chefs der diplomatischen Missionen, die beim Heiligen Stuhl akkreditiert sind. Allen gilt mein herzlicher Gruß.

Meine Gedanken richten sich in dieser Stunde an Professor Marini-Bettólo, der aus Krankheitsgründen nicht unter uns weilen kann; ich wünsche ihm von Herzen alles Gute für baldige Genesung und versichere ihn meines Gebetes.

Begrüßen möchte ich ferner jene Persönlichkeiten, die zum erstenmal an eurer Akademie teilnehmen; ich danke ihnen, daß sie zugestimmt haben, zu euren Arbeiten mit ihrem Fachwissen beizutragen.

Femer begrüße ich gern den hier anwesenden Professor Adi Shamir, Professor am »Weizmann-Institut der Wissenschaften« in Rehovot (Israel), dem die Akademie die Goldmedaille Pius‘ XI. verliehen hat. Ich spreche ihm zugleich meine herzlichsten Glückwünsche aus.

Auf zwei Themen ist heute unsere Aufmerksamkeit gerichtet. Sie sind eben fachkundig vorgestellt worden, und ich möchte Kardinal Paul Poupard und Pater George Coyne für ihre Darlegungen danken.

I.

2. An erster Stelle möchte ich die Päpstliche Akademie der Wissenschaften dazu beglückwünschen, daß sie auf ihrer Vollversammlung ein ebenso wichtiges wie aktuelles Thema behandeln wollte: nämlich die komplexen Verhältnisse auf den Gebieten der Mathematik, Physik, Chemie und Biologie.

Das Thema der komplexen Verhältnisse bedeutet wahrscheinlich in der Geschichte der Naturwissenschaften einen ebenso wichtigen Abschnitt wie jener, der mit dem Namen Galileo verbunden ist. Damals glaubte man, man müsse ein eindeutiges Ordnungsmodell vorlegen. Die komplexen Verhältnisse weisen aber gerade darauf hin, daß wer den Reichtum der Wirklichkeit berücksichtigen möchte, notwendig eine Vielzahl von Modellen braucht.

Diese Feststellung wirft eine Frage auf, die Naturwissenschaftler, Philosophen und Theologen gleichermaßen anspricht: Wie soll man die Erklärung der Welt – ausgehend von den elementaren Seinsformen und Erscheinungen – mit der Anerkennung der Tatsache verbinden, daß »das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile«?

Will der Wissenschaftler streng und formal die Erfahrungstatsachen beschreiben, ist er gezwungen, auf über die strenge Wissenschaft hinausreichende Begriffe zurückzugreifen, deren Verwendung gleichsam von der Logik seines Vorgehens gefordert ist. Natürlich muß die Natur dieser Begriffe exakt verdeutlicht werden, denn sonst gelangt man zu unangemessenen Grenzüberschreitungen, die die streng wissenschaftlichen Entdeckungen mit einer Weltanschauung oder ideologischen oder philosophischen Aussagen verknüpft, die keineswegs streng dazugehören. Hier wird erneut die Wichtigkeit der Philosophie deutlich, die sowohl die Erscheinungen als auch ihre Deutung in Betracht zieht.

3. Denken wir zum Beispiel an die Erarbeitung neuer wissenschaftlicher Theorien, die das Leben erklären sollen. Streng methodisch darf man sie nicht unmittelbar im einheitlichen Rahmen der Wissenschaft deuten. Zumal wenn man jenes Leben, das der Mensch ist, und sein Gehirn betrachtet, darf man nicht sagen, diese Theorien würden für sich allein schon ein Ja oder Nein zur Geistseele bedeuten, oder auch, sie würden einen Beweis für die Lehre von der Schöpfung bieten oder im Gegenteil sie überflüssig machen.

Das Bemühen um weitere Deutung ist notwendig. Und eben dies ist die Aufgabe der Philosophie: die Suche nach dem globalen Sinn der Erfahrungen und Phänomene, die die Wissenschaften zusammengetragen und analysiert haben.

