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Zur Seligsprechung Papst Pius
Er hinterließ eine innerlich gefestigte Kirche (2. September 2000)

Walter Kardinal Brandmüller

Es ist erstaunlich, welches Echo die Absicht Papst Johannes Pauls II., seinen Vorgänger Pius IX. an diesem Sonntag in die Zahl der Seligen der Kirche aufzunehmen, in Deutschland hervorgerufen hat. Schon im Mai hatte Rudolf Lill, Professor für neuere und neueste Geschichte in Karlsruhe, dagegen Protest erhoben. Sein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in welchem dies geschah, glich freilich einem Rundumschlag, es fehlte dabei nicht an Verzerrungen, Fehleinschätzungen und vor allem Auslassungen.

Mehr Gewicht beansprucht eine einstimmige Erklärung der Arbeitsgemeinschaft der Kirchenhistoriker des deutschen Sprachraumes, die sich – offenbar mit Berufung auf ihre Fachkompetenz – zum Sprachrohr des Protestes macht.

Indes ist es gerade diese Einstimmigkeit, die zu denken gibt, ist sie doch mit dem sprichwörtlichen Individualismus von Professoren schwer in Einklang zu bringen. Kaum vorstellbar, dass die Innsbrucker Erklärung vom 13. Juni 2000 Ergebnis einer gelehrten Auseinandersetzung über das Pro und Contra war, kaum vorstellbar, dass da keiner widersprochen hat! Da der Prozess für Pius IX. schon bald nach seinem Tod eröffnet wurde und länger als ein Jahrhundert gedauert hat, kann man auch fragen, warum erst jetzt eine solche Stellungnahme erfolgt, von der doch niemand im Ernst erwarten kann, dass sie irgendwelchen Erfolg haben könnte.

In dieser Erklärung, deren Sprache sich durch Emotionalität anstatt durch Sachlichkeit auszeichnet, wird Pius IX. „völliger Verzicht auf nüchterne Zeitanalyse und geduldige Differenzierung“ vorgeworfen. Damit sei ein Mangel an der „Tugend der Klugheit“ offenkundig, der so gravierend sei, dass er einer Seligsprechung im Wege stehe, die deshalb ein „Zerrbild von Heiligkeit“ fördere, „das menschlich unglaubwürdig ist“.

Der Vorwurf ist schwerwiegend. Er bezieht sich zweifellos auf die Verurteilung zahlreicher zeitgenössischer Irrtümer durch die Enzyklika „Quanta cura“ und den an diese angehängten „Syllabus errorum“ von 1864, die seit ihrem Erscheinen die liberale Welt in Empörung versetzen. Die Frage ist indes, ob der genannte Vorwurf berechtigt ist.

Der Syllabus – achtzig Sätze zum Schutz der Kirche

Nun kann hier keine Einzelinterpretation des Syllabus geboten werden – das machen schon seine achtzig Sätze beziehungsweise Thesen unmöglich. Nur soviel sei gesagt: Pantheismus, Naturalismus (das heißt Ignorierung von göttlicher Offenbarung und Erlösung) und Rationalismus in seinen verschiedenen Nuancen musste jeder Papst verurteilen. Es sind Auffassungen, die die Grundlagen des christlichen Glaubens leugnen. Und wer darf sich darüber wundern, dass Pius IX. sich gegen Sozialismus und Kommunismus wendet – übrigens zwei Jahre vor dem Kommunistischen Manifest von Karl Marx? „Geheime Gesellschaften“, das ist im Wesentlichen die Freimaurerei, werden abgelehnt – damals wie heute zu Recht. Dass auch die „Bibelgesellschaften“ protestantischer Provenienz der Verurteilung verfallen, hatte seinen Grund darin, dass ihre Bibelübersetzungen oft von anti-katholischer Polemik bestimmt waren und außerdem den protestantischen Bibelkanon zugrunde legten. Dass es auch protestantischerseits an Kritik daran nicht fehlte, sei nur erwähnt.

