Der Pontifikat Pius’ IX. (6. Juni 2000)
August Franzen/Remigius Bäumer
Hinweis/Quelle: Am 3. September 2000 sprach Papst Johannes Paul II. die Päpste Pius IX. und Johannes XXIII. selig. Dem besseren Verständnis des Pontifikats Pius‘ IX. soll der folgende Abschnitt aus dem Buch „Papstgeschichte. Aktualisierte Neuausgabe“ (Freiburg 1988, 353–367) von August Franzen und Remigius Bäumer dienen.
Das Konklave nach dem Tod Gregors war beherrscht durch die Gegensätze zwischen den „Starren“ und den Liberalen. Bereits nach zwei Tagen wählte man als Kompromißkandidaten Giovanni Conte Mastai-Ferretti: Pius IX. (1846–1878). Er war am 13. Mai 1792 in Senigallia geboren, wurde 1819 Priester und 1827 Erzbischof von Spoleto, 1832 Bischof von Imola. Papst Gregor XVI. ernannte ihn 1840 zum Kardinal. Für das päpstliche Amt brachte Pius IX. gute Voraussetzungen mit: Er war vorbildlich in seiner Lebensführung, verbindlich, fromm, wohltätig und erfüllt von einer unbedingten Hingabe an seine Aufgabe. Der neue Papst schlug sofort einen freieren Kurs ein. Die politischen Gefangenen wurden amnestiert, Rom erhielt eine bürgerliche Gemeindeverfassung und einen Staatsrat. Jeden Donnerstag gab der Papst öffentliche Audienzen.
Die liberalen Ideen und Maßnahmen, die in Italien lebhafte Zustimmung auslösten, brachten Pius IX. bald in Konflikt mit Österreich. Hier verfolgte der österreichische Kanzler Fürst Metternich den neuen Kurs des Papstes mit Mißtrauen. Als Österreich im Juli 1847 die Besatzungstruppen in Ferrara, die es dort aufgrund der Wiener Verträge halten durfte, um 900 Mann verstärkte, protestierte der Papst, der daraufhin als Nationalheld gefeiert wurde.
Man rief zum Widerstand gegen Österreich auf, und die italienische Einheitsbewegung erhielt neue Impulse. Der italienische Nationalist Mazzini forderte Pius IX. auf, sich an die Spitze der nationalen Bewegung zu stellen, sonst würde das italienische Volk sich vom Kreuze losreißen und seine eigenen Wege gehen.
Die Forderungen der Radikalen in Italien wurden immer weitgehender. Sie versuchten den Papst zum Werkzeug ihrer nationalen Anliegen zu machen. Am 1. Januar 1848 wollte man dem Papst 34 Forderungen des Volkes (u. a. Pressefreiheit, Bewaffnung der Bürgerwehr, Entfernung der Jesuiten) überreichen. Als der Papst bei diesem Anlaß nicht erschien, revoltierte die Menge. Der Papst wagte noch am folgenden Tage, sich dem Volke zu zeigen, und fuhr durch den Korso zum Quirinal.
Die revolutionäre Bewegung, die ganz Europa erfaßte, machte auch vor dem Kirchenstaat keinen Halt. Im Januar 1848 brach in Sizilien und Neapel die Revolution aus, wo der König eine Verfassung erlassen mußte. Im Februar revoltierte man in Piemont und Toskana. Am 8. Februar kam es in Rom zu einer Demonstration, bei der der Rücktritt der päpstlichen Minister gefordert wurde. Der Papst erklärte sich zum Nachgeben bereit. Weitere Zugeständnisse erzwang auch im Kirchenstaat die Nachricht von der Pariser Februar-Revolution. Am 14. März 1848 wurde die Verfassung, das Fundamentstatut für die weltliche Regierung des Kirchenstaates, veröffentlicht, das die Einführung von zwei Kammern vorschrieb. Aber die Frage der verfassungsmäßigen Rechte des Volkes trat hinter der sogenannten nationalen Bewegung zurück. In der österreichischen Lombardei brach Mitte März 1848 die Revolution aus. Daraufhin entschloß sich König Karl Albert von Piemont zum Kampf gegen Österreich und rief ganz Italien zur Teilnahme am heiligen Krieg gegen die Fremden auf. In Italien wurde der Ruf allgemein: Hinaus mit den Barbaren!
Als der Papst in einer Konsistorialansprache am 29. April 1848 sich weigerte, an dem Befreiungskampf Italiens teilzunehmen, da er als Papst allen Völkern mit der gleichen väterlichen Liebe begegnen müsse, verlor er rasch an Popularität in Italien. Man bezeichnete ihn sogar als „eidbrüchigen Vaterlandsfeind“. Am Tage der Eröffnung des Abgeordnetenhauses am 15. November 1848 wurde der päpstliche Ministerpräsident Pellegrino Rossi ermordet, der Papst am folgenden Tag im Quirinal belagert. Die Umstürzler forderten vom Papst die Kriegserklärung an Österreich, die Proklamation der italienischen Einheit und eine neue Regierung. Der Papst reagierte darauf mit der Feststellung: es widerspreche seiner Würde als Oberhaupt des Staates und der Weltkirche, sich von Rebellen Bedingungen vorschreiben zu lassen. Daraufhin beschossen die Revolutionäre den Quirinal, ihre Angriffe forderten mehrere Menschenleben. Um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, erklärte sich der Papst zu Zugeständnissen bereit und genehmigte die vorgelegte Ministerliste der neuen Regierung. Die Schweizer Garde wurde von den neuen Machthabern entwaffnet. Am 24. November floh der Papst mit Hilfe des französischen und des bayerischen Gesandten aus Rom nach Gaeta. König Ferdinand von Neapel nahm ihn hier herzlich auf. Der Prostaatssekretär G. Antonelli und die übrigen Kardinäle verlegten ebenfalls ihren Wohnsitz nach Gaeta. Die Flucht des Papstes löste in der katholischen Welt lebhafte Reaktionen aus. Aus vielen Ländern kamen Teilnahms- und Ergebenheitsbezeugungen. Marseille und Avignon luden den Papst zum Aufenthalt in ihre Stadt ein, das russische Kabinett versprach seine Hilfe, der preußische König bot dem Papst eine Zufluchtsstätte an. Aber Pius IX. entschied sich, in Gaeta zu bleiben und die Gastfreundschaft des Königs von Neapel weiter anzunehmen, um möglichst in der Nähe von Rom zu sein.