Die heutige Kultur erfordert ein ständiges Bemühen um eine Synthese der Erkenntnisse und eine Integration des Wissens. Gewiß verdanken wir der Spezialisierung der Forschungen sichtbare Erfolge. Doch wenn sie nicht durch ein aufmerksames Bedenken der verschiedenen Akzente des Wissens im Gleichgewicht gehalten wird, besteht die große Gefahr, eine »Kultur der Bruchstücke« zu erreichen, die tatsächlich einer Leugnung echter Kultur gleichkäme. Echte Kultur ist nämlich ohne Menschlichkeit und Weisheit nicht vorstellbar.

II.

4. Ähnliche Anliegen hatte ich am 10. November 1979 aus Anlaß der ersten Jahrhundertfeier seit der Geburt von Albert Einstein, als ich vor dieser gleichen Akademie den Wunsch aussprach, »daß Theologen, Gelehrte und Historiker, vom Geist ehrlicher Zusammenarbeit beseelt, die Überprüfung des Falles Galilei vertiefen und in aufrichtiger Anerkennung des Unrechts, von welcher Seite es auch immer gekommen sein mag, das Mißtrauen beseitigen, das dieses Ereignis noch immer bei vielen gegen eine fruchtbare Zusammenarbeit von Glaube und Wissenschaft, von Kirche und Welt hervorruft« (AAS 71,1979, S.1464–1465). Am 3. Juli 1981 wurde eine entsprechende Studienkommission eingesetzt. Nun aber, gerade im Jahr, wo der 350. Jahrestag des Todes von Galilei wiederkehrt, legt die Kommission nach Abschluß ihrer Arbeiten eine Reihe von Publikationen vor. Ich möchte Kardinal Poupard meine lebhafte Wertschätzung dafür aussprechen, daß er in der Abschlußphase die Forschungsergebnisse der Kommission koordiniert hat. Allen Fachleuten aber, die irgendwie an den Arbeiten der vier Gruppen dieser die Fächer übergreifenden Studien teilgenommen haben, spreche ich meine tiefe Genugtuung und meinen lebhaften Dank aus. Die in über zehn Jahren geleistete Arbeit entspricht einer vom Zweiten Vatikanischen Konzil erlassenen Weisung und läßt die verschiedenen wichtigen Punkte der Frage besser hervortreten. In Zukunft wird man die Ergebnisse der Kommission berücksichtigen müssen.

Vielleicht wird man sich darüber wundern, daß ich am Ende einer Studienwoche der Akademie zum Thema der Komplexität der verschiedenen Wissenschaften auf den Fall Galilei zurückkomme. Ist dieser Fall denn nicht längst abgeschlossen, und sind die begangenen Irrtümer nicht längst anerkannt?

Gewiß stimmt das. Doch die diesem Fall zugrundeliegenden Probleme betreffen sowohl die Natur der Wissenschaft wie die der Glaubensbotschaft. Es ist daher nicht auszuschließen, daß wir uns eines Tages vor einer analogen Situation befinden, die von beiden Teilen ein waches Bewußtsein vom eigenen Zuständigkeitsbereich und seinen Grenzen erfordern wird. Das Thema der Komplexität könnte dann einen Hinweis liefern.

5. Bei der Auseinandersetzung, in deren Mittelpunkt Galilei stand, ging es um eine doppelte Frage.

Die erste betrifft das Verstehen und die Hermeneutik der Bibel. Hier sind zwei Punkte zu betonen. Vor allem unterscheidet Galilei wie der Großteil seiner Gegner nicht zwischen dem wissenschaftlichen Zugang zu den Naturerscheinungen und der philosophischen Reflexion über die Natur, die sie im allgemeinen erfordern. Daher lehnte er den ihm nahegelegten Hinweis ab, das kopernikanische System bis zu seiner durch unwiderlegliche Beweise erwiesenen Geltung als Hypothese vorzutragen. Das war im übrigen eine Forderung seiner experimentellen Methode, die er genial eingeführt hatte.

