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Der Staat kann ohne Moral nicht bestehen
Rezension zu Vittorio Hösle: Moral und Politik (1997)

Josef Spindelböck

Hinweis/Quelle: Vittorio Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer Politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, C.H. Beck 1997

Kurz vor der Jahrtausendwende hat Vittorio Hösle, geb. 1960, Professor für Philosophie an der Universität GHS Essen, einen Entwurf zur politischen Philosophie, näherhin zu einer „Politischen Ethik für das 21. Jahrhundert“ vorgelegt. Der Anspruch ist hochgesteckt, die Dringlichkeit eines derartigen Projekts weitgehend unbestritten; ob der Verfasser einlösen kann, was er sich und anderen als Aufgabe stellt, weiß man spätestens nach der Lektüre dieses mit 1216 Seiten (einschließlich Bibliographie, Personen- und Sachregister) nicht gerade bescheiden konzipierten wissenschaftlichen Werks.

Dem Autor ist von vornherein zugute zu halten, daß er den Entwurf einer derartigen Politischen Ethik nicht unterschätzt. Hösle ist sich bewußt: Ohne „Normative Grundlegung“ (I., 23–245) und das Aufzeigen von „Grundlinien einer Theorie des Sozialen“ (II., 247–765) kann das Projekt einer „Politischen Ethik“ (III., 767–1136) nicht geleistet werden. Außerdem muß er sich wegen der Komplexität der Fragestellung einer Methodenvielfalt bedienen: neben der im engeren Sinn philosophischen Weise des Fragens, Analysierens und Wertens ist er auf historische Untersuchungen, auf diverse Sozialwissenschaften und die empirischen Wissenschaften angewiesen.

In gewisser Weise steht der politische Philosoph bezüglich einer Ethik des Politischen vor einer schier unlösbaren Aufgabe (vgl. 769): Er hat gleichsam im Vorfeld eine Grundlagenreflexion (23–245) über die Prinzipien des Seins und des Denkens genauso wie über die normative Begründung ethischer Prinzipien zu leisten; er muß den geistesgeschichtlichen Hintergrund des Problems kennen und soll die damit befaßten Wissenschaften in ihrem Anspruch, ihrer Methode und ihrem Zueinander einer kritischen Analyse und Bewertung unterziehen, um dann den eigentlichen Ort ethisch-philosophischer Fragestellung im Raum des Politischen zu erarbeiten.

Wenn der politische Ethiker in der Folge die „Grundlinien einer Theorie des Sozialen“ (247–765) aufzuzeigen versucht, wird er an anthropologischen Fragestellungen nicht vorbeikommen (249 ff) und insbesondere das Wesen und die Phänomenologie der Macht in den diversen Machtformen (390 ff) eingehend zu analysieren haben. Ohne einen klaren Begriff des Staates und eine Kenntnis seiner Entwicklungsgeschichte bis hin zur Gegenwart (545 ff) kann er dem Anspruch einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert nicht gerecht werden.

Hösle hat von Anfang an diesen umfassenden Horizont im Blick, daher liegt die Stärke dieses Buches darin, den Mut zu einer „Vision des Ganzen, von der aus dann weitergearbeitet werden kann“ (19), aufgebracht zu haben. So sind Erkenntnisse über Einzelaspekte gemäß dem jeweiligen Stand einer Wissenschaft prinzipiell revidierbar und erweiterbar. Der Verfasser ist sich auch bewußt, daß vieles nur anfanghaft skizziert werden kann; doch nimmt er dieses Risiko in Kauf, weil Politische Philosophie auf das Handeln ausgerichtet ist, das in ethisch verantwortlicher Weise mit moralischen Gewißheiten und Unwägbarkeiten auskommen muß. Der jeweilige geschichtliche Augenblick verlangt Entscheidungen, die das Gewissen auf der Grundlage normativer Erkenntnisse und Reflexionen zu verantworten hat. Dazu leistet die Politische Ethik einen wesentlichen Beitrag.