In Rom wurde am 9. Februar 1849 die Republik proklamiert. Einige Wochen vorher, am 4. Dezember 1848, hatte Pius IX. den Beistand der europäischen Mächte angerufen. Am 24. April 1849 landeten 10000 französische Soldaten in Civitavecchia und marschierten am 30. April auf Rom, wurden aber von dem italienischen Nationalistenführer G. Garibaldi zurückgeschlagen. Ende Juni rückten die verbündeten Truppen von verschiedenen Seiten auf Rom zu. Am 3. Juli eroberten die Franzosen die Stadt und stellten die päpstliche Herrschaft wieder her. Aber die päpstliche Regierung konnte sich nur mit Unterstützung ausländischer Truppen behaupten. Am 12. April 1850 kehrte der Papst nach Rom zurück. Es war bedauerlich – wenn auch verständlich –, daß Pius IX. nach den Erfahrungen der letzten Jahre nicht seinen „Liberalismus“ wieder aufgriff, sondern einen schroff antiliberalen Kurs steuerte. Das frühere absolutistische Regiment wurde auf weiten Strecken erneuert, die Verhältnisse im Kirchenstaat spitzten sich dadurch immer mehr zu.
Nachdem der Traum eines italienischen Staatenbundes unter Führung des Papstes nicht hatte realisiert werden können und Pius IX. sich der nationalen Bewegung versagt hatte, wandten sich die italienischen Patrioten immer mehr gegen ihn. Die Führung der italienischen Einheitsbewegung übernahm jetzt Piemont-Sardinien, wo unter König Viktor Emanuel II. der Ministerpräsident Graf Camillo Cavour an der Vertreibung der Österreicher und der politischen Einigung der Nation arbeitete. Der Papst hatte inzwischen 20000 Soldaten zur Verteidigung des Kirchenstaates angeworben, die sich aber gegenüber den italienischen Heeren nicht behaupten konnten. Sie wurden am 18. September 1860 entscheidend geschlagen. Die päpstliche Herrschaft in der Romagna, in der Mark und in Umbrien hörte auf. Die Gebiete wurden mit Piemont vereinigt. Pius IX. verhängte zwar über die „Räuber des Kirchenstaates“ den Bann, ohne jedoch damit politische Wirkungen zu erzielen. Die päpstliche Herrschaft beschränkte sich jetzt nur mehr auf Rom und das Patrimonium Petri. Am 17. März 1861 ließ sich Viktor Emanuel zum König von Italien ausrufen. Der italienische Ministerpräsident C.B. Conte Cavour hatte Ende 1860 dem Papst die Anerkennung seiner Souveränität, weitgehende Freiheiten und Privilegien der Kirche anbieten lassen und versucht, ihn dafür zum Verzicht auf Rom zu bewegen. Pius IX. lehnte diese Vorschläge ab. Im September 1861 machte Cavours Nachfolger einen neuen Vermittlungsvorschlag: Er bot dem Papst die Souveränität und eine feste Dotation an, ferner die Freiheit der Kirche und den Verzicht des Königs auf die Ernennung der Bischöfe. Aber die Kurie hielt an der Auffassung fest, daß das Papsttum auf den Kirchenstaat nicht verzichten dürfe. Obschon der Kirchenstaat finanziell kaum noch lebensfähig war, lautete die Antwort des Papstes auf diese Vorschläge: „Non possumus“.
Die Stadt Rom war durch französische Truppen geschützt. 1864 verpflichtete sich die italienische Regierung gegenüber Frankreich, die päpstlichen Gebiete nicht anzugreifen. Trotzdem fiel der italienische Nationalistenführer G. Garibaldi 1867 mit seinen Freischärlern in den Kirchenstaat ein, wurde aber von päpstlichen und französischen Truppen am 3. November 1867 bei Mentana geschlagen. Erst der Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges führte das Ende des Kirchenstaates herbei: Am 20. September 1870 besetzten die Piemontesen, ermutigt durch den preußischen Gesandten von Arnim, Rom. Der feierliche Protest des Papstes gegen die Beraubung des Heiligen Stuhles blieb erfolglos. Durch eine Volksabstimmung am 2. Oktober versuchte man die Besetzung Roms nachträglich zu rechtfertigen. In einer Enzyklika vom 1. November 1870 exkommunizierte Pius IX. alle Urheber und Teilnehmer der Usurpation Roms. Im Juni 1871 wurde Rom Hauptstadt des italienischen Königreichs und der Quirinal königliche Residenz.
Da der Papst zu Verhandlungen mit dem Königreich Italien nicht bereit war, suchte es von sich aus die Stellung und die Rechte des Heiligen Stuhles zu regeln. In dem sogenannten Garantiegesetz vom 13. Mai 1871 anerkannte es die Souveränität und Unverletzlichkeit des Papstes, gewährte ihm eine Jahresrente von dreieinviertel Millionen Lire und überließ ihm die Paläste des Vatikans und des Laterans sowie die Villa Castelgandolfo zum Nießbrauch. Das Königreich verbürgte sich für den freien Verkehr mit den Bischöfen der Welt und die freie Ausübung seines geistlichen Amtes. Die italienischen Bischöfe sollten vom Papst frei ernannt werden. Der Staat verzichtete auf jeden Treueid.