Ferner war die geozentrische Darstellung der Welt in der Kultur der Zeit allgemein als vollkommen der Lehre der Bibel entsprechend anerkannt, in der einige Aussagen, wenn man sie wörtlich nahm, den Geozentrismus zu bestätigen schienen. Das Problem, welches sich die Theologen der Zeit stellten, war also die Übereinstimmung des Heliozentrismus mit der Heiligen Schrift.

So zwang die neue Wissenschaft mit ihren Methoden und der Freiheit der Forschung, die sie voraussetzte, die Theologen, sich nach ihren Kriterien für die Deutung der Bibel zu fragen. Dem Großteil gelang dies nicht.

Merkwürdigerweise zeigte sich Galilei als aufrichtig Glaubender in diesem Punkte weitsichtiger als seine theologischen Gegner. Er schreibt an Benedetto Castelli: »Wenn schon die Schrift nicht irren kann, so können doch einige ihrer Erklärer und Deuter in verschiedener Form irren« (Brief vom 21. Dezember 1613, in der »Edizione nazionale delle Opere di Galileo Galilei«, hrsg. von A. FAVARO, Neuausgabe 1968, Band V, S.282). (Im weiteren zitiert als: Werk. Bekannt ist ferner sein Brief an Christina von Lorena, 1615, der einem kleinen Traktat zur Hermeneutik der Bibel gleichkommt, ebd., S.307–348).

6. Schon hier können wir eine Schlußfolgerung ziehen. Wenn eine neue Form des Studiums der Naturerscheinungen auftaucht, wird eine Klärung des Ganzen der Disziplinen des Wissens nötig. Sie nötigt sie zur besseren Abgrenzung ihres eigenen Bereiches, ihrer Zugangsweise und ihrer Methoden, wie auch der genauen Tragweite ihrer Schlußfolgerungen. Mit anderen Worten, dieses Neue verpflichtet jede Disziplin, sich genauer ihrer eigenen Natur bewußt zu werden.

Die vom kopernikanischen System hervorgerufene Umwälzung machte also eine Reflexion darüber notwendig, wie die biblischen Wissenschaften zu verstehen sind, ein Bemühen, das später überreiche Früchte für die modernen exegetischen Arbeiten bringen sollte, die ferner in der Konzilskonstitution Dei Verbum eine Bestätigung und neuen Impuls erhalten haben.

7. Die Krise, die ich eben angedeutet habe, ist nicht der einzige Faktor, der auf die Deutung der Bibel Auswirkungen gehabt hat. Wir berühren hier den zweiten, nämlich pastoralen Aspekt des Problems.

Kraft der ihr eigenen Sendung hat die Kirche die Pflicht, auf die pastoralen Auswirkungen ihrer Predigt zu achten. Vor allem muß klar sein: Diese Predigt muß der Wahrheit entsprechen. Zugleich muß man es verstehen, eine neue wissenschaftliche Tatsache zu berücksichtigen, wenn sie der Wahrheit des Glaubens zu widersprechen scheint. Das pastorale Urteil angesichts der Theorie des Kopernikus war in dem Maße schwierig zu formulieren, wie der Geozentrismus scheinbar selbst zur Lehre der Heiligen Schrift gehörte. Es wäre nötig gewesen, gleichzeitig Denkgewohnheiten zu überwinden und eine neue Pädagogik zu entwickeln, die dem Volk Gottes weiterhelfen konnte. Sagen wir es allgemein: Der Hirte muß wirklich kühn sein und sowohl eine unsichere Haltung, aber auch ein voreiliges Urteil vermeiden, da das eine wie das andere großen Schaden hervorrufen könnte.

