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Räte

Karl Hörmann: LChM 1969, Sp. 1009-1012

Die ntl. Sittlichkeit erhält eine besondere Note durch die sogenannten Räte Zum Unterschied vom Gebot, das jeden, der in die betreffende Situation kommt, verpflichtet, weil es sich auf ein für die Erfüllung des Grundgebotes der Liebe notwendiges Verhalten bezieht, spricht der Rat nicht eine solche Verpflichtung aus, weil er zwar auf eine Möglichkeit, Liebe großmütig zu üben, hinweist, aber nicht bestreitet, daß daneben noch andere Möglichkeiten bestehen, wenn auch weniger großzügige. Paulus schon macht deutl., daß der Rat der Jungfräulichkeit, den er wie Christus (Mt 19,12) gibt, nicht ein verpflichtendes Gebot des Herrn ist (1 Kor 7,25). Im Anschluß daran erklärt Augustinus den Unterschied zwischen Rat und Gebot (De sancta virginitate I 15; De coniug. ad. I 15.27; PL 40,402.470).

Das NT enthält verschiedene Räte Dem reichen Jüngling, der fragt: „Meister, was muß ich Gutes tun, um ewiges Leben zu erlangen?“ antwortet der Herr: „Willst du ins Leben eingehen, so halte die Gebote.“ Als er entgegnet: „Das alles habe ich befolgt, was fehlt mir noch?“ sagt Jesus: „Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen – und du wirst einen Schatz im Himmel haben – und komm und folge mir nach“ (Mt 19,16 f.20 f). Um zur beseligenden Vollendung des Lebens in Christus gelangen zu können, muß der junge Mann also die Gebote halten; zu größerer Vollkommenheit und zum Erwerb eines kostbaren Schatzes im Himmel aber könnte ihm die freigewählte Armut dienen, die ihn in besonderer Weise zur Nachfolge Christi, des aus Liebe Armen, befähigen würde. – Die Jünger, denen Jesus die Unzulässigkeit der Ehescheidung darlegt, sagen: „Wenn die Sache des Mannes gegenüber der Frau so steht, dann ist es nicht gut, zu heiraten.“ Jesus aber macht nicht die Ehelosigkeit allen zum Gesetz, sondern erklärt: „Nicht alle fassen dieses Wort, sondern die, denen es gegeben ist. Denn es gibt Verschnittene, die vom Mutterleib an so geboren sind, und es gibt Verschnittene, die von den Menschen verschnitten wurden, und es gibt Verschnittene, die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreiches willen. Wer es fassen kann, der fasse es!“ (Mt 19,10–12). Die Ehelosigkeit wird also nicht von allen gefordert, sondern der freien Wahl anheimgestellt; sie ist dann wertvoll, wenn sie zur Ermöglichung liebender Ganzhingabe an das Himmelreich erwählt wird. Ähnlich spricht Paulus: „Was aber die Jungfrauen betrifft, so habe ich kein Gebot des Herrn, wohl aber gebe ich einen Rat als ein Mann, der durch das Erbarmen des Herrn Vertrauen verdient. Ich denke nun an folgendes: Wegen der gegenwärtigen Bedrängnis ist dieser Stand empfehlenswert, ja jeder tut gut, so zu sein“ (1 Kor 7,25 f). Wenn der Apostel als Grund für das „Gutsein“ der Jungfräulichkeit hier auch die Ungebundenheit in den eschatologischen Bedrängnissen nennt, führt er später doch das zeitlos gültige Motiv der liebenden Hingabe an den Herrn an: „Die unverheiratete Frau und die Jungfrau ist besorgt um die Sache des Herrn; sie will heilig sein an Leib und Seele“, sie soll sich für die Jungfräulichkeit in Ausrichtung auf „das unentwegte Ausharren beim Herrn“ entscheiden (1 Kor 7,34 f). – Jesus fordert wiederholt zum liebenden Dienen in Demut nach seinem Vorbild auf (Mk 9,35; 10,43–45; Lk 14,11; 18,14; Mt 23,11 f). Wer diese allg. verpflichtende Weisung durch die Entscheidung für eine frei gewählte konkrete Form des Gehorsams zu erfüllen trachtet, tut etwas, was ihm in dieser Weise nicht geboten, sondern nur als Möglichkeit eröffnet oder geraten ist. – Mit Recht werden Armut, Jungfräulichkeit und Gehorsam als evon Räte im engeren Sinn bezeichnet, entscheidet sich der Mensch in ihnen doch für ein Leben besonderer Nachfolge Christi, des in Liebe Jungfräulichen, Armen (Lk 9,58) und Gehorsamen (Phil 2,8), für ein Leben, das deutl. von der Bereitschaft für den kommenden Herrn geprägt ist (vgl. 2. Vat. Konz., Lumen gentium 46). Im Unterschied zum AT, wo durch die Räte freie Einzelleistungen empfohlen werden, z.B. Opfer und Gelübde (Lev 3; Dtn 23,22–24), zielen die evon Räte auf ständige Lebensformen besonderer Christusnachfolge hin, wie sie geschichtl. in den christl. Orden und relig. Gemeinschaften Gestalt angenommen haben (vgl. 2. Vat. Konz., Lum. gentium 31 43–47). In der Praxis der evon Räte erscheint die Heiligkeit der Kirche in eigener Weise. „Diese von vielen Christen auf Antrieb des Hl. Geistes privat oder in einer Lebensform oder einem Stand, die von der Kirche anerkannt sind, übernommene Praxis der Räte gibt in der Welt ein hervorragendes Zeugnis und Beispiel dieser Heiligkeit und muß es geben“ (2 Vat. Konz., Lumen gentium 39; vgl. 42 43–47).