Bereits am 15. Mai 1871 verwarf Pius IX. das Garantiegesetz. Er wollte diesen Rechtsbruch der Besetzung des Kirchenstaates nicht sanktionieren, und so blieb die Römische Frage ungelöst. Auch die Annahme der Dotation lehnte er als eine indirekte Anerkennung der Usurpation ab in der Erwartung, daß die Liebesgaben der Gläubigen, der sogenannte Peterspfennig, dem Apostolischen Stuhl den Ausfall an Einkünften ersetzen werden. Seitdem lebte der Papst als der Gefangene des Vatikans. Noch in seinem letzten Regierungsakt vor seinem Tod hat Pius IX. am 17. Januar 1878 dagegen protestiert, daß nach dem Tode des Königs sein ältester Sohn durch die Annahme des Titels „König von Italien“ den Raub des Kirchenstaates zu sanktionieren versuchte. Erst 1929 kam es zu einer Regelung und Lösung der Römischen Frage.
Das Ende des Kirchenstaates stellte aber nur ein – wenn auch wichtiges – Problem des Pontifikates Pius‘ IX. dar. Innerkirchlich war seine Regierungszeit, übrigens die längste, die die Papstgeschichte kennt, nicht weniger ereignisreich. Unter Pius IX. wurde Rom immer mehr zum Mittelpunkt des Katholizismus. Bezeichnend war die Ausbildung des kirchlichen Zentralismus, der das Papsttum auf die Höhe seines innerkirchlichen Einflusses brachte. Die Französische Revolution in Frankreich, die Säkularisation in Deutschland hatten die Bischöfe ihrer politischen Macht beraubt. Die innerkirchliche Erneuerung förderte den sogenannten ultramontanen Gedanken, gegen die antikirchlichen Kräfte der Aufklärung und des Staatskirchentums verbanden sich die Gläubigen mit Rom. Die Entwicklung wurde auch dadurch begünstigt, weil die Päpste des 19. Jahrhunderts Männer waren, die als geistliche Inhaber höchsten Kirchenamtes vorbildlich lebten und sich ganz ihrer Aufgabe verschrieben hatten.
Von seinem höchsten Lehramt machte Pius IX., der von seiner Aufgabe, der Hüter der Glaubenswahrheiten zu sein, tief durchdrungen war, mehr Gebrauch als seine Vorgänger. Von Gaeta hatte der Papst am 3. Februar 1849 ein Rundschreiben an die Bischöfe der Weltkirche gerichtet mit der Anfrage nach der Möglichkeit der Dogmatisierung der Lehre von der Unbefleckten Empfängnis Mariens. Die Bischöfe stimmten in ihrem Gutachten mit großer Mehrheit einer Definition zu. Nur vier Bischöfe äußerten Zweifel an der Lehre und 36 fragten nach der Opportunität der feierlichen Glaubensentscheidung. Im November 1854 versammelten sich inRom etwa 200 Bischöfe aus allen Ländern, die die Absicht des Papstes, das neue Mariendogma zu verkünden, lebhaft bejahten. Am 8. Dezember 1854 erklärte Pius IX. feierlich, daß Maria durch eine besondere Gnade Gottes im Hinblick auf die Verdienste Christi vom ersten Augenblick ihrer Empfängnis an von der Erbsünde bewahrt geblieben sei. Die Dogmatisierung fand in der katholischen Welt eine lebhafte Zustimmung.
Pfingsten 1862 folgten wiederum über 300 Bischöfe der Einladung des Papstes nach Rom. Anlaß ihres Kommens war die Heiligsprechung von 26 japanischen Märtyrern von Nagasaki, die 1597 ihr Leben für den Glauben geopfert hatten. Die Bischofsversammlung erörterte auch die Römische Frage und sprach den Wunsch nach Fortbestand der weltlichen Herrschaft des Papstes aus.
Zehn Jahre nach der Verkündigung des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis Mariens veröffentlichte Pius IX. am 8. Dezember 1864 die Enzyklika „Quanta cura“, der von Kardinalstaatssekretär Antonelli ein Syllabus, d.h. eine Zusammenstellung der hauptsächlichsten Irrtümer der Zeit, beigefügt war. Die Sätze betrafen Ansichten über den Pantheismus, Naturalismus, Rationalismus, Indifferentismus, Sozialismus und Kommunismus, irrige Lehren über die Gesellschaft, die christliche Ehe und die natürliche und christliche Sittenlehre. Der Syllabus wurde in verschiedenen Staaten zum Anlaß einer kirchenfeindlichen Polemik. In Rußland, Frankreich und Teilen von Italien verbot man seine Veröffentlichung. „Fortschrittliche“ Kreise bezeichneten ihn als eine Absage der katholischen Kirche an die moderne Zeit und den neuzeitlichen Staat.