Natürlich verfällt auch der Indifferentismus, der die Existenz einer verbindlichen Wahrheit und damit die Ausschließlichkeit des katholischen Glaubens nicht anerkennt, dem päpstlichen Urteil. Auch nehmen jene Auffassungen unter den verurteilten Sätzen breiten Raum ein, die in vielfacher Weise die Unabhängigkeit der Kirche vom Staat einschränken und sie in ihren Lebensäußerungen dem liberalen Staat unterordnen wollten. Darunter fällt ein damals wie heute aktueller Satz: „Es können nationale Kirchen eingerichtet werden, die der Autorität des Römischen Bischofs entzogen und gänzlich von ihr getrennt sind“. Die gleiche Stoßrichtung weist die Verurteilung des Nationalismus auf, der hier gemeinte Satz meint, dass im Interesse des Vaterlandes lobenswerterweise selbst Eide gebrochen und Verbrechen verübt werden könnten. Das spätere Nazi-Axiom „Gut ist, was dem Volke nützt“ war schon fünfzig Jahre lang förmlich verurteilt, bevor es Nazi-Ideologen formulierten.

Nicht weniger wird in einer Reihe von Verurteilungen die Sakramentalität der Ehe und das aus ihr folgende Recht der Kirche auf eine adäquate Ehegesetzgebung verteidigt. Zeitbedingt sodann die Betonung des Rechtes des Papstes auf weltliche Souveränität.

Der falsche Fortschritt, vor dem der Papst warnte

Was aber insbesondere den Zorn der liberalen Welt von damals ebenso wie heutige Missdeutungen hervorgerufen hat, ist die Verurteilung der Religionsfreiheit, wenn der Satz als irrig bezeichnet wird, es sei lobenswert, wenn nichtkatholischen Einwanderern in katholische Länder Kultfreiheit gewährt werde. Um dies richtig zu verstehen, muss man aber jenes philosophisch-theologische Instrumentar anwenden, das die Verfasser des Syllabus voraussetzen. Dann aber heißt das, dass nicht das konträre, sondern das kontradiktorische Gegenteil des verurteilten Satzes die gemeinte Wahrheit ist. Der Papst sagt also nicht, die Gewährung der Kultfreiheit sei „tadelnswert“ – das wäre das konträre Gegenteil von „lobenswert“! Vielmehr meint der Papst, diese Gewährung sei „nicht lobenswert“, das heißt in concreto, man nimmt es nicht mit Befriedigung, sondern mit Bedauern hin, dass andere nach katholischem Verständnis irrige Kulte geduldet werden müssen. Eine solche Haltung kann nur kritisieren, wer den Indifferentismus beziehungsweise Relativismus zum Standpunkt gewählt hat.

Zu guter Letzt verfällt auch noch der Satz der Zensur, der Papst könne und solle sich mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und mit der modernen Kultur versöhnen und anfreunden. Da nun kommt ein weiteres Interpretationsprinzip ins Spiel. Jeder der achtzig Sätze des Syllabus ist einer früheren päpstlichen Ansprache, Enzyklika oder ähnlichem entnommen und infolgedessen im Kontext dieser Ansprache zu interpretieren, aus der sich zudem der konkrete Zusammenhang und damit die Aussageabsicht des Satzes ergeben.

Damit ist auf einmnal klar, dass es sich bei dem „Fortschritt“, mit dem sich zu versöhnen dem Papst unmöglich ist, das ganze Szenario der piemontesischen Politik der Unterdrückung der Kirche, ihrer Klöster, Schulen, Caritas-Anstalten und so weiter handelt. Bezeichnend aber die Reaktion der liberalen Bourgeoisie: Der Papst sei gegen Gasbeleuchtung und Eisenbahn.

Was in der Tat verurteilt wird, sind – vom Kommunismus bis zum Nationalismus und Totalitarismus – alle jene -ismen, denen die Menschheit die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts verdankt.

Pointiert bemerkte E.E.Y. Hales: „Wenige denkende Menschen glaubten um 1900, dass er (Pius IX.) recht gehabt habe. Es schien notwendig zu sein, Entschuldigungen für den Syllabus zu finden – noch besser; ihn ganz zu vergessen. Aber wir Heutigen, die wir den Kindern des europäischen Liberalismus und der Revolution begegnet sind, die wir erlebt haben, wie aus Mazzini Mussolini, aus Herder Hitler und aus den ersten idealistischen Sozialisten die unerbittlichen Kommunisten wurden, können jetzt von einer erhöhten Warte aus nochmals überdenken, ob Pius IX. oder die optimistischen Anhänger eines unfehlbaren Fortschritts ... recht behalten haben.“ Es ist schlechterdings unverständlich, wie man da Pius IX. einen „völligen Verzicht auf nüchterne Zeitanalyse“ vorwerfen kann.