Wenn Philosophie die „Liebe zur Weisheit“ ist und an der Möglichkeit der Erkenntnis objektiver Wahrheit festgehalten werden soll, dann huldigt dieses Buch in keiner Hinsicht den skeptischen und agnostischen Beliebigkeiten der Postmoderne. Das Wahrheitsethos des Verfassers weiß sich den bleibenden Erkenntnissen klassischer Autoren wie Plato, Aristoteles, Augustinus und Thomas von Aquin verpflichtet und ist zugleich offen für die Einsichten späterer Denker. Dies wird besonders deutlich in Hösles Plädoyer für eine „universalistische materiale Ethik ..., in der Güter und Werte eine Rolle spielen“ (155 f). Der ethische Formalismus Kants wird in dieser Perspektive gewürdigt (da die Kantische Position „gewisse Grundrechte jedes einzelnen anerkennt, die den Interessen anderer unter keinen Umständen geopfert werden dürfen“, 149 f), aber zugleich durch den „Rückgriff auf eine umfassendere Metaphysik der Natur“ (157) überboten und im Hegelschen Sinne „aufgehoben“ (vgl. 158 f).

Was sind nun die wichtigsten Aussagen und Ergebnisse einer „Politischen Ethik“ im engeren Sinne (767–1136)? Im Kapitel „Der gerechte Staat“ (769 ff) sieht Hösle die eigentliche moralische Aufgabe einer Politischen Ethik darin, „den Staat besser zu machen“, nicht „seine Sphäre zu verlassen“ (776).

Der Verfasser bekennt sich zu einem auf die Vernunft gegründeten materialen Naturrecht (776 ff) „als Inbegriff jener Normen ..., die aus moralischen Gründen mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden dürfen bzw. sogar sollen, sofern dies nicht unzweckmäßig ist“ (777). Bei einem völligen Verzicht auf ein „Naturrecht“ gäbe es keinen Maßstab, der eine sachliche Kritik des positiven Rechts auf der Ebene der Wertrationalität erlauben würde (vgl. 778), und ebenso könnte das Problem der Geltung einer Verfassung nicht anders als zirkulär oder selbstwidersprüchlich gelöst werden (vgl. 899). Das Naturrecht ist als echte Teilmenge des Moralischen zu begreifen, das an sich „ebenso zeitlos“ ist, „wie seine Erkenntnis und Verwirklichung durch die Menschen zeitlich ist“ (781). – Wie sieht die konkrete Entfaltung eines naturrechtlichen Systems aus (vgl. 803 ff)?

Träger von Rechten sind zunächst alle realen Personen, „da sich in jeder von ihnen etwas Absolutes ausdrückt“ (806). Dankbar muß man Hösle auf dem Hintergrund der Situation gesetzlich möglicher und vielfach praktizierter Abtreibung dafür sein, daß er – wenn auch in terminologischer Unschärfe bezüglich des Begriffs von Potentialität[1] – hinsichtlich der Träger von Rechten feststellt, auch „potentielle“ Personen (wie menschliche Kinder, Föten und Embryonen) seien Rechtssubjekte; „ihr Leben sowie ihre körperliche Unversehrtheit sind zu schützen“ (806). Weiters vertritt Hösle die Legitimität bedingter Abwehr- und Leistungsrechte auch zukünftiger Generationen (vgl. 811 ff) und von (nichtpersonalen) Rechten des Organischen (d.h. von Tieren und Pflanzen, vgl. 814). Damit propagiert er einen „ökologischen Staat“, der allerdings nicht auf physiozentrischer Basis konzipiert ist, sondern an der Vorzugsstellung des Lebens von Vernunftwesen gegenüber den anderen Werten festhält (vgl. 816).

Nicht zustimmen können wird man von einer christlich-moraltheologischen Sicht aus der etwas dürftigen Argumentation zugunsten einer „moralisch achtenswerte(n) gleichgeschlechtliche(n) Sexualität“ – nach Ansicht Hösles wegen der nicht streng notwendigen Verbindung von Kinderzeugung und sexueller Hingabe auch innerhalb einer Ehe – und zugunsten einer Zulassung von Ehen unter Gleichgeschlechtlichen „zum Zwecke der Begrenzung der Promiskuität“ (856). Bezüglich der ethisch erlaubten Mittel der Geburtenkontrolle ergibt sich in bezug auf die Kohärenz der Auffassungen Hösles mit der christlichen Lehre eine ähnliche Problematik: Kindestötung, Abtreibung und Nidationshemmer werden abgelehnt, „aber alle anderen Mittel sind moralisch erlaubt, auch irreversible wie die Sterilisation, zumal nach der Geburt des zweiten Kindes“ (862). In einem Extremfall habe die staatliche Gemeinschaft sogar „ein Recht ..., die Eltern zu zwingen, keine weiteren Kinder in die Welt zu setzen“ (ebd.), was aufgrund der Unterordnung des Rechtes auf Fortpflanzung unter das Recht auf Leben als letztes Mittel sogar eine Zwangssterilisation einschließen könne. Diese Standpunkte können von katholischer Seite nicht rezipiert werden.