Das bedeutendste Ereignis im Pontifikat Pius‘ IX. war die Einberufung des Ersten Vatikanischen Konzils. Über dreihundert Jahre hatte kein Allgemeines Konzil mehr stattgefunden. Am 6. Dezember 1864 überraschte der Papst die Kardinäle mit der Mitteilung, daß er die Absicht habe, ein Allgemeines Konzil zu berufen. Er beauftragte alle Mitglieder des Kardinalskollegiums unter strengster Schweigeverpflichtung, seinen Plan zu prüfen und ihm in schriftlichen Gutachten ihre Ansichten mitzuteilen. Im Frühjahr 1865 berief er eine Kommission von fünf Kardinälen zur Beratung der Konzilsvorfragen. Ferner holte der Papst von den in Rom residierendes Kardinälen Gutachten ein über die Durchführung des Konzilsprojektes, dessen Notwendigkeit und Opportunität sowie die Methoden der kommenden Kirchenversammlung. Die Konzilsankündigung erfolgte am 26. Juni 1867 im öffentlichen Konsistorium. Der Papst erklärte, er wolle ein heiliges Ökumenisches Konzil zur Beseitigung vieler kirchlicher Übel und zur Ausdehnung des Reiches Christi abhalten. In einer am 1. Juli überreichten Glückwunschadresse sprachen die Bischöfe ihre Freude über diesen Entschluß und die Hoffnung aus, das Konzil möge ein Werk der Einheit, Heiligung und Befriedung werden, damit die Kirche in neuem Glanz erstrahle. In seiner Antwort an die mehr als 500 Bischöfe, die sich zu der 18. Säkularfeier des Martyriums der Apostelfürsten Petrus und Paulus in Rom versammelt hatten, stellte der Papst das kommende Konzil unter den Schutz der Mutter des Herrn.
Die offizielle Einberufung des Ersten Vatikanischen Konzils erfolgte am 29. Juni 1868. Auch die getrennten Kirchen des Orients erhielten am 8. September eine Einladung. Als Aufgabe des Konzils bezeichnete es der Papst, die katholische Welt zu einer machtvollen Manifestation der Wahrheit zu versammeln und die kirchliche Disziplin den geänderten Zeitverhältnissen anzupassen.
Die Konzilsankündigung fand zunächst lebhafte Zustimmung, wenn auch einzelne Kritik. Diese steigerte sich, als die römische Jesuiten-Zeitschrift „Civiltà cattolica“ einen Artikel ihres Pariser Korrespondenten veröffentlichte, in dem es hieß, man erwarte in Frankreich vom Konzil die Definition der Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit und die Annahme dieser Lehre durch Akklamation. Dieser Artikel war Anlaß zu einem Kesseltreiben gegen das bevorstehende Konzil. In Deutschland veröffentlichte der Kirchenhistoriker lgnaz Döllinger in der liberalen Augsburger Allgemeinen Zeitung unter dem Pseudonym ,Janus“ fünf Artikel über „Der Papst und das Konzil“, in der er journalistisch übertreibend historische Bedenken gegen die Dogmatisierung der Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit vortrug. Aber nicht nur durch die Zeitung, sondern auch auf dem Weg über die Diplomatie versuchte Döllinger ein Eingreifen der europäischen Regierungen gegen die angeblichen vom Konzil drohenden Gefahren zu erreichen. Bei dem bayerischen Ministerpräsidenten Fürst Hohenlohe, der sich Döllingers Bedenken zu eigen machte, wurde er in diesem Sinne vorstellig. Der Versuch, ein diplomatisches Eingreifen der Regierungen zu veranlassen, mußte fehlschlagen, da für einen möglichen Protest der Regierungen keinerlei Gründe gegeben waren. Hohenlohe erfuhr in der Frage der Intervention selbst von Bismarck eine peinliche Abfuhr. Trotzdem gelang es, einen Teil der deutschen Katholiken, besonders jene, die der Kirche bereits entfremdet waren, gegen das Konzil zu mobilisieren, obschon im September 1869 die deutschen Bischöfe von Fulda aus einen beruhigenderen Hirtenbrief erließen. Sie wiesen darauf hin, daß der Heilige Geist die Kirche regiere und sie vor jedem Irrtum bewahren werde.
Am 8. Dezember 1869 wurde das Konzil in der Peterskirche in Rom von Pius IX. feierlich eröffnet. Bereits bei Beginn waren 642 stimmberechtigte Konzilsväter anwesend. Die Gesamtzahl der Teilnehmer belief sich auf über 700. Wenn wir damit die Zahl der Bischöfe vergleichen, die sich auf den vorhergehenden Konzilien zusammengefunden hatten, ist das eine eindrucksvolle Zahl. Das Erste Vatikanische Konzil konnte von allen bis dahin stattgefundenen Konzilien die höchste Teilnehmerzahl aufweisen und war eine echte Repräsentation der Universalkirche. Aus Deutschland nahmen 20 Bischöfe am Konzil teil. Die Mehrheit – fünfzehn – gehörte zur sogenannten konziliaren Minorität, die eine Definierung der Unfehlbarkeit des Papstes als inopportun betrachtete und zum auch aus theologischen Gründen und Überlegungen ablehnte.
Die Konzilsväter wählten in der Zeit vom 14. Dezember 1869 bis 14. Januar 1870 vier Deputationen: 1. für Fragen des Glaubens, 2. für Fragen der Kirchendisziplin, 3. für Ordensangelegenheiten, 4. für Fragen der orientalischen Riten und der Missionen. Diese Deputationen mußten die in der Generalkongregation sämtlicher Konzilsväter zu erörternden Anträge vorbereiten. Bereits vor dem Konzil hatten sieben Kommissionen 51 „Schemata“, Dekretentwürfe, erarbeitet. Jedoch konnten davon nur zwei zur Beratung und Abstimmung kommen; die dogmatische Konstitution über den katholischen Glauben und über die Kirche Christi. In der dritten öffentlichen Sitzung am 24. April 1870 wurde die Konstitution über den katholischen Glauben, die die Grundlehren des Christentums beinhaltete, z.B. die Lehre von der Schöpfung, Offenbarung, dem Glaubensakt, den Fragen über Glaube und Wissen, einstimmig angenommen. Darin wurden zugleich die Irrlehren des Atheismus, Materialismus, Pantheismus, Rationalismus und Traditionalismus verworfen.