Wenn alsdann Daniel Deckers seinen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 26. Mai „Klagen über die Moderne“ überschreibt, so ist damit eine weitere Pius IX. zur Last gelegte „Fehlhaltung“ genannt. „Abgrenzung der Kirche von der Moderne“ meint er, andere haben gesagt, der Papst habe die Kirche ins Ghetto geführt, innerhalb der Kirche sei unter seinem Pontifikat eine „Ghettomentalität“ entstanden. Nun müsste man allerdings fragen, was das denn für eine „Moderne“ gewesen ist, von der der Papst die Kirche abgegrenzt hat. Damit ist aber weder Gasbeleuchtung und Eisenbahn, auch nicht Asepsis und Narkose gemeint. Wohl aber jener heutzutage kaum mehr begreifbare Fortschrittsenthusiasmus, der den technisch-industriellen Fortschritt beflügelt und verabsolutiert hat. Vor allem aber war die intellektuelle Szene von atheistischen Autoren wie Ludwig Feuerbach, Auguste Comte und Pierre Joseph Proudhon bestimmt – und 1855 war Ludwig Büchners „Kraft und Stoff“, die Bibel des Vulgärmaterialismus, erschienen.

Von der sittlichen Verpflichtung gegenüber der Wahrheit

Als 1864 der Syllabus veröffentlicht wurde, hatte Ernst Haeckel bereits (1863) sein „Dogma“ von der Abstammung des Menschen vom Affen verkündet, und im gleichen Jahr war Ernst Renans „Leben Jesu“ erschienen, das in Generationen von „Gebildeten“ den christlichen Glauben zerstörte. Das also – lassen wir einmal Kunst und Literatur beiseite – war die Moderne. Und ihr hätte ein Papst die Kirche öffnen sollen? Dass Pius IX. das hellsichtig und weitsichtig nicht getan hat, ist zweifellos einer der Gründe für seine Seligsprechung.

Was für ein „Signal“ – fragen alsdann die deutschen Kirchenhistoriker – gibt nun diese Seligsprechung für die Kirche? Es könne sich dabei doch „nur um eine Desavouierung all der Erklärungen und Bekenntnisse handeln, die das Zweite Vatikanische Konzil und Johannes Paul II. zu den Menschenrechten, zur Ökumene und zum Verhältnis Kirche und Juden gegeben haben“. Natürlich ist hier die Religionsfreiheit gemeint, und die Innsbrucker Kirchenhistoriker stellen diesbezüglich – wie dies auch die Anhänger von Lefebvre tun – einen Gegensatz zwischen Syllabus und Zweitem Vatikanum fest. Beide in verschiedener Absicht, versteht sich, und beide zu Unrecht. Man muss sich die Mühe machen zu fragen, was denn hier jeweils unter „Religions-“ beziehungsweise „Gewissensfreiheit“ verstanden wird. Auch Wörter und Begriffe haben ihre Bedeutungsgeschichte. Für Pius IX. geht es, wenn von Religionsfreiheit die Rede ist, im Wesentlichen darum, ob neben der von Gott geoffenbarten Wahrheit und der von ihm gestifteten Kirche der objektive Irrtum gleichberechtigt existieren dürfe. Sein Widerpart war dabei der Liberalismus, der nicht daran dachte, eine sittliche Verpflichtung des Menschen gegenüber der geoffenbarten Wahrheit anzuerkennen. Eine solche Verpflichtung lehrt jedoch auch das Zweite Vatikanum. „Da nun die religiöse Freiheit, welche die Menschen zur Erfüllung der pflichtgemäßen Gottesverehrung (!) beanspruchen, sich auf die Freiheit von Zwang in der staatlichen Gesellschaft bezieht, lässt sie die überlieferte katholische Lehre von der moralischen Pflicht der Menschen und der Gesellschaften gegenüber der wahren Religion und der einzigen Kirche Christi unangetastet“ (DH 2).

Der Anspruch der Kirche und die „political correctness“

Wo also liegt hier ein Widerspruch? Wenn ein Widerspruch auszumachen ist, dann zwischen dem Anspruch der katholischen Kirche, die einzige von Jesus Christus gestiftete Kirche und Bewahrerin der göttlichen Offenbarung zu sein, und der heute „gültigen“ political correctness, die einen solchen Wahrheitsanspruch von vornherein geradezu als unsittlich perhorresziert.

