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Situation

Karl Hörmann: LChM 1976, Sp. 1444-1446

1. Als Situation wird die jeweilige konkrete Wirklichkeit bezeichnet, in der ein Mensch lebt. Daß sich diese Wirklichkeit in kleineren oder größeren Dingen ständig ändert, bedarf keines langen Beweises.

Wenn nun das, was der Mensch tun soll, von seiner jeweiligen Situation abhängt, fragt es sich, ob mit der sich ändernden Wirklichkeit auch die sittl. Normen in ständigem Fluß sind, vielleicht so weit, daß keine einzige von ihnen in allen Situationen gilt und man zu Unrecht von zeitlos gültigen sittl. Gesetzen spricht. Alle sog. sittl. Gesetze wären immer nur vorläufige Regeln, die im Bedarfsfall vor den Notwendigkeiten der Situation zurückzutreten hätten. Ausnahmslos binden würden nur die Forderungen der Situationen; gerade sie aber könnten dem Menschen nicht vorgegeben werden, sondern wären im jeweiligen Zeitpunkt vom einzelnen Gewissen aus der Situation zu finden („Situationsethik“ wird meistens so verstanden).

2. Man muß zugeben, daß die wechselnden Situationen dem Menschen wechselnde konkrete Plichten auferlegen. Jesus macht darauf aufmerksam, daß nicht ein- und dasselbe konkrete Verhalten für alle Situationen sittl. richtig ist. Der vorwurfsvollen Frage der Johannesjünger, warum seine Jünger nicht fasten, begegnet er mit den Worten: „Können die Hochzeitsgäste denn fasten, während der Bräutigam bei ihnen ist? Solange sie den Bräutigam bei sich haben, können sie nicht fasten. Es werden aber Tage kommen, da ihnen der Bräutigam genommen wird. Dann werden sie fasten an jenem Tage“ (Mk 2,19 f). Im ersten Fall sollen die Jünger nicht fasten, weil sie sich der Gegenwart des Bräutigams freuen sollen; im zweiten Fall soll die Trauer um den verlorenen Bräutigam zum Fasten führen. Zwei völlig entgegengesetzte Verhaltensweisen; und doch haben sie etwas gemeinsam: die Liebe zum Bräutigam, die sich freil. je nach der Situation verschieden betätigt.

3. Die Antwort auf die Frage, ob es allg. sittl. Gesetze gibt, die für alle Situationen gelten, hängt von der Antwort auf die Frage ab, ob der Mensch trotz allem Wechsel der Situationen in wesentl. Grundzügen derselbe bleibt. Wenn ja, dann müssen gewisse sittl. Grundregeln für den Menschen immer und überall gelten. Tatsächl. gibt es neben allen veränderl. Elementen bleibende Strukturen im menschl. Sein (vgl. Natur). Aus dem bleibenden Menschsein und aus der dauernden Berufung des Menschen zur Gotteskindschaft ergeben sich gewisse allg. sittl. Forderungen, die vom Menschen je nach den wechselnden Situationen in sehr verschiedenen konkreten Gestalten zu erfüllen sind. Die Offenbarung zeigt uns als umfassende sittl. Forderung an den zum Gotteskind berufenen Menschen, daß er zum Mitliebenden Gottes werden soll (Mt 22,37.40), eine Forderung, die im wesentl. schon in der Grundforderung der alttestamentl. Ethik erhoben wird. Je nach den Gegebenheiten der Situation hat die Liebe aber verschiedene konkrete Gestalt anzunehmen (im Speisen der Hungrigen usw., Mt 25,35 f.42 f).

Es wäre daher falsch, die konkrete Erfüllung einer sittl. Forderung, die für eine Situation richtig ist, schablonenhaft auf andere Situationen zu übertragen. „Niemand näht einen Lappen ungewalkten Tuches auf ein altes Kleid. Sonst reißt der Flicken davon ab, das neue vom alten, und der Riß wird nur noch schlimmer. Auch gießt niemand neuen Wein in alte Schläuche. Sonst wird der Wein die Schläuche zersprengen. Sondern neuen Wein (gießt man) in neue Schläuche“ (Mk 2,21 f).

Immer (semper) ist der Mensch an die (richtig formulierte) allg. Forderung und an die Bereitschaft, ihr beim Eintritt einer Situation in der dieser entsprechenden konkreten Gestalt nachzukommen, gebunden; nicht immer jedoch (sed non pro semper) verpflichtet ihn die konkrete Ausformung der allg. Forderung, sondern nur beim Eintritt der Situation,der sie entspricht (semper, sed non pro semper). Wenn jedoch ein Verhalten als dem Menschsein oder der Gotteskindschaft schlechthin widersprechend erkannt ist (z.B. die beabsichtigte Tötung eines schuldlosen Menschen), muß es vom Menschen immer unterlassen werden, wie immer die veränderl. Elemente der Situation aussehen mögen (semper, et pro semper).

4. Wie es falsch wäre, einer konkreten Lösung über die betreffende Situation hinaus allg. Gültigkeit zuzuschreiben, wäre es auch falsch, der in ihr enthaltenen allg. Forderung die Allgemeingültigkeit abzusprechen. Das kirchl. Lehramt hat sich nicht gegen eine Situationsethik gewandt, die auf die notwendige Konkretisierung der allg. sittl. Forderungen gemäß den jeweils gegebenen Situationen bedacht ist, wohl aber gegen eine Situationsethik, die die Einmaligkeit der Situation und der ihr entsprechenden Gewissenserkenntnis so sehr betont, daß sie überhaupt keine allg. verbindl. sittl. Gesetze gelten lassen will (D 3918–21; vgl. Pius XII., UG 142–165 183–196 1744–70 4313–24).


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