Schwieriger gestaltete sich die Verabschiedung des Schemas über die Kirche Christi. Bereits Ende Januar 1870 beantragten 380 Konzilsväter die Einfügung des Abschnittes über die Unfehlbarkeit des Papstes in das Schema. Am 6. März 1870 wurde dieser Antrag dem Konzil zur Beratung vorgelegt. Die Debatten über die Opportunität einer Definition der Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit waren lebhaft. Die Zahl der grundsätzlichen Gegner dieser Ansicht erwies sich jedoch als gering. Angesichts der drohenden Haltung einzelner Regierungen, u.a. in Österreich-Ungarn, Preußen und Bayern, äußerten verständlicherweise eine Reihe von Bischöfen gegenüber einer Definition Bedenken, da sie Zwischenfälle mit ihren Regierungen vermeiden wollten. Auch glaubten sie, daß man mit Rücksicht auf die scharfe Agitation der Unfehlbarkeitsgegner von einer Entscheidung dieser Frage absehen sollte. Zu diesen Minoritätsbischöfen gehörten u.a. Bischof Hefele von Rottenburg und Bischof von Ketteler aus Mainz. Hefele argumentierte gegen eine Dogmatisierung mit der Honorius-Frage (vgl. oben S.92). Aber die Versuche der Minorität, durchschlagende Gründe gegen die Lehre von päpstlichen Unfehlbarkeit anzuführen, scheiterten. Auch die Hoffnung, daß Döllinger den Minoritätsbischöfen theologische Gegenargumente liefern würde, ging nicht in Erfüllung.
Zu den Hauptvertretern der Majorität auf dem Konzil gehörten u.a. Kardinal Manning von Westminster, Bischof Konrad Martin von Paderborn, der früher Professor an der Bonner Universität gewesen war, und Bischof Senestrey von Regensburg.
Von den österreichischen Bischöfen standen Kardinal Rauscher Wien, Kardinal Schwarzenberg von Prag und der Fürstprimas Simor von Gran auf der Seite der Minorität, im Hinblick auf die drohende Haltung der österreich-ungarischen Regierung eine nicht überraschende Tatsache.
Die Abstimmungen über die Unfehlbarkeitsfrage auf dem Konzil brachten eindeutige Mehrheitsverhältnisse. Bereits in der Generalkongregation vom 13. Juli 1870 sprach sich eine überwältigende Mehrheit der Bischöfe für die Dogmatisierung der Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit aus. 451 Konzilsväter stimmten mit Ja, 62 mit bedingt Ja und nur 88 mit Nein. In der vierten öffentlichen Sitzung am 18. Juli 1870 war die Majorität noch überzeugender. 533 Konzilsväter bejahten die Vorlage, nur 2 entschieden sich dagegen, nachdem zuvor 57 Gegner der Definition mit Erlaubnis des Papstes vor der Abstimmung aus Rom abgereist waren.
Pius IX. bestätigte in derselben Sitzung den Konzilsbeschluß und verkündete die dogmatische Konstitution, die mit den Worten beginnt: „Pastor aeternus“. Sie behandelt Einsetzung, Fortdauer, Bedeutung und Wesen des Primats des römischen Bischofs und sein unfehlbares Lehramt. Gegenüber dem Episkopalismus undGallikanismus entschied das Konzil, daß die Gewalt des Papstes eine unmittelbare, höchste Jurisdiktionsgewalt über die Gesamtkirche in Fragen des Glaubens und der Sitte, der Disziplin und der Leitung der Kirche sei. Kathedralentscheidungen des Papstes in Fragen des Glaubens und der Sitte bezeichnete die Konstitution als unfehlbar. Sie bedürfen nicht der Zustimmung der Universalkirche. Wörtlich heißt es im Kapitel 4: Der römische Papst besitzt, wenn er ex cathedra spricht, d.h., wenn er in Ausübung seines Amtes als Hirte und Lehrer aller obersten apostolischen Autorität eine Lehre, die den Glauben oder die Sitte betrifft, als von der gesamten Kirche festzuhalten definiert, durch den göttlichen Beistand, der ihm im hl. Petrus verheißen ist, jene Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Definition einer Lehre über Fragen des Glaubens und Sitte ausgestattet haben wollte. Deshalb sind solche Definitionen aus sich selbst und nicht aus der Zustimmung der Gesamtkirche unabänderlich. Mit dieser Formulierung sollte jede gallikanische Tendenz zurückgewiesen werden.
Die Bischöfe, die Gegner einer Definierung der Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit gewesen waren, unterwarfen sich dieser Entscheidung des Konzils. Die beiden in der Konzilsaula anwesenden Bischöfe, die mit Nein gestimmt hatten, sprachen sofort ihre Zustimmung aus, die übrigen Bischöfe im Laufe der kommenden Zeit. Bischof von Ketteler hatte bereits vor seiner Abreise aus Rom in einem Brief an den Papst erklärt, daß er sich voll und ganz den Beschlüssen des Konzils unterwerfen werde.
Als am 19. Juli 1870 der Krieg zwischen Frankreich und Deutschland ausbrach, reisten zahlreiche Bischöfe in ihre Heimat. Die Schutztruppen Frankreichs wurden aus Rom abgezogen, das daraufhin am 20. September Soldaten aus Piemont besetzten. Das Ende des Kirchenstaates war damit gekommen. Am 20. Oktober verkündete der Papst die Vertagung des Konzils auf einen günstigeren Zeitpunkt.
