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Alttestamentliche Ethik

Karl Hörmann: LChM 1976, Sp. 31-39

B. Moraltheologisch.

So interessant eine historische Darstellung der atl E. sein mag, ist sie doch für die Moraltheologie nicht das Wichtigste. Diese fragt vielmehr nach der Heilsbedeutung des atl Ethos: Ist in ihm schon etwas Typisches von dem enthalten, was das NT als heilsnotwendig bezeichnet, so daß Israel kraft dieses Typischen das Heil finden konnte? Gibt es im atl Ethos etwas, was von zeitloser Heilsbedeutung ist und daher auch im NT gilt?

Das Bleibende kann man nur vom NT her erkennen (Augustinus, Qq. in Hept. II 73, PL 34,623: „Vetus Testamentum in Novo patet“). Wie das 2. Vat. Konz. ausführt, legt das NT den Sinn des AT an den Tag und erklärt und beleuchtet es den atl Bund (DV 16).

I. Daß die atl Weisungen vor Christus verbindl. Kraft hatten, ist für das Christentum selbstverständlich.

1. Einzelne Lehrer und Richtungen im Altertum sahen zwar das AT sosehr im Gegensatz zu Christus, daß sie seine Urheberschaft einem bösen Prinzip zuschrieben (Simon der Magier, Marcioniten, Manichäer, Priscillianisten). Eine rationalistische Schriftdeutung der Neuzeit wieder bezeichnete es als reines Menschenwerk (vgl. D 3409–12 3420 3490).

Christus wertet das AT mit seinem Gesetz ganz anders: Er will Gesetz oder Propheten nicht auflösen, sondern erfüllen (Mt 5,17–19), und sieht eine gerade Linie zw. Gesetz und Propheten und den Hauptgeboten, die er selbst verkündet („An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten“, Mt 22,40); wie er selbst zur Liebe führen will, wollten es schon die atl Weisungen. Auch Paulus, der sosehr mit der Gesetzesproblematik ringt, findet, daß das atl Gesetz heilig, gerecht und gut ist (Röm 7,12.16), daß es Gesetz Gottes ist (Röm 7,24), daß es durch Vermittlung des Moses von Gott stammt (Gal 3,19 f).

2. Als Bundesgesetz galt das atl Gesetz für das Bundesvolk Israel („Und nun, Israel, was fordert Jahwe, dein Gott, von dir?“ Dtn 10,12; vgl. Ex 19,5; 24,3 f; 34,10).

Es bleibt jedoch zu fragen, ob uns nicht im Alten Bund und seinem Gesetz etwas so Typisches für die Absichten Gottes mit dem Menschen entgegentritt, daß man doch nicht sagen kann, alle Menschen außerhalb des Volkes Israel seien nicht davon betroffen. Wenn vor dem Bundesschluß die Absicht Jahwes ausgesprochen wird, sich Israel zu seinem besonderen Eigentum zu machen, und wenn hinzugefügt wird: „Denn mir gehört die ganze Erde“ (Ex 19,5), scheint Israel nur ein Typus für die Absicht Gottes mit der ganzen Menschheit zu ein. Die Praxis der jüdischen Diasporagemeinden, auch Heiden zur Beobachtung des atl Gesetzes zuzulassen, erweist sich damit als nicht sinnlos.

3. Nach der Sicht des NT spielte in der Heilgeschichte das AT die Rolle der Vorbereitung auf das NT; mit dem Ende der Zeit der Vorbereitung auf Christus sollten der Bund und sein Gesetz auch für das Bundesvolk aufhören („Ende des Gesetzes ist ja Christus zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt“, Röm 10,4; vgl. 2 Kor 1,20; 3,7.11.43). „Mit der Ankunft der angekündigten Dinge waren die Aufgaben der Ankündiger beendet“ (Leo d. Gr., Sermo 69,2, PL 54,376).