Erstaunen erregt es sodann, wenn in der Seligsprechung Pius’ IX., der sich der Einigung Italiens widersetzt hat, „ein Schlag gegen den italienischen Staat“ erblickt wird, der neue Polarisierungen in die italienische Gesellschaft hineintragen und Wunden wieder aufreißen“ würde, die nach den Lateranverträgen von 1929 geheilt schienen. Davon abgesehen, dass eine solche Äußerung krasse Unkenntnis der italienischen Verhältnisse verrät, fällt der Vorwurf an Rom, man habe dort die neuesten kirchenhistorischen Forschungen ignoriert, auf seine Autoren selbst zurück. Sie meinen damit wohl, dass die einseitige Sicht des Pius-Biographen Pater Giacomo Martina SJ von der Kongregation für die Heiligsprechungen nicht geteilt wurde. Das bedeutet aber doch nicht, dass man Martinas drei Bände dort nicht gelesen hätte. Man durfte aber doch wohl zu einem anderen Urteil als Martina kommen, von dem der Autor eines soeben erschienenen Buches über Pins IX. (De Mattei) sagt, dass die ideologische Strömung, der Martina nahe steht, paradoxerweise die gleiche sei, die Pius IX. verurteilt habe – der liberale Katholizismus. Man sollte also nicht von „Ignorieren“ sprechen.

Andererseits aber ignorieren die deutschen Kirchenhistoriker ihrerseits in der Tat die italienische historische Forschung der letzten Jahre, die das „Risorgimento“, die italienische Einheitsbewegung, gründlich zu entmythologisieren begonnen hat. Die Heroen des „Risorgimento“, deren Marmorbüsten man in Rom auf dem Gianicolo und dem Pincio bestaunen kann, erleben zurzeit ihre Götterdämmerung. Im übrigen hat selbst Giovanni Spadolini, Historiker, Staatsmann und entschiedener Liberaler, schon vor Jahren in Tönen hohen Respekts von Pius IX. gesprochen.

Nun aber zur Judenfeindlichkeit Pius IX., der 1850 das Ghetto wiedererrichtet habe. Davon weiß nicht einmal Pater Martina etwas. Woher wissen es die Kollegen von Innsbruck? Die Ghettomauer war in Wahrheit weder vorher verfallen, noch ist sie wiedererrichtet worden. In der Osternacht 1848 hatte Pius vielmehr die beiden Schranken am Ghetto entfernen lassen und so freien Zu- beziehungsweise Weggang ermöglicht. Er erweiterte die Bürgerrechte der Juden und befreite sie vom bisherigen jährlichen Tribut, er dehnte seine Almosengaben auch auf die Juden aus, und als ein Jude aus Livorno dem Papst aus Dankbarkeit dreißigtausend Scudi schenkte, gab er sie unverzüglich an die Armen des Ghetto weiter. Warum ist in dem Innsbrucker Protest davon nichts zu lesen? Hier wird nicht nur die „neueste Forschung“, sondern Altbekanntes ignoriert.

Der Fall Mortara: Pius IX. hat 1858 den siebenjährigen Edgar Mortara, Kind jüdischer Eltern, diesen wegnehmen und christlich erziehen lassen, nachdem es aufgekommen war, dass das christliche Dienstmädchen der Familie den in Todesgefahr befindlichen Säugling heimlich getauft hatte. Der Junge, um den sich der Papst persönlich kümmerte, wurde Priester und legte im Seligsprechungsprozess für Pins IX. ein dankbares Zeugnis ab.

Antijüdische Haltung Pius‘ IX.? Widerspruch zur Einstellung Johannes Pauls II. zu den Juden? Wenden wir diese Methode, Handlungen der Vergangenheit an den Maßstäben der Gegenwart zu messen, auch auf andere Fälle an, dann kommen wir allerdings zu interessanten Ergebnissen! Dann etwa müssten wir den Apostel Paulus auf die Anklagebank setzen, hat er sich doch eindeutig positiv zur Sklaverei geäußert und einen entlaufenen Sklaven zu seinem Herrn zurückgeschickt! Nur, mit historischer Wissenschaft hat das dann nichts mehr zu tun.