Durch das erzwungene Ende des Konzils konnten wichtige Fragen des Schemas „Über die Kirche Christi“ nicht mehr behandelt werden. Auch die übrigen vorgesehenen 49 Schemata mußten unerledigt bleiben.
Die Bedeutung des Ersten Vatikanischen Konzils liegt in seinen Entscheidungen über den Primat und die Unfehlbarkeit des Papstes. Schmidlin urteilt in seiner Papstgeschichte: „Wer heute aus der historischen Schau das Vatikanum und seine Folgen überblickt, kann die ängstlichen Befürchtungen der Minoritätspartei kaum begreifen.“
Durch die Diskussion der unterschiedlichen theologischen Auffassungen und die Berücksichtigung der Haupteinwände war unter der Leitung der Vorsehung ein Ergebnis erzielt worden, das eine jahrhundertelange Entwicklung zum Abschluß brachte.
Das Papsttum ging aus dem Konzil und auch aus dem Zusammenbruch der weltlichen Macht in den folgenden Jahrzehnten gestärkt hervor. Rom wurde immer mehr zum geistigen Mittelpunkt der Weltkirche. Die innere Geschlossenheit der katholischen Kirche bestätigte sich eindrucksvoll auf und nach dem Konzil. Die Befürchtungen der liberalen Staaten, die durch einzelne Kreise der Minorität in der Ansicht bestärkt worden waren, daß das Dogma von päpstlichen Unfehlbarkeit „staatsgefährdend“ sein könnte, erwiesen sich als trügerisch. Die damaligen Gutachten und Bedenken einzelner Staatsrechtler nimmt man heute mit Erstaunen zur Kenntnis.
Nach dem Konzil kündigte Österreich noch 1870 das Konkordat vom Jahre 1855, das bereits 1868 in wichtigen Fragen des Ehe- und Schulwesens außer Kraft gesetzt worden war. Preußen erließ Sonderbestimmungen gegen die katholische Kirche, auch in der Schweiz wurde der kirchenpolitische Kampf verschärft. Die Regierungen von Frankreich, Belgien, Spanien und Portugal verhielten sich passiv.
In Deutschland, Österreich und der Schweiz kam es nach dem Vaticanum zur Abspaltung der Altkatholiken, die aber trotz der Unterstützung durch den Staat und die liberale Presse keine größere Bedeutung gewinnen konnten. Im September 1871 beschlossen die Gegner des Konzils auf dem Altkatholiken-Kongreß in München – trotz der Warnungen Döllingers – die Errichtung einer eigenen Kirche. Der Einfluß der Altkatholiken nahm in Deutschland in der Folgezeit ständig ab, wenn er auch u. a. unter dem Nationalsozialismus infolge der Unterstützung durch die Partei eine Wiederbelebung erfuhr.
Größte Bedeutung hatte der Pontifikat Pius‘ IX. für die Weltkirche. In England, das bis dahin Missionsland gewesen war, stellte der Papst 1850 für die etwa 700 000 Katholiken die Hierarchie wiederher und ernannte zum ersten Erzbischof von Westminster N. Wiseman, den er in das Kardinalskollegium berief. Außerdem wurden zwölf Suffraganbistümer errichtet. Die Reaktionen auf die Wiederherstellung der kirchlichen Hierarchie waren lautstark. Es kam zu Straßendemonstrationen gegen die „päpstliche Aggression“ in England, sie hatten aber keine ernsteren Folgen. Als Wiseman 1865 starb, berief Pius IX. Henry Edward Manning zu dessen Nachfolger. In Irland, wo die Katholiken 1829 größere Freiheiten erhalten hatten und etwa 80% der Gesamtbevölkerung ausmachten, ernannte Pius IX. 1849 den Rektor des Irischen Kollegs in Rom, Paul Cullen, zum Erzbischof von Armagh und berief ihn 1866 in das Kardinalskollegium. Er war der erste Kardinal aus Irland und hat den irischen Katholizismus nachhaltig geformt.
In den Niederlanden, wo den Katholiken 1848 die Religionsfreiheit wiederum garantiert worden war, erneuerte Pius IX. ebenfalls die in der Reformationszeit zerstörte kirchliche Hierarchie und errichtete das Erzbistum Utrecht mit vier Suffraganbistümern: Haarlem, Breda, ‚s-Hertogenbosch und Roermond. Auch in Holland löste die Errichtung der neuen Bischofssitze eine Protestwelle aus, die jedoch die Freiheit der Kirche nur in Einzelpunkten einschränkte. In Amerika entwickelte sich während des Pontifikats Pius‘ IX. der Katholizismus sehr lebhaft, besonders die Einwanderung aus Irand, wo 1845–1847 eine große Hungersnot wütete, und aus Deutschland führte zu einer starken Zunahme der katholischen Bevölkerung. Ihre Zahl wuchs von 4% im Jahre 1840 auf 11% im Jahre 1870. Immer neue Kirchenprovinzen entstanden. Auch die Zahl der Priester erhöhte sich überraschend schnell. Während zu Beginn des Pontifikats Pius‘ IX. Amerika nur etwa 700 Priester hatte, stieg diese Zahl auf 6000 im Jahre 1875. 1866 wurde in Baltimore ein Plenarkonzil abgehalten. 1875 ernannte der Papst den ersten amerikanischen Kardinal: John McCloskey.