Bemerkenswert ist Hösles Unterscheidung und Bewertung von Sozial- und Wohlfahrtsstaat: „Der gerechte Staat soll ein Sozialstaat sein, d.h. die absolute Armut und jene Ungleichheiten zu überwinden suchen, die den Markt und die Demokratie gefährden; er braucht aber kein Wohlfahrtsstaat zu sein, wenn damit die Förderung eines ständig steigenden Wohlstandes gemeint ist.“ Eine weitgehende „Gleichgewichtsökonomie“ ist vorzuziehen, sowohl aus ökologischen Gründen als auch wegen der Vermeidung jener inneren Unrast, die „die Suche nach höheren, nicht materiellen Werten erschwert“ (874).

Hösle gelangt auch zu einer positiven Bewertung der Bedeutung und Aufgabe der Religionen für Staat und Gesellschaft sowie für eine internationale Ethik im Dienst des Friedens: „Sie erlauben, die Absolutheit des Sittengesetzes, dessen Teilmenge das Naturrecht ist, zu empfinden, auch wenn es die Aufgabe der Philosophie und der Wissenschaften bleibt, jene Empfindung zu dem System des Vernunftrechts und der zweckmäßigsten Normen zu konkretisieren“ (886). Denn, wie E.W. Böckenförde[2] richtig erkannt hat, lebt gerade der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Somit zeigt die vorliegende Politische Ethik Hösles trotz der Beschränkung auf die philosophische Methode eine grundsätzliche Offenheit für Transzendenz und Religion, auch in den konkreten Ausprägungen einzelner Religionen und Konfessionen. Dieses an sich Selbstverständliche soll im gegenwärtigen Kontext philosophischer Forschung nicht unerwähnt bleiben.

“Gerechte Politik“ (944 ff) erfolgt sowohl in der Innen- wie auch in der Außenpolitik nach moralischen Prinzipien; dieses Ideal zu betonen hat nichts mit Moralisierung der Politik zu tun. Im Bereich der Innenpolitik werden die „Moral der Sittlichkeit“ (947 f; vgl. auch die „Moral der Moralität“, 991 ff) und des positiven Rechts (949 ff) in ihrem Begriff und ihrer Beziehung zueinander dargestellt, bevor nach dem „Subjektiv-Moralischen in unmoralischen Sittlichkeiten“ (952 ff) und nach „grundlegende(n) moralische(n) Aufgaben der Politik innerhalb einer stabilen Sittlichkeit“ (957 ff) sowie „innerhalb von Umbruchszeiten“ (1000 ff) gefragt wird. Unterschiedliche Ergebnisse trotz gemeinsamer sittlicher Prinzipien ergeben sich aufgrund der verschiedenen sachlich-situativen Voraussetzungen bezüglich der „Moral von Rechtsbrüchen innerhalb einer stabilen Sittlichkeit“ (971 ff) und „innerhalb von Umbruchszeiten“ (1004 ff). Hier ist auch der systematische Ort für eine Erörterung des Rechts auf Widerstand gegenüber ungerechter staatlicher Macht.[3] „Moralische Prinzipien der Außenpolitik“ (1007 ff) haben als wichtigstes Ziel den Erhalt des Friedens; doch sind die konkret gebotenen Handlungen zum Teil verschieden in Friedenszeiten (1009 ff) und im Krieg (1022 ff). Trotz des Ziels einer völligen Abschaffung und Ächtung des Krieges durch Errichtung einer gemäß dem Subsidiaritätsprinzip tätigen internationalen Weltautorität mit dem Recht gewaltsamer Sanktionen kann bis zu deren effektiver Verwirklichung der „gerechte Krieg“ (vgl. 1022 ff) im traditionellen Sinn des Begriffes nicht ausgeschlossen werden: „Solange die Völkergemeinschaft z.B. nicht in der Lage ist, die Existenz eines Staates zu garantieren, kann sie ihm nicht das Recht zur Selbstverteidigung und zu den dafür erforderlichen Maßnahmen absprechen“ (1024). Der Maßstab gerechter Verteidigung hat sich bezüglich der Gerechtigkeit der Kriegsgründe (1027 ff), der Kriegsführung (1042 ff) und der Nachkriegspolitik (1054 ff) auszuweisen und zu bewähren.