8. Hier können wir an eine analoge Krise zu der erinnern, von der wir sprechen. Im vergangenen Jahrhundert und zu Beginn des unseren hat der Fortschritt der historischen Wissenschaften neue Kenntnisse über die Bibel und ihr Umfeld möglich gemacht. Der rationalistische Kontext aber, in dem die Ergebnisse meist dargestellt wurden, konnte sie für den christlichen Glauben schädlich erscheinen lassen. So dachten manche, die den Glauben verteidigen wollten, man müsse ernsthaft begründete historische Schlußfolgerungen abweisen. Das war aber eine voreilige und unglückliche Entscheidung. Das Werk eines Pioniers wie P. Lagrange verstand die notwendigen Unterscheidungen aufgrund sicherer Kriterien anzubieten.

Hier wäre das zu wiederholen, was ich oben gesagt habe. Es ist eine Pflicht der Theologen, sich regelmäßig über die wissenschaftlichen Ergebnisse zu informieren, um eventuell zu prüfen, ob sie diese in ihrer Reflexion berücksichtigen oder ihre Lehre anders formulieren müssen.

9. Wenn die heutige Kultur von einer Tendenz der Wissenschaftsgläubigkeit gekennzeichnet ist, war der kulturelle Horizont der Zeit des Galilei einheitlich und von einer besonderen philosophischen Bildung geprägt. Dieser einheitliche Charakter einer Kultur, der an sich auch heute positiv und wünschenswert wäre, war einer der Gründe für die Verurteilung des Galilei. Die Mehrheit der Theologen vermochte nicht formell zwischen der Heiligen Schrift und ihrer Deutung zu unterscheiden, und das ließ sie eine Frage der wissenschaftlichen Forschung unberechtigterweise auf die Ebene der Glaubenslehre übertragen.

Wie Kardinal Poupard dargelegt hat, war Robert Bellarmin, der die wirkliche Tragweite der Auseinandersetzung erkannt hatte, seinerseits der Auffassung, daß man angesichts eventueller wissenschaftlicher Beweise für das Kreisen der Erde um die Sonne »bei der Erklärung der Schriftstellen, die gegen (eine Bewegung der Erde) zu sprechen scheinen«, sehr vorsichtig sein und »vielmehr sagen müsse, wir möchten das, was bewiesen wird, nicht als falsch hinstellen« (Brief an R.A. Foscarini, 12. April 1615, vgl. zit. Werk, Band XII, S.172). Vor ihm hatte die gleiche Weisheit schon den heiligen Augustinus schreiben lassen: »Wenn jemand die Autorität der Heiligen Schriften gegen einen klaren und sicheren Beweis ausspielen würde, fehlt ihm das Verständnis, und er stellt der Wahrheit nicht den echten Sinn der Schriften entgegen, er hat diesen vielmehr nicht gründlich genug erfaßt und durch sein eigenes Denken ersetzt, also nicht das, was er in den Schriften, sondern das, was er bei sich selber gefunden hat, dargelegt, als ob dies in den Schriften stände« (Brief 143; n.7; PL 33, col 588). Vor einem Jahrhundert hat Papst Leo XIII. diesen Gedanken in seiner Enzyklika Providentissimus Deus aufgegriffen: »Da eine Wahrheit unmöglich einer anderen Wahrheit widersprechen kann, darf man sicher sein, daß ein Irrtum in der Deutung der heiligen Worte oder bei einem anderen Diskussionsgegenstand nur behauptet wurde« (Leonis XIII Pont. Max., Acta, vol. XIII, 1894, S.361).

Kardinal Poupard hat uns ebenfalls dargelegt, daß das Urteil von 1633 nicht unwiderruflich war und die weitergehende Auseinandersetzung erst 1820, und zwar mit dem Imprimatur für das Werk des Kanonikus Settele, geendet hat (vgl. Päpstliche Akademie der Wissenschaften, Copernico, Galilei e la Chiesa, Fine della controversia [1820]. Die Akten des Hl. Offiziums wurden von W. Brandmüller und E.J. Greipl, Florenz, Olschkl, 1992 herausgegeben).

