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Kritische Anmerkungen zur angeblich nötigen Revision zentraler Aussagen der kirchlichen Sexualethik

Josef Spindelböck

Hinweis/Quelle: Theologisches 49 (Mai/Juni 2019) 239–244

Anlässlich der Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz wurde 13. März 2019 in Lingen unter dem Titel „Die Frage nach der Zäsur“ ein „Studientag zu übergreifenden Fragen, die sich gegenwärtig stellen“, abgehalten.[1]

Von moraltheologischer Seite wurde die Auffassung vertreten, anlässlich der aktuellen „Missbrauchs-Krise“ sei in Bezug auf die kirchliche Sexualethik „eine  Revision zentraler Aussagen dieser Lehre geboten“ (1). Es gehe darum, „die normativen Kurzschlüsse [zu] vermeiden, denen die lehramtliche Sexualmoral durch die ausnahmslosen Verbote jeder nicht auf die Fortpflanzung hin offenen sexuellen Betätigung innerhalb der Ehe unterliegt“ (4/5). Angezielt wird eine Befreiung der Bedeutungsfülle der menschlichen Sexualität „aus den normativen Fesseln der traditionellen Sexualmoral“ (6). Es handle sich jedoch nicht um „einen vollständigen Bruch mit den Grundüberzeugungen der bisherigen kirchlichen Sexuallehre“ (6).

Diese These stellt eine Herausforderung dar. Es geht demnach nicht bloß um Nachschärfungen in Randbereichen, wie sie tatsächlich immer wieder erfolgt sind, oder um Klärungen in speziellen Anwendungsbereichen, sondern um eine angeblich nötige Revision zentraler Aussagen der kirchlichen Sexualethik. Zu fragen ist: Sollen hier die Fundamente der kirchlichen Sexuallehre in Frage gestellt werden oder geht es um eine erneute Vergewisserung zentraler Inhalte, aus der sich nicht in jedem Fall eine völlige Neuorientierung ergeben muss?

Das eigentlichen Anliegen der kirchlichen Sexualethik neu freizulegen und damit verbundene Werte und Normen in zeitgemäßer Weise zum Ausdruck zu bringen war immerhin auch schon die Intention von Karol Józef Wojtyła in seinem Buch „Liebe und Verantwortung“.[2] Er beabsichtigte durch seine Darstellung, eine echte Vermittlung zwischen der sexuellen und ehelichen Liebe einerseits und der Gottes- und Nächstenliebe andererseits herzustellen, sodass die Einheit und Schönheit der christlichen Berufung in Ehe und Familie neu zum Leuchten kommen sollte. Auch setzte er sich bereits intensiv mit humanwissenschaftlichen Einsichten aus dem Bereich der Sexualität auseinander, ohne der Versuchung zu erliegen, aus dieser Beschreibung und Analyse in unmittelbarer Weise sittliche Werte und Normen abzuleiten.

Es ist daher gerade auf dem Hintergrund dieses Beitrags von Karol Wojtyła und vielen anderen Autoren schwer nachvollziehbar, wenn beklagt wird, der Kirche fehle bis jetzt in diesem Bereich ihrer Lehre „eine konstruktive Aneignung humanwissenschaftlicher Einsichten“, sodass „ihre normativen Postulate an den Erkenntnissen verschiedener Humanwissenschaften über die Sinndimensionen menschlicher Sexualität keinen Rückhalt mehr haben.“ Es gelinge dem kirchlichen Lehramt nicht, „auf einer normativ-sittlichen Ebene deutlich zu machen, warum sich die Einzelaussagen zur vorehelichen und gleichgeschlechtlichen Sexualität, zur künstlichen Empfängnisregelung sowie zur Sexualität nicht-verheirateter Menschen als sinnvolle Entfaltung des Grundprinzips der geordneten Selbstliebe und der Nächstenliebe verstehen lassen“ (2).

