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Predigt von Erzbischof Kardinal Christoph Schönborn beim Requiem für Bundeskanzlerin a.D. Brigitte Bierlein
Kathpress dokumentiert den Wortlaut der Predigt von Kardinal Christoph Schönborn zum Requiem für Bundeskanzlerin a.D. Brigitte Bierlein am 14. Juni 2024 im Wiener Stephansdom:
Brigitte Bierlein ist auf den Tag genau fünf Jahre nach ihrer Angelobung durch unseren Herrn Bundespräsidenten als erste Bundeskanzlerin der Republik Österreich gestorben. Am 3. Juni. Am Tag darauf habe ich in der Feier der Heiligen Messe ihrer gedacht und für sie gebetet. Die Worte der Bibel, die an diesem. 4. Juni gelesen wurden, haben mich sofort an unsere Verstorbene denken lassen. In meiner Predigt habe ich darauf hingewiesen, dass Jesus mit seinem berühmten Wort "Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört! (Matthäus 22,21) eine weltgeschichtlich entscheidende Unterscheidung eingeführt hat, deren Tragweite ich ein wenig auszuleuchten versucht habe. Heute will ich es Brigitte Bierlein zu Ehren noch einmal versuchen.
Über Brigitte Bierlein zu sprechen heißt über Recht und Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit sprechen. Sie hat in herausragender Weise diese Worte verkörpert und vergegenwärtigt. Mich hat dabei die Verheißung aus dem zweiten Petrusbrief besonders angesprochen: "Wir erwarten gemäß der Verheißung Gottes einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt." (2 Petr 3,13) In der Welt, in der wir leben, wohnt reichlich wenig Gerechtigkeit. Himmelschreiendes Unrecht, Gewalt, Korruption, Machtmissbrauch beherrschen weitgehend die Szene des Theaters dieser Welt. Ist die Verheißung der Gerechtigkeit eine Vertröstung auf die kommende Welt? Sind die Träume von einer gerechten oder wenigstens einer etwas gerechteren Welt Illusion?
Brigitte Bierlein hat sich zwischen Kunst, der sie immer verbunden blieb, und Jus letztlich für Letzteres entschieden. Daraus wurde ein lebenslanger Einsatz für Recht und Gerechtigkeit. Ein Kampf gegen Windmühlen? Oder die Voraussetzung für ein lebbares Gemeinwesen? Der zweite Petrusbrief führt noch ein Schlüsselwort ein: "Betrachtet die Geduld unseres Herrn als eine Rettung." (2 Petr 3,15) Geduld braucht jeder, der sich für Recht und Gerechtigkeit einsetzt. Nicht erst Immanuel Kant, sondern lange vor ihm schon hat die Bibel um den "Hang zum Bösen" gewusst. Das Judentum weiß vom "jezer ha-ra", dem bösen Trieb, wie auch vom "jezer ha-tow", dem guten Trieb im Menschen. Das Christentum spricht von Erbsünde. Der Ruf nach Gerechtigkeit ist das starke Zeugnis dafür, dass in jedem Menschen der Sinn für und die Sehnsucht nach Gerechtigkeit vorhanden ist und wohl nie ganz verloren gehen kann.
Diesem Sinn für Gerechtigkeit diente Brigitte Bierlein in den verschiedenen Positionen ihrer beeindruckenden Laufbahn, als Staatsanwältin, im Verfassungsgerichtshof und schließlich im Dienst der Gesetzgebung in ihrer Regierungsverantwortung. Sie hat alle diese Tätigkeiten als Dienst verstanden. Nur so kann man dem Recht gerecht werden.
Die Worte aus dem zweiten Petrusbrief weisen aber noch auf eine entscheidende Tatsache hin: die Vorläufigkeit alles Irdischen. Der Tod erinnert uns daran, auch unsere heutige Feier in der Gegenwart der sterblichen Überreste einer großen und tapferen Frau. Vorläufig sind alle Bemühungen um Gerechtigkeit, die es nie in perfekter Form geben wird. Die Politik ist immer ein Feld des Vorläufigen. Doch ebenso alle anderen Lebensbereiche. Das Wissen um diese Vorläufigkeit alles Irdischen ist eine Voraussetzung für gegenseitigen Respekt, Toleranz und die Fähigkeit, verschiedene Sichtweisen nicht als Bedrohung, sondern als Ergänzung zu sehen.
