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Mehrdeutige Rede

Karl Hörmann: LChM 1976, Sp. 1026-1029

I. Mehrdeutig nennt man eine Rede, die ihrer Beschaffenheit nach mehr als einen Sinn haben kann.

1. Der Sprecher wählt m. R. meistens zum Schutz eines Geheimnisses, das er durch die vom Frager erstrebte eindeutige Antwort preisgeben müßte; m. R. hat also den Charakter einer Auskunftverweigerung.

Von der Lüge unterscheidet sie sich dadurch, daß für diese das formale Reden wesentl. ist, d.h. solches Reden, durch das im Zuhörer der Eindruck erweckt wird, der Sprecher wolle ihm seine Überzeugung mitteilen, und bei der m.n. R. eben die Mitteilungsfunktion für den aufmerksamen Zuhörer wahrnehmbar ausgeschaltet ist. Daher bringt m.R. in den Sprecher auch nicht denselben Zwiespalt wie die Lüge. Die Worte, die er sagt, stehen zu seiner Gesinnung nicht in Widerspruch, weil er erkennbar durch sie nicht mitteilen, sondern die Auskunft verweigern will. Den Gegensatz zur m.n. R. bildet nicht wahre, sondern offene Rede, zu der man nicht immer verpflichtet ist.

2. Man darf m. R. nicht ohne guten Grund anwenden. Die Nächstenliebe und die Rücksicht auf das Gemeinwohl (Gemeinschaft) verbieten, unterschiedslos die Auskunft zu verweigern. Schon gar nicht darf man m. R. dort gebrauchen, wo der Frager ein eigentl. Recht hat, die volle Wahrheit zu erfahren. Dort aber, wo die Abwehr des Fragers berechtigt ist, weil er ein Geheimnis zu Unrecht erforschen oder die erhaltene Auskunft zum Unrecht benützen will, darf man mehrdeutig reden.

II. Mehrdeutig kann eine Rede aus verschiedenen Gründen sein.

1. Die Mehrdeutigkeit kann durch ein mehrdeutiges Wort (das gelobte Land = das gerühmte oder das versprochene Land) oder durch die mehrdeutige Verbindung von Wörtern (das Buch des Freundes = des Freundes als Verfassers oder als Eigentümers) bewirkt werden (Beispiele für Felix von Nola und Athanasius bei Paulinus von Nola; De S. Felice poëma 16 von 60–75; PL 61,478; Theodoret, Hist. Eccl. III 5; PG 82,1095).

2. Solche Mehrdeutigkeiten findet im Notfall jedoch nur ein schlagfertiger Geist, und der nicht immer. Der Durchschnittsmensch wäre hilflos, wenn er sonst keine Möglichkeiten hätte. Auch ihm steht m. R. zur Verfügung, näml. solche, die durch die Situation mehrdeutig wird. Die Situation kann erkennen lassen, daß der Sprecher nicht formal reden (seine Überzeugung mitteilen) will (Schauspieler auf der Bühne, Scherzlügner).

Eine solche Situation ist die des Angeklagten vor Gericht. Die Strafprozeßordnungen verschiedener Länder wollen ihn nicht verpflichten, gegen sich selbst auszusagen. Schon nach natürl. Grundsätzen scheint es zu hart zu sein, vom Angeklagten, der sonst nicht überführt werden kann, zu verlangen, er selbst solle gegen sich die Waffen liefern. Der Richter weiß, daß er den Angeklagten nicht zum Geständnis verpflichten darf. In dieser Situation werden dessen Antworten „Ich weiß es nicht“ und „Ich habe es nicht getan“ mehrdeutig. Neben dem vordergründigen Sinn können sie bedeuten: „Ich weiß es nicht so, daß ich es dir sagen müßte“ und „Ich habe es nicht so getan, daß ich es dir dagen müßte“, also „Ich will dir keine Auskunft geben, weil ich dazu nicht verpflichtet bin“. Sie stellen in dieser Situation nichts anderes als eine Auskunftverweigerung dar.

Eine ähnl. Situation entsteht immer dann, wenn der Frager schon durch seine Frage ein Unrecht begeht oder es mit Hilfe der erstrebten Antwort tun will. Auch ein einfacher Mensch kann erkennen, wann er zu Unrecht gefragt wird oder wann seine offene Antwort zum Unrecht benützt zu werden droht und er desh. seine Abweisung in die Form eines mehrdeutigen Nein kleiden darf.

3. Zur m.n R. können die Auskünfte mit Gebrauch des doppelten Wissens gerechnet werden. Von Personen, die ein öffentl. Amt führen oder von Berufs wegen Geheimnisse erfahren, setzt man voraus, daß sie nur über das Wissen befragt werden, das sie nicht amtl. oder berufl. unter Schweigepflicht erworben haben. Am meisten gilt dies vom Beichtvater. Solche Personen verfehlen sich nicht gegen die Wahrhaftigkeit, wenn sie zur Wahrung des Geheimnisses nur antworten, was sie nicht aus geheimen Quellen wissen. „Ich weiß es nicht“ ist bei ihnen mehrdeutig; es kann heißen: „Ich weiß es tatsächl. nicht“ oder „Ich weiß es nicht mit mitteilbarem Wissen“. Die Mehrdeutigkeit ist aus ihrem Beruf erkennbar. Der kluge Frager muß darauf gefaßt sein, daß durch solche Antwort die Auskunft über Dinge verweigert wird, die der Befragte durch Berufspflicht geheimhalten muß.

4. Mehrdeutig sind ferner gewisse gebräuchl. Redensarten, die buchstäbl. genommen einen wissenschaftl. Irrtum enthalten, aber dem äußeren Anschein entsprechen („Die Sonne geht auf“). In der Umgangssprache sind sie zulässig, weil man auf diese Art nur über den Anschein, nicht aber über das ihm Zugrundeliegende aussagen will; die Wissenschaft muß meistens nach genauerer Ausdrucksweise streben.

5. Mehrdeutige Rede R.n stellen auch gewisse Höflichkeitsformeln dar, die dem Wortlaut nach der wahren Empfindung nicht entsprechen, aber allg. als Ausdruck des Willens gewertet werden, den Mitmenschen höfl. zu behandeln. Ihre Verwendung ist erlaubt, wo und soweit sie als bloßer Ausdruck der Höflichkeit aufgefaßt werden.

6. Als m. R. kann man schließl. die Antwort nach dem entfernten Zweck des Fragers ansehen (wer entliehenes Geld schon zurückgegeben hat, sagt zur Vermeidung von Nachteilen, er habe keines geliehen, weil der Frager nur feststellen will, ob er jetzt noch Schulden hat). Solche Antwort läßt sich nur dann rechtfertigen, wenn der Frager offenkundig so sehr auf den Zweck bedacht ist, daß ihm am Wortlaut nichts liegt, oder wenn man aus dem allg. Brauch erkennen kann, daß sich die Antwort nur auf den Zweck bezieht.


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