10. Ausgehend vom Zeitalter der Aufklärung bis in unsere Tage hat der Fall Galilei eine Art Mythos gebildet, in dem das dargelegte Bild der Ereignisse von der Wirklichkeit weit entfernt war. In dieser Perspektive war dann der Fall Galilei zum Symbol für die angebliche Ablehnung des wissenschaftlichen Fortschritts durch die Kirche oder des dogmatischen »Obskurantentums« gegen die freie Erforschung der Wahrheit geworden. Dieser Mythos hat in der Kultur eine erhebliche Rolle gespielt und dazu beigetragen, zahlreiche Männer der Wissenschaft in gutem Glauben denken zu lassen, der Geist der Wissenschaft und ihre Ethik der Forschung auf der einen Seite sei mit dem christlichen Glauben auf der anderen Seite unvereinbar. Ein tragisches gegenseitiges Unverständnis wurde als Folge eines grundsätzlichen Gegensatzes von Wissen und Glauben hingestellt. Die durch die jüngeren historischen Forschungen erbrachten Klärungen gestatten uns nun die Feststellung, daß dieses schmerzliche Mißverständnis inzwischen der Vergangenheit angehört.

11. Der Fall Galilei kann uns eine bleibend aktuelle Lehre sein für ähnliche Situationen, die sich heute bieten und in Zukunft ergeben können.

Zur Zeit des Galilei war eine Welt ohne physisch absoluten Bezugspunkt unvorstellbar. Und da der damals bekannte Kosmos sozusagen auf das Sonnensystem beschränkt war, konnte man diesen Bezugspunkt nicht entweder auf die Erde oder auf die Sonne verlegen. Heute hat keiner dieser beiden Bezugspunkte nach Einstein und angesichts der heutigen Kenntnis des Kosmos mehr die Bedeutung von damals. Diese Feststellung betrifft natürlich nicht die Stellungnahme des Galilei in der Auseinandersetzung; sie kann uns aber darauf hinweisen, daß es jenseits zweier einseitiger und gegensätzlicher Ansichten eine umfassendere Sicht gibt, die beide Ansichten einschließt und überwindet.

12. Eine weitere Lehre ist die Tatsache, daß die verschiedenen Wissenschaftszweige unterschiedlicher Methoden bedürfen. Galilei, der praktisch die experimentelle Methode erfunden hat, hat, dank seiner genialen Vorstellungskraft als Physiker und auf verschiedene Gründe gestützt, verstanden, daß nur die Sonne als Zentrum der Welt, wie sie damals bekannt war, also als Planetensystem, infrage kam. Der Irrtum der Theologen von damals bestand dagegen am Festhalten an der Zentralstellung der Erde in der Vorstellung, unsere Kenntnis der Strukturen der physischen Welt wäre irgendwie vom Wortsinn der Heiligen Schrift gefordert. Doch wir müssen uns hier an das berühmte Wort erinnern, das dem Baronius zugeschrieben wird: »Der Heilige Geist wollte uns zeigen, wie wir in den Himmel kommen, nicht wie der Himmel im einzelnen aussieht«. Tatsächlich beschäftigt sich die Bibel nicht mit den Einzelheiten der physischen Welt, deren Kenntnis der Erfahrung und dem Nachdenken des Menschen anvertraut wird. Es gibt also zwei Bereiche des Wissens. Der eine hat seine Quelle in der Offenbarung, der andere aber kann von der Vernunft mit ihren eigenen Kräften entdeckt werden. Zum letzteren Bereich gehören die experimentellen Wissenschaften und die Philosophie. Die Unterscheidung der beiden Wissensbereiche darf aber nicht als Gegensatz verstanden werden. Beide Bereiche sind vielmehr einander durchaus nicht fremd, sie besitzen vielmehr Begegnungspunkte. Dabei gestattet die Methode eines jeden Bereiches, unterschiedliche Aspekte der Wirklichkeit herauszustellen.

III.

13. Eure Akademie führt ihre Arbeiten in dieser Geisteshaltung weiter. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Entwicklung des Wissens gemäß der berechtigten Autonomie der Wissenschaft zu fördern (Gaudium et spes, 36,2), die der Apostolische Stuhl in den Statuten eurer Institution ausdrücklich anerkennt.