Schon im AT wurden wiederholt mit der Änderung der Verhältnisse Vorschriften des Gesetzes abgeändert. Mit Christus kam die große Wende, die bewirkte, daß Gesetz und Propheten nicht in ihrer atl Gestalt weiter gelten konnten. Nach der Theologie des Hebräerbriefes trat das NT, das zugleich das Ende des AT bedeutete, mit dem Tod Christi in Kraft (Hebr 9,16 f). Paulus sagt, Jesus habe in seinem Fleisch das Gesetz der Gebote mit seinen Verordnungen vernichtet (Eph 2,15). Im Anschluß daran erklärt Pius XII., am Kreuz sei das alte Gesetz gestorben (Enz. „Mystici corporis“, AAS 1943, 205).

Nach Augustinus ist das atl Gesetz nun totes Gesetz (lex mortua); es hat keine verpflichtende Kraft, keine Heilsbedeutung mehr, wie die Apostel feststellten. Sie selbst befolgten freilich noch (auch Kult-) Vorschriften dieses Gesetzes (Apg 10,14; 16,13; 18,18; 21,23 f), z.T. aus pastoralen Gründen, „mit Rücksicht auf die Juden, die in jenen Gegenden waren“ (Apg 16,13; vgl. 1 Kor 9,20). Dagegen war nichts einzuwenden, wenn man nur solchen Übungen nicht Heilsbedeutung zuschrieb. Wer sie allerdings für heilsnotwendig hielt, ließ es an der Bereitschaft fehlen, mit Christus zu gehen; ihm erklärte Paulus: „Wenn ihr euch beschneiden laßt, wird Christus euch nichts nützen“ (Gal 5,2). Weil das Festhalten an diesen Vorschriften mit dem Fortschreiten der Zeit immer mehr den Charakter einer Ablehnung Christi annahm, wurde es zu einem Hindernis für die in Christus angebotene Gottgemeinschaft, in diesem Sinn todbringend (lex mortifera). So stellt Augustinus fest, das mosaische Gesetz sei vom Tod Christi an zunächst tot und schließlich todbringend geworden (Ep 82,16, PL 33,282; vgl. D 1348).

II. Mit der Wende durch Christus und zu ihm hin ist nicht alles, was zum AT und seinem Gesetz gehört, hinfällig geworden.

Jesus sagt, er wolle Gesetz oder Propheten nicht auflösen, sondern erfüllen (Mt 5,17). In der Sicht des NT ist der Abrahamsbund, der im Sinaibund ausgestaltet wird, ein Bund der Verheißungen (Apg 7,8; Röm 9,4; Gal 3,17; Eph 2,12) auf Christus hin (Lk 1,72; Apg 3,25; Röm 11,27; 2 Kor 3,14). Nach Paulus bringen jene, die im Glauben Christus annehmen, „das Gesetz zur Geltung“ (Röm 3,31).

Nicht richtig ist also die Behauptung, daß vom AT nichts mehr in Kraft bleibt; allerdings ist zu fragen, was das Bleibende ist.

1. Im Bund mit Israel vollzieht Jahwe an diesem Volk typisch, was er mit der ganzen Menschheit und mit jedem Menschen vorhat: sie zu seinem Eigentum zu machen (vgl. Ex 19,5). Dieses Vorhaben wird in Christus verdeutlicht und verwirklicht.

So verliert das Grundgebot des AT, Jahwe als dem einzigen Gott voll anzuhangen, mit allen seinen Implikationen im NT nicht seine Geltung. Es wird vielmehr als erstes Gebot mit wörtl. Zitat aus dem AT (Dtn 6,4 f; Lev 19,18) von Jesus bekräftigt: „Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist allein Herr, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und aus deiner ganzen Seele und aus deinem ganzen Denken und aus deiner ganzen Kraft. Das zweite ist dieses: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Größer als diese ist kein anderes Gebot“ (Mk 12,29–31).

Die Liebe zu und mit Gott wird als Wesentliches der Berufung des Menschen im NT deutl. gezeigt (Mt 22,40; Röm 13,8–10; 1 Kor 13,1–3; Gal 5,14). Wenn auch die Gebote schon im AT formuliert wurden, spielt dort doch das Motiv der Furcht noch eine größere Rolle als im NT. Den Fortschritt zeigt das Pauluswort: „Ihr habt doch nicht den Geist der Knechtschaft empfangen, daß ihr euch wieder fürchten müßt, sondern ihr habt den Geist der Kindschaft empfangen, in dem wir rufen: Abba, Vater“ (Röm 8,15). Unter gewissen Vorbehalten kann man mit Augustinus sagen: „Kurz gesagt, heißt der Unterschied von Gesetz und Evangelium: Furcht und Liebe“ (Contra Adim. 17, PL 42,159).

