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Trauer und Erinnerung - ein Nachruf auf Johannes Paul II.
Der Papst glaubte daran, dass die Geschichte die Geschichte Gottes ist: nämlich die Suche Gottes nach dem Menschen (6. April 2005)

George Weigel

Hinweis/Quelle: Der Artikel erschien am 04.04.2005 in englischer Sprache unter dem Titel „Mourning and Remembrance“ in “The Wall Street Journal”. Die Übersetzung ins Deutsche wurde von Dr. theol. Josef Spindelböck erstellt und mit freundlicher Genehmigung von George Weigel, des „Ethics and Public Policy Centers“ sowie des „Wall Street Journals“ am 06.04.2005 auf www.stjosef.at publiziert. Der Text erschien in der Folge auch in Theologisches (Mai 2005) 283–286.

Einmal beschrieb er seine Gymnasialzeit als eine Zeit, in welcher er „vollständig in Anspruch genommen“ war von seiner Leidenschaft für das Theater. So passte es dazu, dass Karol Jozef Wojtyla ein ganz und gar dramatisches Leben führte. Als junger Mann nahm er das Risiko auf sich, in einem Schnellverfahren abgeurteilt zu werden, da er im geheimen durchgeführte Akte des kulturellen Widerstandes gegenüber der Nazi-Besetzung Polens anführte. Als neu geweihter Priester nahm er einen der Stalin-Zeit entsprechenden „Kampfnamen“ an: „Wujek“ (Onkel), während er Bereiche der intellektuellen und geistlichen Freiheit für die Hochschulstudenten schuf. Diese Studenten, nunmehr selbst ältere Männer und Frauen, nannten ihn bis zuletzt „Wujek“. Als Erzbischof von Krakau kämpfte er erfolgreich gegen den Versuch der kommunistischen Aufseher Polens, das kulturelle Gedächtnis der Nation auszutilgen. Als Papst Johannes Paul II. kam er im Juni 1979 nach Polen zurück; und über neun Tage hinweg, während derer die Geschichte des 20. Jahrhunderts eine Wende erfuhr, fachte er eine Revolution des Gewissens an, welche dazu beitrug, ein Jahrzehnt später den Zusammenbruch des europäischen Kommunismus zu ermöglichen.

Die Welt wird sich an das Drama dieses Lebens in den nächsten Tagen erinnern, wie sie auch die vielen anderen Leistungen Johannes Pauls II. würdigen wird: seine Umformung des Papsttums von einem geschäftsmäßig wahrgenommenen Amt zu einem des Zeugnisses für das Evangelium; seine umfangreiche Lehrtätigkeit, die so gut wie jeden Aspekt des gegenwärtigen Lebens berührt hat; sein beharrliches Streben nach christlicher Einheit; sein Erfolg, die Bemühungen der Clinton-Regierung daran zu hindern, dass „Abtreibung auf Verlangen“ zum grundlegenden Menschenrecht erklärt würde; seine bemerkenswerte Anziehungskraft für junge Menschen; seine bahnbrechenden Initiativen im Hinblick auf das Judentum; seine feste Verteidigung der religiösen Freiheit als des ersten der Menschenrechte.

Und während man sich erinnert, werden bestimmte unvergessliche Bilder wieder aufsteigen: wie der jüngere Papst Kinder in die Luft hebt und der alte Papst sich im Gedenken über die Erinnerungsflamme von Yad Vashem beugt, das Holocaust-Mahnmal von Jerusalem; wie der Papst die Federkrone eines Stammeshäuptlings in Kenia trägt; wie der Papst winkend mit seinem Papstkreuz den sandinistischen Demonstranten in Managua gegenübertritt; wie der Papst Schi fährt; wie der Papst an zahllosen Orten ins Gebet versunken ist; wie der Papst am Grab des ermordeten Solidarnosc-Kaplans Jerzy Popieluszko niederkniet; wie der Papst im Papamobil vor Schmerz zusammenbricht, Sekunden nachdem ihn zwei Schüsse aus einer halbautomatischen 9mm-Waffe getroffen haben; und wie der Papst seinem Beinahe-Mörder in der römischen Gefängniszelle Trost und Mut zuspricht.

Einige werden ihn als hoffnungslos „Konservativen“ in Themen des Glaubens und der Moral verabschieden, obwohl es nicht klar ist, wie die religiöse und sittliche Wahrheit in Begriffen von „liberal“ oder „konservativ“ dargestellt werden kann. Die Schatten, die sich aufgrund von Skandalen im Klerus und des Leitungsversagens einiger Bischöfe auf sein Pontifikat gelegt haben, werden die Aufmerksamkeit anderer in Anspruch nehmen. Johannes Paul II. war der öffentlichste Mensch in der Geschichte, welcher unmittelbar von mehr Männern und Frauen gesehen worden ist als irgendein anderer Mensch, der jemals gelebt hat; bemerkenswert daran ist, dass Millionen jener Menschen, welche ihn nur auf große Entfernung hin wahrnahmen, denken werden, dass sie einen Freund verloren haben. Jene, die ihn näher und vertrauter kannten, empfinden heute ein tiefes Gefühl des Verlustes angesichts des Todes eines Mannes, der so wundervoll, so vollkommen und engagiert menschlich war: ein Mann des Geistes, des Witzes und des Mutes, dessen Menschlichkeit zugleich Integrität und Heiligkeit atmete.