Die Missionsarbeit fand durch Pius IX. eine starke Förderung. „Der lange Pontifikat bildete, missionarisch gesehen, in allen wesentlichen Teilen eine Fortsetzung, aber auch eine Verstärkung der Reform Gregors XVI.“ (Beckmann). In seinem Pontifikat wurde das Missionsanliegen unter den Gläubigen immer lebendiger. Die Missionsvereine, die sich seit 1822 gebildet hatten, nahmen einen erfreulichen Aufschwung. In Deutschland war 1839 der Ludwig-Missionsverein in München gegründet worden, 1841 der Franziskus-Xaverius-Verein in Aachen. Von den Erfolgen der Missionsarbeit unter Pius IX. legen u. a. die von ihm errichteten Bistümer und Apostolischen Vikariate ein deutliches Zeugnis ab. 29 Erzbistümer, 132 Bistümer, 33 Apostolische Vikariate, 15 Apostolische Präfekturen und 3 Apostolische Delegaturen wurden in seiner Regierungszeit neu geschaffen.
Mit verschiedenen Staaten konnte Pius IX. Verträge unterzeichnen, die die Lage der Katholiken erleichterten. 1847 schloß Pius IX. mit Rußland ein Konkordat, das aber erst 1856 in Rußland veröffentlicht wurde und die Leiden der Katholiken nur leicht milderte, im wesentlichen jedoch keine Änderung der kirchenpolitischen Situation herbeiführte. Besondere Schwierigkeiten hatte die Kirche in Polen zu erdulden. Der Heilige Stuhl protestierte zwar immer wieder bei der Russischen Botschaft in Rom gegen die Verletzungen des Konkordats von 1847. Unter Zar Alexander II. besserte sich die Lage der Katholiken, aber die polnische Erhebung von 1863–1864 verschlechterte wieder die Situation der Katholiken. Die russischen Behörden beantworteten die Unterstützung der Aufständischen durch den Klerus mit der Deportation von über 400 Klerikern und Bischöfen nach Sibirien. 114 Klöster wurden geschlossen. Am 24. April 1864 legte Pius IX. energisch Protest gegen die grausame Unterdrückung ein. Als der Papst am 29. Oktober 1866 erneut Anklage gegen die Unterdrückung der Katholiken erhob, setzte die russische Regierung das Konkordat offiziell außer Kraft.
1851 konnte der Papst die Konkordate mit Spanien und Toskana, 1855 mit Österreich, 1857 mit Portugal, 1859 erneut mit Spanien, 1860 mit Haiti, 1861 mit Honduras, 1862 mit Ekuador, Venezuela, Nikaragua und San Salvador unterzeichnen.
In Deutschland verbesserte sich in der Regierungszeit Pius‘ IX. die Stellung der Katholiken. Das Kölner Ereignis (1837) hatte das Selbstbewußtsein der deutschen Katholiken entscheidend gestärkt. Ein Zeichen für die innere Erneuerung des deutschen Katholizismus ist der Aufschwung des Ordenslebens, den Deutschland damals erlebte. Die Revolution von 1848 brachte für die Kirche größere Freiheiten. Im deutschen Katholizismus entwickelte sich ein blühendes Vereinsleben. Die Pius-Vereine, die 1848 der Mainzer Domdekan A.F. Lennig zur Erringung der religiösen Freiheit und der Förderung christlicher Gesinnung gegründet hatte, breiteten sich schnell aus. Aus ihnen ging 1848 die Generalversammlung der katholischen Vereine Deutschlands hervor, aus der sich die späteren Katholikentage entwickelten, denen Pius IX. regelmäßig seinen Segen erteilte. Seit 1848 tagte alljährlich die Konferenz der deutschen Bischöfe, auf der es zu einheitlichen Stellungnahmen des Episkopats zu Gegenwartsfragen kam. Die erste Bischofskonferenz fand vom 22. Oktober bis 16. November 1848 in Würzburg statt. Sie formulierte in einer umfangreichen Denkschrift an die deutschen Regierungen ihre kirchenpolitischen Ansprüche. Die Mehrzahl von ihnen sprach sich auch für einen nationalkirchlichen Zusammenschluß unter einem Primas aus. Pius IX. wurde um die Erlaubnis der Abhaltung eines deutschen Nationalkonzils gebeten, auf dem Reformen der Liturgie und der kirchlichen Disziplin beschlossen werden sollten. Die Antwort des Papstes fiel negativ aus: das Nationalkonzil wurde verschoben.
Auch kirchenpolitisch entwickelte sich die Lage der katholischen Kirche in Deutschland günstig. In der Preußischen Verfassung von 1848/50 wurde der Kirche das Recht der selbständigen Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten zugesichert. 1866 erklärte König Wilhelm I. von Preußen, daß man staatlicherseits keinen Grund zu Klagen über die katholische Kirche habe. Die Kriege mit Österreich 1866, mit Frankreich 1870/71 und die Gründung des Kaiserreiches 1871 brachten jedoch eine Wendung in der kirchenpolitischen Haltung Preußens. Die militärischen Erfolge Preußens gegen die „katholischen“ Staaten Österreich und Frankreich wurden als Niederlagen des Katholizismus interpretiert. Die Beschlüsse des Ersten Vatikanischen Konzils waren für Preußen, das sich auf entsprechende Gutachten von liberalen Katholiken stützen konnte, der Anlaß, die katholische Kirche als staatsgefährlich zu verdächtigen. Im Ultramontanismus sah man eine Bedrohung des „protestantischen Kaisertums“. Deshalb versuchte man die Kirche wieder dem Staat zu unterwerfen und das preußische Staatskirchentum zu erneuern. Es kam zu einer kirchenpolitischen Auseinandersetzung, dem „Kulturkampf“, für den Fürst Otto von Bismarck die eigentliche Verantwortung trägt. Das Motiv seines Vorgehens lag u.a. in seiner Beurteilung der Zentrumspartei, in der er einen Mittelpunkt aller Gegner des neuen Reiches und ein Werkzeug der kurialen Politik in Deutschland sah. Zu den weiteren Ursachen gehörte der Streit um das Unfehlbarkeitsdogma und das Bündnis Bismarcks mit den Nationalliberalen.