Man würde dem AT Unrecht tun, wollte man ihm zuschreiben, daß es sich mit bloß äußerer Erfüllung der Grundforderung zufrieden gebe. Es verlangt ja schon innere Akte und Haltungen. Das NT betont die Innerlichkeit aber viel stärker: Grundlegend kommt es auf die rechte innere Einstellung an (vgl. Mt 5,21–28), die in der gnadenhaften Gottverbundenheit wurzelt („Die Liebe Gottes ist in unseren Herzen ausgegossen durch den Hl. Geist, der uns geschenkt wurde“, Röm 5,5). Nach Thomas von Aquin besteht das ntl. Gesetz grundlegend im inneren Gnadenleben (S.Th. 1,2 q.106 a.1). Wegen des größeren Nachdruckes, den das NT auf die eigentl. (innere) Sittlichkeit legt, kann Thomas sagen: „Das alte Gesetz zügelt die Hand, das neue Gesetz den Geist“ (ebd. q.91 a.5.)

Schon das AT verlangt ganzheitl. Gottverbundenheit. Um die Erkenntnis, was sie im einzelnen bedeutet, mußte Israel aber vielfach ringen, und ebenso um die Verwirklichung des Erkannten. So blieben noch manche Mängel bestehen (Jesus spricht von der „Herzenshärte“, Mk 10,5). Das NT drängt zu vollkommener Verwirklichung der Liebe (Feindesliebe Mt 5,43–48; Röm 12,17–21; Untrennbarkeit der Ehe Mk 10,2–12; evon Räte).

Das AT gebraucht mehr irdische Versprechungen und Drohungen und läßt das Jenseits erst allmähl. ins Bewußtsein des Menschen treten. Das NT geht auch hier weiter und leitet den Menschen an, sich unabhängig von irdischen Vorteilen oder Nachteilen für die bleibende Gottverbundenheit zu rüsten.

2. Die Grundforderung bedurfte schon im AT der Konkretisierung auf die gegebenen Verhältnisse hin. Diese wechselten jedoch; so konnten und mußten die konkreten Weisungen des öfteren abgeändert werden. Umso mehr machte die Wende durch Christus eine Änderung der konkreten Weisungen notwendig.

a) Da das Volk Israel das Bundesvolk Jahwes war, hatte sein Staatswesen den besonderen Charakter der Theokratie. Auch die Rechtssatzungen („praecepta iudicialia“, Thomas von Aquin, S.Th. 1,2 q.99 a.4), die wir heute in staatl. (bürgerl. und Straf-) Gesetzbüchern finden, bildeten daher einen Bestandteil des rel. Bundesgesetzes. Dieses Staatswesen hatte eine zeitl. begrenzte Aufgabe. Wenn Jesus sagt, er wolle Gesetz oder Propheten nicht auflösen, sondern erfüllen, kann das dahin verstanden werden, daß an die Stelle des atl das ntl Gottesvolk tritt, an die Stelle der vorbereitenden atl Theokratie mit ihrem Gesetz das durch Jesus vermittelte Gottesreich, das in der Kirche seinen Anfang nimmt (vgl. 2. Vat. Konz., LG 5; Thomas von Aquin, S.Th. 1,2 q.104 a.2). Jesus löst die Rechtssatzungen nicht einfach auf, sondern läßt an ihre Stelle das treten, worauf sie vorbereiteten, und erfüllt sie so.