So gibt es viele Weisen, sich an ihn zu erinnern und über ihn zu trauern. Papst Johannes Paul II. sollte jedoch auch als ein Mann in Erinnerung bleiben, der eine durchdringende Sicht für jene Strömungen hatte, welche unterhalb der Oberfläche der Geschichte fließen – Ströme, die tatsächlich die Geschichte hervorbringen, oft auf überraschende Art.

In einem Brief aus dem Jahr 1968 an den französischen Jesuitentheologen Henri de Lubac äußerte der damalige Kardinal Karol Wojtyla die Meinung, dass „eine Erniedrigung, ja eine Auflösung der grundlegenden Einzigartigkeit einer jeden menschlichen Person“ an der Wurzel der traurigen Bilanz des 20. Jahrhunderts stehe: zwei Weltkriege, Auschwitz und der Gulag, ein kalter Krieg mit Androhung einer globalen Katastrophe, Meere von Blut und Berge von Leichen. Wie hatte ein Jahrhundert, das man mit solch großen Hoffnungen für die menschliche Zukunft begonnen hatte, die größten Katastrophen der Menschheit hervorbringen können? Der Grund dafür war nach der Auffassung von Karol Wojtyla, dass der westliche Humanismus aus dem Geleise geraten und dann in Formen der Selbstabsorption und des Selbstzweifels kollabiert war, welche so schwerwiegend waren, dass Männer und Frauen sich zu fragen begannen, ob es denn überhaupt noch eine Wahrheit gäbe, die man in der Welt oder in ihnen selber finden könne.

Diese tiefgehende Krise der Kultur, diese Krise in der Idee des Menschlichen selber, hatte sich in den fortgesetzten Krisen offenbart, welche an der Oberfläche der Zeitgeschichte aufgetreten waren und die jeweils ein Blutbad im Gefolge zurückließen. Aber anders als bei einigen wirklich „konservativen“ Kritikern der späten Neuzeit, war der Gegenvorschlag Wojtylas nicht ein Zurückdrehen der Zeit: Es war vielmehr ein wahrhaftigerer, edlerer Humanismus, der auf der Grundlage der biblischen Überzeugung errichtet war, dass Gott das menschliche Geschöpf nach seinem Bild und Gleichnis gemacht hatte, mit Erkenntnis und freiem Willen, als Geschöpf, das fähig ist, das Gute zu erkennen und es in Freiheit zu wählen. Das war das wirkliche Maß des Menschen – und darauf bestand Johannes Paul II. in einer Vielzahl von Variationen über das eine große Thema –, dass der Mensch in Mitwirkung mit der Gnade Gottes fähig war zu heroischer Tugend.

Eine Idee mit Konsequenzen war hier gegeben, und der Papst brachte sie zur Wirksamkeit angesichts eines breiten Spektrums von Vorgängen.

Eine Variante eines deformierten Humanismus war die Auffassung, dass die Geschichte angetrieben werde durch die Politik des Eigenwillens (die jakobinische Häresie) oder durch die Wirtschaft (die marxistische Häresie). Während seiner heldenhaft anmutenden Pilgerreise nach Polen im Juni 1979 hatte Johannes Paul II. zu einem Zeitpunkt, an dem die Geschichte wie eingefroren und Europa auf Dauer in feindliche Bereiche geteilt erschien, aufgezeigt, dass sich Geschichte doch anders gestaltete, da Menschen nicht nur Nebenprodukte von Politik oder Wirtschaft sind. Er gab seinem Volk dessen authentische Geschichte und Kultur zurück: ihre Identität; und auf diese Weise gab er ihnen Werkzeuge zum Widerstand, welche die kommunistischen Kommandostäbe nicht fassen konnten. Vierzehn Monate nach der Erteilung dieser großartigen Lektion im Hinblick auf Würde beobachtete und leitete der Papst das Hervortreten der Solidarnosc. Und dann begann die ganze Welt zu sehen, wie die kommunistische Flut zurückwich, so wie das langsame Abflauen einer Seuche.