Heute ist in gewisser Weise Österreich um den Sarg seiner ersten Bundeskanzlerin versammelt. Wäre es nicht der richtige Moment, dass wir alle von hier, von diesem Dom, der doch in gewisser Weise das Herz unseres Landes ist, mit dem festen Entschluss weggehen, die kommenden Monate bis hin zur Wahl und natürlich darüber hinaus, im Gedenken an unsere eigene Vorläufigkeit und Vergänglichkeit einander mit Respekt und Achtung begegnen, auf Hasspostings, auf Verächtlichmachung der Anderen zu verzichten, kurz: einen Pakt der Mitmenschlichkeit zu schließen. Frau Bierlein hat vorgelebt, dass klare Positionen, eine aufrechte Haltung, eine deutliche Sprache mit Wertschätzung anderer Sichtweisen vereinbar ist.
Doch nun noch ein Wort zum berühmten Satz Jesu, den ich anfangs in Erinnerung gerufen habe. Es geht um das Zahlen von Steuern. Soll man sie zahlen oder darf man es nicht? Eine Grundfrage jedes Gemeinwesens. Ohne Steuern kein Staat. Ohne Staat keine Ordnung, kein Recht, keine Justiz, keine Sicherheit. Ohne Staat herrscht Willkür, immer auf Kosten der Schwachen und der Wehrlosen. Was sagt Jesus? Sein Wort führt eine Unterscheidung ein, die, davon bin ich überzeugt, grundlegend ist für die Demokratie.
Jesu Wort ist, so sehe ich es, eine klare Absage an jede Theokratie. Der Kaiser ist nicht Gott, und der Staat hat nicht Gott zu ersetzen. Ein Gottesstaat ist mit dieser Sicht nicht vereinbar. Das Christentum hat von Jesus angefangen, Gehorsam und Respekt vor den weltlichen Autoritäten gelehrt. Man lese nach bei Paulus. Es hat immer aber auch gelehrt, dass, wie Petrus es sagt, man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen. Franz Jägerstätter und viele andere haben gezeigt, dass das Gewissen über dem Staat steht, auch wenn man dem Staat zu gehorchen hat.
Doch keine staatliche Macht kann den Anspruch absoluten Gehorsams erheben. In dieser Spannung steht die Demokratie. "Alles Recht geht vom Volk aus", heißt es in unserer Verfassung, von der unser Herr Bundespräsident in dramatischer Stunde zu Recht gesagt hat, sie sei schön. Dieser Verfassung hat Brigitte Bierlein durch Jahre gedient. Dafür gilt ihr und allen, die die Verfassung schützen, Dank und Anerkennung.
Das Wort Jesu weist aber auch auf eine andere, wesentliche Dimension der Demokratie hin, ohne die die Verfassung aus dem Ruder geraten kann. "Gebt Gott, was Gott gehört!" In profanen Worten können wir das so formulieren: "Der demokratische Rechtsstaat lebt von Voraussetzungen, die er sich nicht selber geben kann." (Böckenförde) Der Staat genügt sich nicht selber. Er bedarf des Unbedingten, das nicht demokratisch entschieden wird, sondern vorausgesetzt werden muss. Das ist grundlegend die unbedingte Würde jedes Menschen. Er muss sie nicht erst erwerben, sie ist ihm immer schon eigen. Auch der unausweichliche Tod kann diese Hürde nicht nehmen. Jenseits der Schwelle des Todes endet alle irdische Macht und ihre Zuständigkeit.
Heute vertrauen wir darauf, dass Brigitte Bierlein, die ihr Leben lang der irdischen Gerechtigkeit gedient hat, jenseits aller Schatten und Leiden des irdischen Weges, heimgelangt ist in jenen "neuen Himmel" und jene "neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt" (vgl. 2 Petr 3,13).
Danke, verehrte Brigitte Bierlein, für diesen Ihren treuen Dienst! Ruhe in Frieden!