Bemerkenswert und zugleich bezeichnend für die Argumentationsnot der Verfasser des genannten Protestes ist es auch, wenn sie alsdann den im Lauf einer stürmischen Unterredung mit Kardinal Guidi gefallenen Ausspruch des Papstes „la tradizione sono io“ (die Tradition bin ich) dramatisierend geradezu in den Rang einer dogmatischen Definition erheben, um darin „eine der beschämendsten Seiten seines Pontifikats“ erblicken zu können. Klio schüttelt das Haupt – mehr ist dazu nicht zu sagen.

Viel zu sagen ist jedoch, und noch weit mehr als hier auch nur angedeutet werden kann, über die wahre Größe und Bedeutung Pius’ IX. – Dinge, die seinen Kritikern der Erwähnung nicht wert erscheinen. Lassen wir nur den im übrigen Pius IX. gegenüber eher kritischen Löwener Professor Roger Aubert zu Wort kommen. Er meint, Pius IX. habe durch seine Enzykliken bei jeder Gelegenheit die Prinzipien für eine christliche Gestaltung der Gesellschaft in Erinnerung gerufen. Die Definition der Unbefleckten Empfängnis Mariens habe eine neue Blüte der Marienverehrung bewirkt, und das Erste Vatikanische Konzil habe durch seine Konstitution „Dei Filius“ die letzten Spuren des naturalistischen Deismus der Aufklärung zu überwinden versucht. Durch diese Konstitution sei auch das katholische Denken wieder klar auf die in der Offenbarung gegebenen Grundlagen zurückgeführt worden. Schließlich würdigt Aubert die Bemühungen des persönlich sehr frommen Papstes um die Vertiefung des religiösen Lebens und meint: „Das hervorstechendste Ergebnis des langen Pontifikats ist zweifellos das Aufblühen der Volksfrömmigkeit und der priesterlichen Spiritualität in der ganzen Kirche“.

Eine Seligsprechung, die Positionen in Frage stellt?

Bedenkt man, dass in diesem Pontifikat mehr als 150 Ordensgemeinschaften bestätigt wurden, die sich der Mission, der Jugenderziehung und der Krankenpflege, der Waisen-, Armen- und Altenfürsorge widmeten, dann fragt man sich, wie ein Autor unserer Zeit behaupten kann, in diesem Pontifikat habe eine „stickige Atmosphäre“ geherrscht. Anscheinend hat man dem Papst nicht verziehen, dass er einige deutsche Professoren zur Ordnung gerufen hat. Am Ende – so wiederum Aubert – habe der Papst eine innerlich gefestigte Kirche hinterlassen. Dies war das Ergebnis einer päpstlichen Pastoral, in welcher Gott, die Gnade, das Heil der Seelen, unbestrittenen Vorrang hatten.

Zugleich mit Pius IX. soll nun auch Johannes XXIII. zur Ehre der Altäre erhoben werden. Lassen wir die Spekulationen beiseite, die sich an diese Gleichzeitigkeit anschließen. Eines ist gewiss: Von einem Gegensatz zwischen beiden Päpsten ist nichts zu sehen. Vielmehr hat der Roncalli-Papst seinen Vorgänger bewundert und verehrt, ja seine Seligsprechung mit Nachdruck betrieben. Davon berichtet ein ausführlicher Artikel aus der Feder von Erzbischof Loris Capovilla, der lange Jahre Sekretär Roncallis war (30 Giorni 7/8, 2000). Da lesen wir etwa in den Exerzitiennotizen Johannes’ XXIII. von 1959: „Ich denke immer an Pius IX. heiligen und ruhmreichen Angedenkens. Ich wünschte, ihm in seinem Opferleben zu gleichen, und würdig zu sein, seine Heiligsprechung zu feiern.“

Bei einer solchen Sachlage fragt man sich, was für eine Vorstellung die protestierenden Professoren von der Arbeit der Heiligsprechungskongregation haben. Halten sie die mit der Causa Pius‘ IX. befassten Gutachter und Kardinäle für kritikunfähige Dummköpfe oder für rabiate Ideologen, die wider besseres Wissen ihren „Parteibeschluss“ durchgesetzt haben? Sprechen sie den Ärzten der „Consulta medica“ ihren Sachverstand ab, wenn diese eine auf Anrufen Pius’ IX. geschehene augenblickliche Spontanheilung eines Tumors festgestellt, als natürlich nicht erklärbar und damit als Wunder bezeichnet haben? Was also ist es, das so heftigen Protest auszulösen vermochte? Am Ende nicht doch das Gefühl, dass durch diese Seligsprechung die eigene Position in Frage gestellt wird?