Als sich nach dem Kalten Krieg nicht wenige Beobachter und Politiker in einem Zustand kaum zurückgehaltener Euphorie befanden, indem sie sich ein Goldenes Zeitalter des unvermeidlichen Fortschrittes aufgrund der politischen und ökonomischen Freiheit vorstellten, sah Johannes Paul II. tiefer und klarer. Er entschlüsselte schnell die neuen Bedrohungen für das „unverletzliche Geheimnis der menschlichen Person“, wie er dies im besagten Brief an Pater Lubac aus dem Jahr 1968 benannt hatte, und so widmete er einen großen Teil der 1990-er Jahre der Erklärung dessen, dass die Freiheit, wenn sie sich von der sittlichen Wahrheit nicht eingrenzen lässt, dem Risiko der Selbstvernichtung ausgesetzt ist.

Denn wenn es nur meine Wahrheit und deine Wahrheit gibt und keiner von uns ein transzendentes sittliches Maß anerkennt (nennen wir es „die Wahrheit“), aufgrund dessen unsere Unterschiede beizulegen sind, dann wirst entweder du deine Macht mir gegenüber geltend machen oder ich werde meine Macht dir gegenüber zur Geltung bringen; Nietzsche, der große irrsinnige Prophet des 20. Jahrhunderts, verstand zumindest das richtig. Die Freiheit führt, wenn sie losgelöst ist von der Wahrheit, zu Chaos und daraufhin zu neuen Formen der Tyrannei, lehrte Johannes Paul II. Denn im Angesicht des Chaos oder der Angst wird die rohe Gewalt unerbittlich die Überzeugung, den Kompromiss und die Übereinstimmung als Münze des politischen Bereichs ersetzen. Der falsche Humanismus einer fehlkonstruierten Freiheit nach der Art von „Ich tat es auf meine Weise“ führt unvermeidlich zum Verfall der Freiheit und dann zur Selbstverschlingung der Freiheit. Das war nicht die verbitterte Warnung eines antimodernen Griesgrams; das war der weise Rat eines Mannes, der sein Leben seit 1939 für die Sache der Freiheit hingegeben hatte.

So lag der Schlüssel für das Freiheitsprojekt im 21. Jahrhundert – wie Johannes Paul II. nachdrücklich betonte – im Reich der Kultur: in kraftvollen öffentlichen sittlichen Kulturen, die in der Lage sind, die enormen ökonomischen, politischen, ästhetischen und auch sexuellen Energien zu zügeln und zu lenken, welche in freien Gesellschaften freigesetzt werden. Eine kraftvolle öffentliche sittliche Kultur ist wesentlich für die Demokratie und den Markt, denn nur eine solche Kultur kann die Tugenden einschärfen und bestätigen, welche nötig sind, damit die Freiheit wirksam wird. Die Demokratie und die freie Wirtschaft sind Güter, so lehrte er in seiner Enzyklika „Centesimus annus“ im Jahr 1991. Aber sie sind nicht Maschinen, welche sich selber willig zum Laufen bringen können. Um die freie Gesellschaft aufzubauen, ist es sicher nötig, die Institutionen in rechter Weise zu erhalten. Darüber hinaus hängt jedoch die Zukunft der Freiheit von Männern und Frauen der Tugend ab, die dazu fähig sind, das ursprüngliche Gute zu erkennen und zu wählen.

Das ist der Grund dafür, dass Johannes Paul II. unermüdlich echte Toleranz predigte: nicht die Toleranz der Indifferenz, so als ob Unterschiede über das Gute keine Rolle spielten, sondern die wirkliche Toleranz von Unterschieden, welche innerhalb des Bandes eines tiefen Respekts für die Menschlichkeit des anderen umgesetzt, erforscht und zur Sprache gebracht werden. Viele waren verwirrt darüber, dass dieser Papst, der so kraftvoll die Wahrheiten des katholischen Glaubens verteidigte, über ein Vierteljahrhundert lang zur ersten Ikone der Welt für religiöse Freiheit und eine interreligiöse Gesellschaft werden konnte. Aber auch hier erteilte Johannes Paul II. eine entscheidende Lektion über die Zukunft der Freiheit: Universales Einfühlungsvermögen entsteht durch bestimmte Überzeugungen und nicht unter Ausklammerung dieser. Es gibt keinen Rawl’schen Schleier des Nichtwissens, hinter den sich die Welt zurückziehen könnte, um dann wieder aufzutauchen, gleichsam mit Anstand im Gepäck.

Es gibt nur eine Geschichte. Aber diese Geschichte, so glaubte der Papst, ist die Geschichte der Suche Gottes nach dem Menschen und des Menschen, der denselben Weg nimmt wie Gott. Die Geschichte ist Seine Geschichte. Indem Karol Józef Wojtyla, Johannes Paul II., das glaubte, veränderte er die Geschichte. Die Macht dieses Glaubens setzte Millionen anderer in die Lage, dasselbe zu tun.

George Weigel ist Senior Fellow und Direktor des Programms für „Catholic Studies“ am „Ethics and Public Policy Center“ in Washington. Er ist Autor der Papstbiographie “Witness to Hope: The Biography of Pope John Paul II” (1999), deutsch: „Zeuge der Hoffnung. Johannes Paul II. Eine Biographie“ (2002).