Geschichtlich gelte: Die Kirche sei „in ihren lehramtlichen Einzelaussagen zur vor- und außerehelichen sowie zur gleichgeschlechtlichen Sexualität“ sowie in der „negative(n) Bewertung der sexuellen Lust“ und der „Unfähigkeit, diese als eine Quelle menschlicher Daseinsfreude und Lebenslust positiv zu würdigen“, immer noch nicht aus dem Schatten des Augustinus herausgetreten“ (3).

Augustinus hat die Kirche lehrmäßig geprägt wie kaum ein zweiter Kirchenlehrer. Seine Darlegungen sind von großer Bedeutung für die Dogmatik und Moraltheologie. Sie sind bei allem Reichtum ihres Gehaltes gewiss auch nicht frei von Einseitigkeiten.[3] Doch gilt: Die Kirche als solche ist immer größer als ihre Theologen und Lehrer. Sie hat in ihrer Lehre zwar bestimmte Elemente aufgenommen, die auf Augustinus zurückgehen. Dessen Irrtümer hat sie sich aber nicht zu eigen gemacht. Es trifft daher nicht zu, dass die bleibend gültigen normativen Aussagen der Kirche im Hinblick auf eheliche Liebe und Sexualität einfach von einer verengten augustinischen Sichtweise abzuleiten wären. Die Kirche setzt immer das biblische Menschenbild und die in Schrift und Tradition begründete Sichtweise der Ehe als Sakrament voraus; zugleich argumentiert sie schöpfungstheologisch und damit auch naturrechtlich-personal. Sie weiß sich tatsächlich einer nicht vom Menschen erfundenen Lehre verpflichtet. Denn Gott selbst hat die Wesensgesetze der menschlichen Liebe in die Natur der menschlichen Person eingeschrieben und sie in seiner Offenbarung bestätigt und erhellt.[4]

Im diskutierten Referat werden verschiedene Sinndimensionen der Sexualität erwähnt; die gegenwärtige Sexualwissenschaft spreche „von der Lustfunktion, der Beziehungsfunktion, der Identitätsfunktion und der Fortpflanzungsfunktion“ (5). Dies kann und soll vom Standpunkt der kirchlichen Lehre aus durchaus positiv gewürdigt werden. Drei Prinzipien müssten kirchlicherseits in der Sexualethik zur Geltung kommen, wie es weiter heißt: Eigenliebe, Nächstenliebe und soziale Verantwortung (5/6). Auch dies ist der kirchlichen Lehre nicht neu.

Wenn dann aber vertreten wird, es bräuchten diese Sinnwerte nicht in allen Einzelhandlungen realisiert werden, so sind demgegenüber Vorbehalte auszusprechen. Kritisch wäre zu fragen: Geht es um ein subjektives Zurücktreten bestimmter Dimensionen im sexuellen Erleben oder wird der sexuelle Akt, wie er die eheliche Liebe ausdrücken soll, einer seiner wesentlichen Dimensionen beraubt?[5] Im hier analysierten moraltheologischen Referat wird in der Folge eine wesentliche Änderung der bisherigen Lehrposition vorgeschlagen: Künstliche Empfängnisverhütung, Selbstbefriedigung, homosexuelle Akte und vor- bzw. außereheliche sexuelle Akte wären im entsprechenden Gesamtkontext personaler Liebe zu rechtfertigen (6/7). Die Ehe als solche solle Mann und Frau vorbehalten bleiben. Zugleich bedürfe es „einer vorbehaltlosen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften und des Verzichts darauf, die in ihnen gelebte sexuelle Praxis moralisch zu disqualifizieren.“ (7) Der Begründungsansatz einer so verstandenen Moraltheologie sei in einer Beziehungsethik zu suchen und zu finden (8). Als Hauptkriterium gelte es, die „Bindung einer verantwortlichen Gestaltung des sexuellen Lebens an eine tragfähige Liebesbeziehung zwischen den Partnern“ aufrecht zu halten: nicht weniger, aber auch nicht mehr wird verlangt. Damit wird die kirchliche Sexualmoral tatsächlich in wesentlichen Punkten infrage gestellt.