b) Die kultischen oder rituellen Vorschriften („praecepta caeremonialia“, Thomas von Aquin, S.Th. 1,2 q.99 a.3) des AT regelten die Gottesverehrung des Bundesvolkes. Der Hebräerbrief stellt den unvollkommenen atl Opfern das vollkommene Opfer Christi gegenüber; im hl. Zelt, dem Mittelpunkt des alten Kultes, sieht er „ein Gleichnis für die gegenwärtige Zeit“ (Hebr 9,9). Der atl Kult weist also über sich hinaus auf das, worauf er vorbereiten soll (vgl. Thomas von Aquin, S.Th. 1,2 q.101 a.2). Jesus anerkennt zwar den atl Gottesdienst in Wort („Wenn du deine Gabe zum Altar bringst“, Mt 5,23 f; er verweist auf die Größe des Tempels und des Altars in der Warnung vor dem falschen Schwören, Mt 23,16–21) und Tat („Das Osterfest der Juden war nahe, und Jesus zog nach Jerusalem hinauf“, Joh 2,13; vgl. 5,1; 7,10; Mt 26,17–19), läßt aber auch erkennen, daß Sabbat-, Reinheits- und Speisevorschriften nur relative Geltung haben („Der Menschensohn ist Herr auch über den Sabbat“, Mt 12,8). Sein einziges Opfer löst eben den vorbereitenden atl Kult ab. Folgerichtig stellen die Apostel fest, daß die atl rituellen Vorschriften als solche keine Heilsbedeutung mehr haben (Apg 15,19 f.28 f; Röm 2,28; 3,1; Gal 2,3.7; 5,6), und verhalten sich dementsprechend. Das Vorbereitende wird durch Jesus nicht einfach aufgelöst, sondern in das übergeführt, worauf es vorbereitet hat.

c) Die eigentl. sittl. Vorschriften („praecepta moralia“, Thomas von Aquin, S.Th. 1,2 q.99 a.2) des AT, die unmittelbar auf die Lebensformung hinzielen (z.B. den Dekalog), will Jesus nicht auflösen, aber auch nicht in ihrer überlieferten Gestalt einfach weiterbestehen lassen, sondern ihre Verankerung im großen Gebot aufzeigen (Mt 22,40) und zur Verwirklichung ihres Liebessinnes anleiten (Mt 5,21–48) und sie so erfüllen (Mt 5,17). Gerade diese eigentl. sittl. Vorschriften sollen ja den Menschen zu seiner wesentl. Bestimmung hinführen, die Christus in aller Klarheit enthüllt.

Diese Vorschriften des AT sind auch außerhalb des Offenbarungsbereiches bekannt. Das AT mag manche Formulierungen anderswoher übernommen haben. Es handelt sich um sittl. Gesetze des Menschseins oder Forderungen des natürl. sittl. Gesetzes, die allen Menschen letztl. aus dem Grund gemeinsam sind, weil Gott ihnen allen dieselbe letzte Bestimmung zugedacht hat. Für das Volk Israel werden sie in das Bundesgesetz eingebunden und so in die Heilsführungen Gottes hineingenommen. Diese Hineinnahme wird bes. dadurch verdeutlicht, daß die sittl. Vorschriften von den Forderungen des Glaubens an den verheißenen Messias und der Hoffnung auf ihn umfangen werden. Mag sich also vom NT her ergeben, daß das gesamte atl Gesetz „nur ein Schattenbild der künftigen Güter, nicht die Gestalt der Dinge selbst enthält“ (Hebr 10,1), so kann eine genaue Untersuchung auch feststellen, daß das Kernstück der ntl Sittlichkeit schon im AT zu finden ist, wenn auch verhüllter. Augustinus sagt daher nicht nur, daß sich das AT im NT eröffnet, sondern auch, daß das NT im AT verborgen liegt (Qq. in Hept. II 73, PL 34,623). „Wie in der Gerste das Korn unter dem Stroh verborgen ist, so ist in der Hülle der Geheimnisse des Gesetzes Christus verborgen“ (Augustinus, Sermo 130,1, PL 38,725).

3. Man kann somit festhalten: Dem, der von einer unterschiedslosen Weitergeltung aller atl Vorschriften sprechen wollte, muß man sagen, daß das AT nicht solche Verpflichtungskraft hat. Das heißt jedoch nicht, daß von der atl E. alles über Bord zu werfen wäre. Im AT sind vielmehr grundlegende sittl. Forderungen enthalten, die dauernd gültig bleiben (ausdrückl. hat die Kirche die Auffassung zurückgewiesen, die zehn Gebote gingen den Christen nichts an; D 1569). Das AT hat also für den Christen zugleich weniger und mehr Bedeutung, als auf den ersten Blick scheinen mag.


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