Das im Sommer 1870 gegründete Zentrum, die Vertretung des deutschen Katholizismus, konnte bereits im ersten Reichstag März 1871 die zweitstärkste Fraktion werden. Im Herbst 1870 hatte Papst Pius IX. den König von Preußen um Hilfe bei der Wiedererlangung des Kirchenstaates gebeten. Das Zentrum unterstützte die päpstlichen Anliegen und betrachtete die Unabhängigkeit des Papstes als ein Lebensinteresse der deutschen Katholiken. Am 8. Juli 1871 erfolgte die Aufhebung der katholischen Abteilung des Kultusministeriums. In der Folgezeit verschärfte die Regierung die antikatholischen Maßnahmen. Bischof Krementz von Ermland sperrte man als erstem Bischof die staatlichen Bezüge. Am 10. Dezember 1871 wurde der „Kanzelparagraph“ verabschiedet. Den sogenannten Mißbrauch der Kanzel, d.h. die Behandlung „staatlicher“ Angelegenheiten in einer den Frieden gefährdenden Weise, bedrohte der Staat mit Gefängnisstrafen bis zu zwei Jahren. Weitere Maßnahmen richteten sich gegen den Feldpropst der Armee, Bischof Namszanowski. Er wurde in den Wartestand versetzt und am 15. März die Feldpropstei bis auf weiteres aufgehoben. Ein diplomatischer Protest des Vatikans, mit dem 1868 die Errichtung der Feldpropstei vereinbart worden war, blieb unbeantwortet. Im Frühjahr hatte Bismarck versucht, den Kardinal Hohenlohe dem Papst als Botschafter aufzudrängen. Als der Papst ablehnte, blieb nur ein Geschäftsträger am Vatikan, der Ende 1872 abberufen wurde.
Am 7. Juli 1872 verabschiedete der Reichstag das Jesuiten-Gesetz. Es schloß den Jesuitenorden, die Redemptoristen und Lazaristen vom gesamten Reichsgebiet aus. Die Reaktion des Papstes auf dieses Ausnahmegesetz, das die rechtsstaatlichen Prinzipien verletzte, war scharf. Pius IX. hatte bereits vor dessen Verabschiedung zum Widerstand gegen die Verfolgung der Kirche aufgerufen. Die Kampfgesetze gegen die katholische Kirche standen im Widerspruch zur Verfassung. Am 7. August 1873 wandte sich der Papst persönlich an den Kaiser, nachdem die sogenannten Mai-Gesetze vom 11.-14. Mai 1873 verabschiedet waren. Sie sahen u. a. die Errichtung eines königlichen Gerichtshofs für kirchliche Angelegenheiten vor und unterwarfen die freie Ausbildung der künftigen Priester und die Anstellung der Geistlichen einer staatlichen Bevormundung. Das Fernziel Bismarcks war die Bildung einer katholischen Nationalkirche. Von den elf preußischen Bischöfen ließ der Staat fünf gefangensetzen und staatlich absetzen, zwei weitere wurden durch den Gerichtshof für kirchliche Angelegenheiten abgesetzt. Preußen stellte alle Geldleistungen des Staates an die katholische Kirche durch das sogenannte „Brotkorbgesetz“ vom 22. April 1875 ein, ohne dadurch die Widerstandskraft der deutschen Katholiken brechen zu können.
Pius IX. erklärte in seiner Enzyklika „Quod nunquam“ vom 5. Februar 1875 die Gesetze, die der göttlichen Einrichtung der Kirche widersprächen, für nichtig. Preußen antwortete darauf mit der Verabschiedung weiterer Kampfgesetze gegen die katholische Kirche. Der Versuch Bismarcks, die ausländischen Staaten zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen die katholische Kirche zu gewinnen, schlug fehl, in Deutschland folgten Baden, Hessen-Darmstadt und Sachsen seinem kirchenfeindlichen Vorgehen. In Bayern, wo sich König Ludwig II. gegen die Beschlüsse des Ersten Vatikanischen Konzils wandte, wurde der Altkatholizismus, ohne größere Erfolge erringen zu können, von staatlicher Seite stark begünstigt und das Staatskirchentum wieder praktiziert.
1878 waren in Preußen zwei Drittel der Bischöfe von der Regierung „abgesetzt“, mehr als tausend Pfarreien waren ohne geregelte Seelsorge, die theologischen Konvikte und Priesterseminare geschlossen. Von wenigen staatshörigen Pfarrern und Katholiken abgesehen, stand die große Mehrheit von Klerus und Gläubigen auf der Seite von Papst und Bischöfen. Der Kulturkampf stellte sich immer mehr als ein politischer Fehler heraus. Preußen galt in der Welt als ein intoleranter Staat. Im deutschen Katholizismus führte der Kampf gegen die Kirche zu einer inneren Stärkung. Er bewirkte den weiteren Ausbau der Zentrumspartei, der katholischen Vereine und der katholischen Presse.
Am 7. Februar 1878 starb Pius IX., verehrt von den Gläubigen, die ihm nach dem Verlust des Kirchenstaates und dem Kampf gegen die Kirche mit um so größerer Liebe anhingen. Kein Papst des 19. Jahrhunderts hatte bei den Gläubigen einen solchen Rückhalt wie Pius IX. Die angeblichen Papstweissagungen des Malachias, die ihn als „Kreuz vom Kreuze“ bezeichneten, schienen ihre Erfüllung zu finden. In weitesten Kreisen der Kirche wurde er als der große Dulderpapst verehrt, der bewußt den Weg des Kreuzes zu gehen bereit war.