Worauf es bei einer wissenschaftlichen oder philosophischen Theorie ankommt, ist ihre Wahrheit, oder sie muß wenigstens solide begründet sein. Zielsetzung eurer Akademie ist es aber gerade, beim derzeitigen Stand der Wissenschaft und auf ihrem eigenen Gebiet das herauszustellen und zur Kenntnis zu bringen, was als gesicherte Wahrheit oder wenigstens als derart wahrscheinlich gelten kann, daß es unklug und unvernünftig wäre, es zurückzuweisen. So lassen sich unnütze Konflikte vermeiden.

Die Ernsthaftigkeit der wissenschaftlichen Information wird daher der beste Beitrag sein, den die Akademie zur exakten Formulierung und Lösung der dringenden Probleme leisten kann, die die Kirche kraft ihrer besonderen Sendung beachten muß: Probleme, die nicht nur die Astronomie, die Physik und Mathematik betreffen, sondern ebenso die relativ neuen Disziplinen der Biologie und der Biogenetik. Viele neuen wissenschaftlichen Entdeckungen und ihre möglichen Anwendungen haben mehr denn je eine direkte Auswirkung auf den Menschen selber, auf sein Denken und Handeln, so daß sie sogar die Grundlagen des Menschlichen selber zu bedrohen scheinen.

14. Für die Menschheit gibt es eine doppelte Form der Entwicklung. Die erste umfaßt die Kultur, die wissenschaftliche Forschung und Technik oder alles das, was zum Horizont des Menschen und der Schöpfung gehört und sich mit eindrucksvoller Schnelligkeit entwickelt. Wenn diese Entwicklung aber dem Menschen nicht rein äußerlich bleiben soll, muß notwendig das Bewußtsein und seine Anwendung entwickelt werden. Die zweite Weise der Entwicklung betrifft alles Tiefere im Menschen, insofern er, die Welt und sich selbst überschreitend, sich dem zuwendet, der der Schöpfer von allem ist. Nur dieser Weg nach oben kann am Ende dem Sein und Tun des Menschen einen Sinn geben, weil er ihn mit seinem Ursprung und Ziel in Verbindung bringt. Auf diesem doppelten horizontalen und vertikalen Weg verwirklicht sich der Mensch voll als geistiges Wesen und homo sapiens. Zu bedenken ist freilich, daß diese Entwicklung nicht einförmig und geradlinig erfolgt und der Fortschritt nicht immer harmonisch bleibt. Dies macht die Unordnung deutlich, die zur Situation des Menschen gehört. Der Wissenschaftler, der diese doppelte Entwicklung zur Kenntnis nimmt und berücksichtigt, trägt zur Wiederherstellung der Harmonie bei.

Wer sich der wissenschaftlichen und technischen Forschung widmet, nimmt als Voraussetzung seines Weges an, daß die Welt kein Chaos, sondern ein Kosmos ist, daß es also innerhalb der Naturgesetze eine Ordnung gibt, die sich erkennen und denken läßt und die deshalb eine gewisse Verwandtschaft zum Geist aufweist. Einstein pflegte zu sagen: »Was es in der Welt an ewig Unverständlichem gibt, setzt voraus, daß es verständlich ist« (In »The Journal of the Franklin Institute«, Band 221, n.3, März 1936). Diese Verständlichkeit, die von den atemberaubenden Entdeckungen der Wissenschaft und Technik bestätigt wird, verweist am Ende auf den transzendenten und ursprünglichen Gedanken, der allem Sein eingeprägt ist.

Meine Damen und Herren, zum Abschluß dieser Begegnung spreche ich meine besten Wünsche aus, daß Ihre Forschungen und Überlegungen dazu beitragen, unseren Zeitgenossen nützliche Hinweise für den Aufbau einer harmonischen Gesellschaft zu geben in einer Welt, die das Menschliche mehr achtet. Ich danke Ihnen für die Dienste, die Sie dem Heiligen Stuhl leisten, und ich bitte Gott, er möge Sie mit seinen Gaben erfüllen.