Die Darlegungen stellen im Hinblick auf die Offenheit dieses Begründungsprinzips sowie im Hinblick auf normative Einzelaussagen einen Bruch mit der kirchlichen Morallehre dar. Bestimmte Verhaltensweisen im sexuellen Bereich, die von der Tradition der Kirche als in sich schlecht qualifiziert wurde, erhalten im entsprechenden Kontext eine neue, ja sogar positive Qualität. Kann man aus den referierten Darlegungen schließen, die Existenz in sich schlechter Handlungen werde generell abgelehnt? Das wohl nicht. So wird vermutlich die Anwendung sexueller Gewalt oder die sexuelle Ausnutzung abhängiger oder minderjähriger Personen strikt verurteilt. Es erfolgt aber eine nicht unbedeutende „Umwertung“ der sittlichen Qualifikation bestimmter Handlungsweisen.

Die katholische Morallehre, wie sie vom Lehramt der Kirche verbindlich vorgelegt wird, unterscheidet zwischen normativen Aussagen in objektiver Hinsicht und der jeweiligen subjektiven Verantwortlichkeit für eine bestimmte Tat oder Verhaltensweise. Im Einzelfall kann diese Verantwortlichkeit gemindert oder fast aufgehoben sein.[6] Dennoch wird die Tat als solche damit nicht für sittlich gut erklärt. Von diesem bewährten Schema der Unterscheidung weicht das hier kritisch analysierte Referat ab: Es geht darin ausdrücklich um eine Änderung der normativen Aussagen und damit verbunden um eine grundlegende sittliche Neubewertung bestimmter Verhaltensweisen. Was bisher als objektiv schwer sündhaft galt, soll gemäß dieser „revisionistischen“ Moral erlaubt, ja unter Umständen sogar gut und tugendhaft sein. Man kann sich hier die Frage nicht ersparen: Können sich die Gebote Gottes radikal ändern, wenn sie einmal richtig erkannt und formuliert sind?

Statt die kirchliche Morallehre in ihren Grundaussagen zur ehelichen Liebe und Sexualität in Frage zu stellen, bietet sich eine Vertiefung an, wie sie das kirchliche Lehramt selbst anregt und vornimmt. Der qualifizierte Beitrag der Theologen und Philosophen ist hier nötig. Insbesondere die „Theologie des Leibes“ kann ein Potential entfalten, das im deutschsprachigen Raum noch zu wenig Beachtung gefunden hat.[7] Im besagten Referat heißt es zwar, diese Form der Theologie sei zu negativ, denn es sei „die Warnung vorherrschend, die Ehepartner sollten sich nicht als Objekte ihres sexuellen Verlangens missbrauchen.“ (4) Wer aber die ethische Studie „Liebe und Verantwortung“ aufmerksam liest, erkennt, dass diese „negative“ Formulierung nur dem Schutz der Person und ihrer Würde und insbesondere der personalen Liebe dient. Nach oben hin ist gerade in einer tugendethischen Perspektive der Reifung der Liebe und ihrem Wachstum keine Grenze gesetzt.

Papst Benedikt XVI. und Papst Franziskus haben in der Linie, wie sie das 2. Vatikanische Konzil und in der Folge Paul VI. sowie Johannes Paul II. aufgezeigt haben, die kirchliche Lehre weiterentwickelt. Die Lehrinhalte dieses bewährten Wegs gilt es sich anzueignen und weiterzugeben: theologisch, katechetisch und pastoral sowie im konkreten Leben der Gläubigen. Dies ist dann wirklich ein Beitrag zur Erneuerung der Kirche!

 

[1] Die deutschen Bischöfe berieten bei ihrer Versammlung über Konsequenzen aus der MHG-Studie („Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“). Als Referenten waren die Professoren Julia Knop (Dogmatik), Philipp Müller (Pastoraltheologie), Gregor Maria Hoff (Fundamentaltheologie) und Eberhard Schockenhoff (Moraltheologie) geladen. Im Folgenden geht es ausschließlich um eine Analyse des moraltheologischen Beitrags, dessen Text sich online abrufen lässt unter https://dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2019/2019–038d-FVV-Lingen-Studientag-Vortrag-Prof.-Schockenhoff.pdf .