Wer einen von der Offenbarung gegebenen Rat befolgt, leistet ein Werk der Übergebühr (lat. opus supererogatorium), d.h., er geht in der Ausgestaltung seines christl. Lebens einen Weg, auf den die Allgemeinheit nicht verpflichtet ist. Man kann allerdings darauf hinweisen, daß jeder verpflichtet ist, an seiner Vervollkommnung nach bestem Können zu arbeiten („Seid ihr also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“, Mt 5,48). Wenn jemand erkennt, daß die in einem Rat aufgezeigte Möglichkeit der Verwirklichung der Liebe seiner persönl. Eigenart entspricht („eines fehlt dir“, Mk 10,21), mag darin ein ihn verpflichtender Ruf Gottes liegen, durch dessen Nichtbefolgung er die ihm mögliche Vollkommenheit vernachlässigt („Willst du vollkommen sein ...“, Mt 19,20). Wenn er sich an den Rat hält, tut er damit etwas Vollkommeneres, als wenn er sich bloß mit der Erfüllung der allg. Pflichten begnügt. Paulus gibt daher der gottgeweihten Ehelosigkeit den Vorrang vor der Ehe (1 Kor 7,38.40), und das kirchl. Lehramt tut es gegenüber der Bestreitung durch die Reformatoren und andere (D 1810 3344 f [980 1972 f]). Damit ist nicht gesagt, daß für jeden einzelnen Menschen die Befolgung eines Rates das Bessere sein müßte; es kommt vielmehr darauf an, wie er in seiner Eigenart und seinem Lebensschicksal die Liebe voller verwirklichen kann. „Jeder hat seine besondere Gnadengabe von Gott, der eine so, der andere anders“ (1 Kor 7,7). Die Abschätzung dieser Möglichkeiten steht jedem selbst zu, und ein gewisser Spielraum ist ihm darin zuzugestehen; gegenüber allem Drängen anderer Menschen kann er sich auf seine Eigenzuständigkeit und seine Freiheit berufen. So erweisen sich die Räte als kennzeichnend für das neutestamentl. Gesetz, das Gesetz der Freiheit.


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