Ein „Abriß einer Politischen Ethik für das 21. Jahrhundert“ (1056 ff) schließt das Werk ab. Behandelt werden dabei die „Politik internationaler Organisationen“ (Vereinte Nationen, Religionen und Wirtschaft, 1057 ff), sowie Außen- und Innenpolitik (1075 ff bzw. 1101 ff) mit ihren verschiedenen Teilbereichen wie Verteidigungs- und Entwicklungspolitik, Umwelt, Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie Bildungs- und Forschungspolitik. Wer dem Verfasser hier vorwirft, dabei zu detaillierte Rezepte für Auswege aus der gegenwärtigen Krise angeben zu wollen und meint, dies liege nicht mehr in der Kompetenz des Philosophen, wird anerkennen müssen, daß Hösle diese mögliche Angreifbarkeit bewußt riskiert, da er die Philosophie und insbesondere die philosopische Ethik trotz ihres theoretischen Wertes an sich als unablösbar von konkreter Verantwortung im individuellen wie im gesellschaftlichen und politischen Leben versteht. Somit wäre es in höchstem Maße unethisch, „dem heute so reaktiven Subsystem Politik ... eine vernünftige und moralische Prioritätenliste“ (1057) zu verweigern. Detaillierte Umsetzung ist freilich Aufgabe ganz konkreter Politik. Nur ein Schlüsselsatz aus dieser politischen Analyse der Gegenwart: „Die Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten und den Vereinten Nationen ist die Angel, um die sich die Zukunft der Welt dreht“ (1079). Das hat sich in den letzten Wochen und Monaten bezüglich der Alternative einer friedlichen oder gewaltsamen Lösung des Kosovo-Konflikts wieder bewahrheitet.

Das sehr umfangreiche philosophische Werk Hösles zur Politischen Ethik ist in weiten Teilen lesbar und interessant geschrieben. Die damit verbundene Mühe wird belohnt durch eine Schulung der philosophisch-ethischen Reflexion sowie durch Einsichten in neue Zusammenhänge und Horizonte. Die interdisziplinäre Offenheit eröffnet wichtige Perspektiven für alle am Phänomen der Politik interessierten Wissenschaften. Zu hoffen ist, daß wesentliche, in diesem Buch wieder ausgesprochene Einsichten aus dem gemeinsamen ethischen Erbe der Menschheit nicht verloren gehen, sondern in Verantwortung füreinander von möglichst vielen verwirklicht werden. Ideologische Scheuklappen verbieten sich dabei. Insofern treffen sich das Anliegen echter Philosophie auf der Suche nach Wahrheit und der katholische Glaube, der die relative Eigenständigkeit des Wissens gegenüber dem Glauben nicht aufhebt, sondern geradezu fordert und garantiert.[4]

 

 


 

[1] Vgl. zum Personbegriff: C. Breuer, Person von Anfang an? Der Mensch aus der Retorte und die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens, Paderborn 1995.

[2] Vgl. E.-W. Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt/Main 1976, 60.

[3] Vgl. dazu auch J. Spindelböck, Aktives Widerstandsrecht. Die Problematik der sittlichen Legitimität von Gewalt in der Auseinandersetzung mit ungerechter staatlicher Macht. Eine problemgeschichtlich-prinzipielle Darstellung (Moraltheologische Studien, hg. v. J.G. Ziegler mit J. Piegsa, Systematische Abteilung, Bd 20), St. Ottilien 1994.

[4] Vgl. das philosophisch-theologische Vermächtnis von Papst Johannes Paul II. in der Enzyklika „Fides et ratio“ vom 14. Sept. 1998, veröffentlicht am 15. Okt. 1998.