[2] Vgl. Karol Wojtyła, Liebe und Verantwortung. Eine ethische Studie. Auf der Grundlage des polnischen Textes neu übersetzt und herausgegeben von Josef Spindelböck, Kleinhain 20102. Zur inhaltlichen Erschließung vgl. Josef Spindelböck, Theologie des Leibes kurzgefasst. Eine Lesehilfe zu „Liebe und Verantwortung“ von Karol Wojtyła sowie zu den Katechesen Johannes Pauls II. über die menschliche Liebe, Kleinhain 20172.

[3] Gewisse Einseitigkeiten, die Augustinus vertreten hat, werden im hier diskutierten Referat zutreffend dargestellt und kritisch beleuchtet, so die sog. Exkusationstheorie, wonach die sexuelle Vereinigung von Mann und Frau (und vor allem die damit verbundene Lust) primär ein Übel sei, das aber im Kontext der ehelichen Güter (proles, fides, sacramentum – Kind, Treue, sakramentale Unauflöslichkeit) „entschuldigt“ bzw. gerechtfertigt werden könne. Auf andere Aspekte kann hier nicht eingegangen werden. Es sei aber davor gewarnt, sich mit einer holzschnittartigen Darstellung der komplexen Ehelehre des hl. Augustinus zu begnügen. Unterschiedlich sind seine Formulierungen und Akzentuierungen, je nachdem, wer seine Zielgruppe ist.

[4] Mit diesem Hinweis auf den lehrmäßigen Aspekt der göttlichen Offenbarung soll keine Festlegung auf ein instruktionstheoretisches Offenbarungsverständnis im Gegensatz zu einem kommunikativen erfolgen. Beides gehört zusammen: Offenbarung ist wesentlich Selbstmitteilung Gottes und seiner Liebe; sie vollzieht sich aber im Wort (Logos) und erhebt von daher auch Anspruch auf inhaltliche Wahrheit „in rebus fidei et morum“. Das 2. Vatikanische Konzil führt in „Dignitatis humanae“, Nr. 14, aus: „Bei ihrer Gewissensbildung müssen jedoch die Christgläubigen die heilige und sichere Lehre der Kirche sorgfältig vor Augen haben. Denn nach dem Willen Christi ist die katholische Kirche die Lehrerin der Wahrheit; ihre Aufgabe ist es, die Wahrheit, die Christus ist, zu verkündigen und authentisch zu lehren, zugleich auch die Prinzipien der sittlichen Ordnung, die aus dem Wesen des Menschen selbst hervorgehen, autoritativ zu erklären und zu bestätigen.“

[5] Vgl. Josef Spindelböck, Die Sinngehalte der liebenden Vereinigung und der Weitergabe des Lebens. Eine moraltheologische Reflexion anlässlich des 50-JahrJubiläums von Humanae vitae, in: Studia Moralia 56/2 (2018) 277–294.

[6] Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 1735 und 2352.

[7] Vgl. Thomas Maria Rimmel, Die Theologie des Leibes von Papst Johannes Paul II.: Philosophische und theologische Grundlagen, St. Ottilien 2014; Stefan Endriß, Ehe als Schule der Heiligkeit. Die Mittwochskatechesen Johannes Pauls II. (1979–1984) und ihr Beitrag zur Sexualethik, St. Ottilien 2019. Vom 28.-30.06.2019 wird in Rolduc (Niederlande) ein internationales Symposion zur Theologie des Leibes veranstaltet: “Defending and Promoting Human Dignity in a Secular Age“; siehe http://www.tobsymposium.org/en . Vom 22.-24.11.2019 findet an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt die 4. Internationale Tagung zur Theologie des Leibes statt. Sie steht unter dem Leitthema: „Kann man so lieben? Das Leben als Geschenk und Berufung“; siehe  https://www.kannmansolieben.de .